Im deutschen Böhmerwalde

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Autor: Karl Pröll
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Titel: Im deutschen Böhmerwalde
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aus: Die Gartenlaube, Heft 12, 30, 41, S. 206–207, 524–526, 728–730
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Im deutschen Böhmerwalde.

Reiseskizzen von Karl Pröll.
I.

Das Lied von der „verlorenen Kirche“, deren Läuten nur manchmal aus dem tiefen Walde herüberdringt, ist dem deutschen Volksgeiste abgelauscht. In die unbegrenzte Sehnsucht mischt sich geheime Anklage, daß wir achtlos vergessen oder trägherzig preisgegeben, was uns am theuersten sein sollte. Diese Anklage erhält heute nationalsittliche Bedeutung. Während wir selbstgenügsam den deutschen Staat aufbauen, geht rings umher deutsches Volksthum verloren, erliegt dem Andrange fremden Wesens, das stets feindseliger einstürmt. So geschieht es in den russischen Ostseeprovinzen, den civilisatorischen Eroberungen des deutschen Ordens und der Schwertbrüder. So in den Vorländern der alten deutschen Ostmark, in Oesterreich. Wir können diesen Rassenkampf verfolgen in den fruchtbaren Ebenen Ungarns, im Gebiete der transsylvanischen Alpen, an den Südhängen der Centralkarpathen, zwischen den Karawanken und der Adria. Aber am gewaltthätigsten erfolgt der Angriff auf unsere Nationalität in Böhmen, wo der slawische Krater, welcher nach Jahrhunderten wieder thätig geworden, den ihn einschließenden deutschen Gürtel zu durchbrechen und zu zerstören sucht. Wohin wir über die jetzigen Reichsgrenzen hinausblicken, überall dieselben traurigen Thatsachen: unsere Kulturmarken weichen zurück, Stammesgenossen gerathen in harte Nothlagen.

Der deutsche Böhmerwald ist noch keine verlorene Kirche unserer Nationalität. Aber auch von dort klingt die Nothglocke zu uns herüber. Und wie Viele wissen etwas vom Böhmerwald, kennen das tannenstolze und fichtengrüne Berg-Heim, das in seinen einsamen Hochseen und schlichten Bewohnern sich bespiegelt, mit Wildgewässern uns unverstandene Grüße zuschickt. Dieses mit seltenen Naturreizen geschmückte Waldland, dieses Waldvolk, kernig deutsch wie nur irgend ein lebensvoller Zweig unserer Nation möchte ich den Lesern der „Gartenlaube“ ein wenig schildern. Vielleicht gelingt es mir, nicht nur ein flüchtiges Interesse zu erwecken, sondern Andere anzuspornen, dorthin ihren Wanderstab zu lenken. Sie werden dann Land und Volk lieben lernen und ein Verständniß für die Leiden des letzteren, für dessen schwere Kämpfe zur Behauptung der nationalen Existenz gewinnen.

Das Böhmerwaldgebiet umfaßt den südwestlichen hohen Grenzwall Böhmens und die von ihm nach Osten und Nordosten entsendeten Zweiggebirge oder Plateaulandschaften bis zum Uebergang in die Moldau-Ebene. Die Geographen lassen den Böhmerwald in der Gegend von Eger beginnen, wo er von dem Fichtelgebirge durch einen Einschnitt getrennt wird, und im Süden an das böhmisch-österreichische Gebirge anschließen.

