Hermine Spies (Die Gartenlaube 1894/43)
[740] Hermine Spies. Zwei Sommer sind über das Grab von Hermine Spies hingezogen, über das Grab, das einem Schicksal von wunderbarer Glücksfülle und Schönheit jäh und erschütternd ein Ziel setzte. Ein Jahrzehnt lang hatte Hermine mit ihrer Lieder Zaubermacht die Herzen von Hunderttausenden entzückt, hatte Licht und Sonnenschein um sich verbreitet und Licht und Sonnenschein genossen – und dann, als sie in der Ehe mit dem Amtsrichter Hardtmuth in Wiesbaden die reine volle Befriedigung gefunden, als das letzte, beseligendste Glück des Weibes vor ihr aufstieg, das Mutterglück, da hat sie Abschied nehmen müssen von der Erde, die ihr so schön gewesen.
Der Ruhm einer Sängerin, wie schnell pflegt er zu verhallen! Aber Hermine Spies ist ein besseres Los zu teil geworden. Sie war eben nicht bloß eine große Sängerin, sie war auch so reich an Gaben des Geistes und Gemütes, so gewinnend in ihrem Wesen, daß sie überall, wo sie auf ihren Künstlerfahrten hinkam, nicht nur Bewunderer, sondern auch Freunde hinterließ, treu ergebene Freunde. Die hervorragendsten Geister, Kunstgenossen und Kunstliebhaber, Dichter, Gelehrte, Männer und Frauen aus allen Kreisen, zollten ihr begeisterte Huldigung, und tausendfältig ward es deutlich und im vertraulichen Gespräche bestätigt, daß neben der vollendeten Kunst ihres Gesanges es noch etwas sei, was ihr Macht gebe über die Gemüter und zu ihr hinziehe mit unwiderstehlicher Gewalt. Schon als Hermine noch ein sechzehnjähriges Mädchen war, hat das Emil Rittershaus, der sie bei einem Ausflug an den Rhein hatte singen hören – und zwar noch vor ihrer eigentlichen künstlerischen Ausbildung durch Ferd. Sieber und Julius Stockhausen – in einem schönen Widmungsgedicht ausgesprochen:
„Nicht nur der Wohllaut Deiner Kehle
War’s, der zu meinem Herzen sprach,
Es war das Feuer Deiner Seele,
Das Bahn sich hier in Tönen brach.“
Und als sie auf der Höhe ihrer Kunst stand, schrieb der „gefürchtete“ Hanslick in Wien, nachdem er sie zum erstenmal gehört: „Die künstlerische Bildung dieser Stimme ist vollkommen und ihre Beseelung durch die Mächte Geist und Gemüt macht sie unwiderstehlich.“ Und als Klaus Groth, der Dichter des „Quickborn“, sie die Rhapsodie von Brahms hatte singen hören, jene Komposition eines Textes aus Goethes „Harzreise“ mit der schönen Stelle: „Ist aus deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmbar, o, so erquicke sein Herz!“ – da verglich er sie mit jenen Engeln, die einst „in olen Tiden“ vom Himmel herabstiegen, den Menschen den Frieden zu bringen, da nannte er auch die Sängerin einen Himmelsboten:
„De hett op eren Psalter
Vör jede Ohr den Lut,
De lös’t int Hart de Thran’n,
De makt dat Elend gut.“
Wie viele wird es freuen, das Lebensbild Herminens in ausführlicher Darstellung zum dauernden Gedächtnis zu besitzen und in der Betrachtung ihrer herrlichen Künstlerlaufbahn sich die Genüsse noch einmal zu vergegenwärtigen, die sie gespendet hat! Dieser Gedanke, der so nahe liegt, hat die Schwester Herminens, ihre treue Begleiterin auf ihren Weltfahrten veranlaßt, aus eigenen Erinnerungen, aus Briefen, Tagebuchblättern etc. der Heimgegangenen ein schlichtes biographisches Denkmal aufzurichten, das jetzt unter dem Titel „Hermine Spies. Ein Gedenkbuch für ihre Freunde“, von Heinrich Bulthaupt mit warmen Worten eingeleitet, bei Göschen in Stuttgart erschienen ist. Ein Bild von Hermine ist ihm beigegeben aus derselben Zeit, aus der auch dasjenige stammt, welches die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1887 (Nr. 13) ihren Lesern mit einer kurze Würdigung dieser gottbegnadeten Künstlerin vorgelegt hat.