Landesüblich gilt die Bezeichnung „Böhmerwald“ nur für den Theil, welcher südlich von der Einkerbung bei Furth sich erstreckt, während der nördliche Abschnitt „Böhmischer Wald“ genannt wird. Vorgelagert ist dem Böhmerwald nach Westen der Bayerische Wald gleichsam ein Zwillingsgebirge, das dem ersteren an Höhe und Massenentfaltung nicht nachsteht. Der Hauptkamm des Böhmerwaldes, welcher so ziemlich die politische Grenze zwischen Bayern und Böhmen einhält, scheidet auch die Stromgebiete der Donau und Elbe. Böhmerwald und Bayerischer Wald sind noch heute ein zusammenhängender ungeheurer Forst, der durch die Menschensiedlungen nur wenig eingeengt wird. Sie bilden gleichsam einen grünen Golfstrom inmitten Europas, welcher die Temperatur- und Feuchtigkeitsverhaltnisse der anliegenden Länder wesentlich bedingt. Das Gebiet eines jeden derselben übersteigt hundert Quadratmeilen. Der Böhmerwald zählt gegen eine Viertelmillion bis in die neueste Zeit fast durchaus deutsche Bewohner. Charakter, Sitten und Gebräuche, Trachten und äußere Erscheinung der Bevölkerung gleichen im Wesentlichen jenen Ausgestaltungen der Lebensart, welche wir bei den angrenzenden Oberösterreichern und Niederbayern vorfinden. Nicht allein der deutsche Geist und die Muttersprache spotten hier der trennenden Schranken, auch die Stammeseigenthümlichkeiten und der Dialekt wiederholen sich. Nur in wirthschaftlicher und socialer Hinsicht entdeckt man bemerkenswerthe Unterschiede. Statt der wohlhabenden oberösterreichischen Bauern und der unabhängigen bayerischen Eigenbesitzer treffen wir im Böhmerwalde die Pächter und Hintersassen ausgedehnter Latifundien; denn hier ist das Reich der fideikommissarischen Herrschaft, welche am mächtigsten und weitgreifendsten in dem Majoratserbe der Fürsten von Schwarzenberg sich entfaltet hat. Der größte Theil des Grund und Bodens im südlichen Böhmerwalde gehört ausschließlich dieser vor zweihnndert Jahren aus Unterfranken gekommenen Adelsfamilie, welche heute, ihres deutschen Ursprunges vergessend, für tschechische Nationalinteressen wirkt. Die Bevölkerung fristet unter dem Drucke der Abhängigkeit ihr bescheidenes Dasein, ausgeschlossen vom großen Kulturverkehre, umlagert von den Tschechen, welche sie allmählich aussaugen wollen. Selbst die kleinen Städte und Märkte leiden unter diesem wirthschaftlichen Druck, welcher eine segensreiche Entwicklung von Handel und Industrie hemmt. Im Norden des Böhmerwaldes, im Gebiete der „kunischen Freibauern“ werden die Zustände etwas besser.

Als politische Warte des Böhmerwaldes ist die Kreisstadt Budweis zu betrachten, 120 Kilometer südlich von Prag, am Zusammenflusse der Moldau und Maltsch. Sie zählt gegen 25000 Einwohner. In Mitte des Hauptplatzes oder „Ringes“, welchen eine der Skizzen des beifolgenden Bildes darstellt, befindet sich ein großer Brunnen mit der mehr massigen, als künstlerisch durchgebildeten Figur des Simson, der ein Raubthier zwischen seinen Fäusten erdrückt. Auch die Deutschen in Budweis haben alle Ursache, sich die angestammte Kraft zu bewahren, denn bereits ist fast die Hälfte der Bevölkerung tschechisch geworden. Noch ist aber die Stadtvertretung deutsch, und die wohlhabenden und gebildeten Klassen halten fest zu ihr.

Das zwei Jahrhunderte alte Rathhaus, welches mit seinem breitspurigen Rococo eine gute Massenwirkung erzielt und durch Thürmchen, wappenartige Freskomalereien, gothische Wasserspeier eine belebte Façade erhält, wird heute von kaiserlichen Behörden eingenommen, während der Gemeinderath in dem anliegenden Gebäude tagt. Hier zeigt man den Fremden das städtische Museum, welches größtentheils aus Schenkungen von Mitbürgern hervorgegangen ist und vieles Interessante bietet, auch seine orientalischen und ostasiatischen Sammlungen jetzt mit einheimischen Erzeugnissen des Böhmerwaldes ergänzen soll. Denn Budweis ist der kommerzielle und nationale Mittelpunkt dieses Gebietes, obwohl es von den letzten Abfällen des Gebirges einige Stunden entfernt liegt und sich auf einer deutschen Sprachinsel befindet, die sich ungefähr eine Meile um die Stadt herum abgrenzt. Diese ist der Stapelplatz der Holz-Flößerei und -Schwemmerei des Böhmerwaldes. Zahlreiche Fabriken, darunter die berühmte Bleistiftfabrik von Hartmuth, einem ebenbürtigen Nebenbuhler der Nürnberger Faber, die fiskalische Tabakfabrik, die Schwarzenbergsche Zuckerfabrik, haben zur Hebung des Reichthums, aber auch zur Heranziehung slawischer Arbeiter mitgewirkt. In Folge der böhmischen Sprachenverordnung von 1880, welche verlangt, daß jeder Staatsdiener in diesem Kronlande des Tschechischen mächtig sei, werden die deutschen Beamten rasch verdrängt, und an ihre Stelle nisten sich Gegner des Deutschthums in die politischen, Verwaltungs-, Finanz u. s. w. Behörden, in die Gerichte etc. ein. Die täglich wachsende Gefahr hat schließlich die Deutschen veranlaßt, ihre zerstreuten Kräfte zu sammeln. Sie gründeten auf Anregung des verdienstvollen Publicisten Franz Höllrigl im Jahre 1884 einen Böhmerwaldbund, dessen natürlicher [207] Vorort Budweis ward. Binnen Jahresfrist hat dieser Verein zur nationalen Stärkung und wirthschaftlichen Hebung des Böhmerwaldvolkes es zu beinahe 100 Ortsgruppen (gegen 60 im gefährdeten Gebiete selbst) mit 12000 Mitgliedern gebracht.

Ein sichtbares Wahrzeichen des erwachenden deutschnationalen Bewußtseins ist das umfangreiche, geschmackvoll und zweckmäßig eingerichtete „Deutsche Vereinshaus", welches erst geschaffen wurde, nachdem die tschechischen Pioniere in demonstrativer Weise eine „Beseda", das ist eine gesellschaftliche Verbindung von propagandistischem Charakter, errichtet. Die Volks- und höheren Schulen sind bereits zur Hälfte slawisch, das bischöfliche Seminar, welches eine Diöcese von zwei Drittel deutscher Bevölkerung zu versorgen hat, zählte im letzten Semester unter etwa 100 Alumnen vier Deutsche. Und das vom Bischof Schönborn gegründete Taubstummeninstitut trägt nur eine tschechische Aufschrift, während die Straßenweiser doppelsprachig und die Schilder der größeren Firmen noch ausschließlich deutsch gehalten sind. So sieht es auf diesem Felde des Rassenkampfes aus. Auf dem Markstein des „Deutschen Vereinshauses“ stehen die mahnenden Worte:

„Durch Kampf zum Sieg – durch Finsterniß zum Licht –
Das ist des Deutschen frohe Zuversicht.“

In den neuen Stadtparkanlagen, in denen man noch Reste der alten Stadtmauer erblicken kann, begrüßen uns die wohlgelungene Kolossalbüste Kaiser Josef’s „des Einzigen“ und ein charakteristisches Standbild Lanna’s, des „selbstgemachten“ Holz-Krösus, dem seine Vaterstadt Vieles verdankt.

Neben der mächtigen, aber stillosen Stadtkathedrale erhebt sich ein hoher Glockenthurm, von dessen Brüstung man eine weite Ausschau genießt. Die ziemlich regelmäßig gebaute Stadt mit den Flußläufen der Moldau und Maltsch und ein fruchtbares Gefilde, das von bewaldeten Bergen umschlossen wird, können wir überblicken. Nach Norden lugt aus Waldesdunkel Frauenberg, das Prunkschloß der Fürsten von Schwarzenberg, hervor.

Nach Frauenberg gelangt man auf der Budweis-Pilsener Bahn oder, wenn man das Landschaftsbild genauer sich einprägen will, in etwa einundeinhalber Stunde zu Wagen. Ich sah mir zuerst das in einem Parkwalde stehende Jagdschloß Wohrad mit seinem interessanten Forste und Jagdmuseum an, in welchem namentlich die ausgestopften Thiergruppen, thatsächlich „lebende Bilder von des Wildes Treiben und Kämpfen“, interessiren. Dann ging es durch den großen, völlig tschechisirten Ort Frauenberg etwa 300 Fuß aufwärts nach dem Fürstenschlosse. Im Vorbeigehen betrachtete ich in der Kirche Hans Gasser’s „Madonna mit dem Kinde“ aus Sandstein, ein Skulpturwerk oou echtem Künstlergeist eingegeben. Das Schloß ist im sogenannten Windsor-Stile, der spätgothischen, in der Gesammtgliederung und in den Formen beweglicheren englischen Palast-Architektur erbaut, und macht in Verbindung mit den Waldkoulissen und den ziergärtnerischen Anlagen einen malerischen Eindruck. Dasselbe wurde auf dem Platze der abgetragenen alten Burgveste, die mannigfache Kampfschicksale erlebt und einmal auch im Besitze des im Dreißigjährigen Kriege genannten Generals Maradas war, von 1847–1871 errichtet von dem jetzigen Majoratsherrn und „regierenden Fürsten“ Johann Adolf, Herzog zu Krumau.

So vortheilhaft der äußere Eindruck des drei Stockwerke hohen, mit Zinnen gekrönten, von Thürmen und Erkern eingerahmten Schloßbaues ist, so überladen erscheint dessen innere Ausschmückung. Das ist ein Magazin des Reichthums, in dem die Kunst nur hier und da einen fröhlichen Schelmenstreich mit dem schwerfälligen Aufstapler und antiquarischen Dilettanten getrieben. Eine harmonische Stimmung konnte ich nur in dem großen Bibliotheksaal erlangen, während die Zimmer der verstorbenen Fürstin mir als eine durch einander gewürfelte Auslese von Luxusläden verschiedener Zeitalter erschienen. Charakteristisch für den hier herrschenden Geist ist, daß mir und meinem Freunde ein Lakai als Fuhrer beigegeben wurde, der nur tschechisch sprach oder zu verstehen vorgab. Ware mein Begleiter nicht dieses Idioms einigermaßen mächtig gewesen, so hätten wir an verschiedenen fürstlichen Familienreliquien verständnißlos vorübergehen müssen; über das Künstlerische hatte unser Cicerone nicht einmal das übliche eingelernte Urtheil. Was als ein Zufall erscheinen konnte, gewinnt im Zusammenhang, mit anderen Erscheinungen einen typischen Charakter. Auch im neuen Beamtenhaus neben dem Anstieg zum Schlosse hört man fast nur tschechische Laute. Von den mehr als 2000 Verwaltungs- und Forstbeamten, welche der Fürst für seine in Böhmen allein 33 Quadratmeilen umfassenden Besitzungen in Dienst genommen, sind bereits mehr als die Hälfte Tschechen; der deutsche Rest bequemt sich dem neuen Rasseglauben an, so gut er kann. Diese Haltung bedarf keiner weiteren Glosse. Sie allein vermochte den tschechischen Uebermuth so weit zu steigern, daß bei Enthüllung der Büste des Dichters Kollar in Weleschin unweit Krumau ein siegestrunkener Redner ausrief: „Bald muß auch die letzte Barbarenburg in Südböhmen, das ist Budweis, fallen, welche wir schon so lange belagern.“

Am frühen Morgen ging es weiter nach Krumau, das in dreiundeinhalb Stunden erreicht wurde. Dieses malerische Städtchen ist der Thorhüter des südlichen Böhmerwaldes. Die bräunliche Moldau verräth hier noch Zigeunerblut. Eingeengt zwischen den Bergen dreht sie ihren schmalen Leib in den knappsten Windungen, versucht sich in den künstlichsten Verschlingungen, bis sie endlich mit raschem Fuße aus dem Kreise entschlüpft. Als Zuschauer drängen sich die alten Häuser in dichten ungeordneten Reihen bis zum Uferrand. Vom erhöhten Balkonsitze blickt mit vornehmer Gelassenheit das mächtige Schloß herab auf das steinerne Gewühl und auf die wildrauschenden Fluthen. Die in unserm Bilde wiedergegebene Ansicht veranschaulicht den Charakter des auf einem vorgeschobenen Felsen terrassenförmig sich erhebenden Städtchens, dessen Giebel sich recken, um über die vorderen Dächer hinauszulugen, wobei nur engen Berggassen Raum bleibt. Die gothische Kirche im Vordergrunde ist das Heiligthum der Erzdechanei Sankt Veit, in deren Wohnräumen der Prälat von Krumau residirt. Die Thürme des Gotteshauses sind verzopft, desto mehr erfreut das innere durch reiche und stilvolle Ausgestaltung, Netz- und Sterngewölbe, sowie schönes Stab- und Maßwerk und ein feingearbeitetes Sakramentshäuschen. Im Hintergrund erhebt sich auf steiler Höhe das Schloß Krumau, welches die Witikonen im 11. Jahrhundert gegründet, die Rosenberg bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts besessen und die Eggenberg im 18. Jahrhundert an die Schwarzenberg vererbt haben, die den Titel „Herzöge von Krumau“ übernahmen. Bei Beginn des Dreißigjährigen Krieges sammelte von da aus der Spanier Caratti die kaiserlichen Truppen zur Bezwingung der aufgestandenen Böhmen. Kurz vorher soll ein natürlicher Sohn des sterndeutenden Kaisers Rudolf II., Don Julius d’Austria, hier in schwerer Gefangenschaft dem Zorne seines Vaters geopfert worden sein.

Obwohl die weitausgedehnte, fünf Hofräume umschließende Gruppe von Gebäuden, welche das Schloß bilden, verschiedenen Zeitaltern entstammt und verschiedene Bauformen zeigt, verleiht ihr die historische Stimmung, deren das prunkende Frauenberg völlig entbehrt, doch ein einheitliches Gepräge. In stolzer Majestät steht der romanische Schloßthurm da mit seinen starken Mauern und seiner lauschigen oberen Säulengalerie, welche eine entzückende Rundsicht gewährt. Aber noch malerischer erscheinen die Marstallbrücke, welche die durch eine tiefe Schlucht getrennten alten und neuen Schloßtheile verbindet, und die über derselben sich dreimal wiederholenden gedeckten Verbindungsgänge. Wenn der Mondschein sie umfließt, kann man glauben, es schimmerten die Saiten einer Riesenharfe herüber, welche zwischen Felsen ausgespannt sind, und deren Resonanzboden der dunkle Hang des rückwärts aufdämmernden Planskerwaldes bildet. Dieser mächtige Querriegel des Böhmerwaldes bietet im fast 1100 Meter hohen Schöninger eine Hochwarte, wo man von dem Josefsthurm aus ein großartiges Panorama überschaut und bei klarem Wetter Fernblicke bis zu den Eishäuptern der Alpen hat.

Wie in Budweis, so suchen auch hier die Tschechen sich einzurichten. Sie beriefen tschechische Turner oder Sokolisten im August v. J. zu einer Demonstration nach Krumau, welche aber am ruhigen Sinn der Bevölkerung scheiterte. Der erhoffte Konflikt trat nicht ein, und während deutsche Turner zwei Wochen später in Königinhof beschimpft und mit einem Steinhagel überschüttet wurden, fanden die Sokolisten hier nur die Häuser verschlossen und die Straßen leer.

Der Bergbau, welcher vor 900 Jahren Krumau den Ursprung gegeben, ist wegen mangelnder Ergiebigkeit schon lange eingestellt. Aber das Gold deutscher Treue bergen noch die Herzen der standhaften Männer, welche nicht lassen wollen von germanischer Art. Sie leisten den Eindringlingen zähen Widerstand, bewehrt mit den Waffen des Gesetzes und gestärkt durch ihre Einmüthigkeit. Harret aus und ihr werdet siegreich aus dem Kampfe hervorgehen!


[524]
II.[1]

Stifter-Denkmal am Plöckensteinsee.

Von Krumau ging meine Fahrt moldauaufwärts nach Hohenfurt. Ich sollte jetzt das grüne Waldhügelgeländ besuchen und den böhmischen Urwald schauen.

Eine halbe Stunde oberhalb Hohenfurt liegt die Teufelsmauer, bei welcher die Moldau sich durch vorgelagerte Felsen in schäumenden Fällen Bahn bricht. Zahllose Granitblöcke sind an den Schluchtwänden auf- und nebeneinander gelagert, über die sich dann düsterer Nadelwald emporschwingt. Diese wilde Naturromantik wird zu unserem Erstaunen einen Kilometer weiter aufwärts durch ein Bild abgelöst, das an amerikanischen Unternehmungsgeist gemahnt. In der Steinwüstenei sind Hunderte von Arbeitern ameisenartig thätig, um Raum für die großartigen Anlagen einer Cellulose-Fabrik zu schaffen, die das starke Gefälle des Flusses ausnützen soll. Kurz vor Feierabend hört man den Knall des in Bohrlöchern hinterlegten Dynamits, und große Felsentrümmer stürzen hernieder. In wenigen Monaten war ein guter Theil des Bodens geebnet, die Arbeitshäuser und Fabrikräume fertiggestellt worden, und nun kamen die weiteren Umgestaltungen und Einrichtungen, der Durchstich des Turbinen-Kanals u. dergl. Mit großer Umsicht leitete dieses Werk ein Mann, welcher seinen deutschen Ursprung abgeschworen und nun als eifriger Parteigänger der Slawen auch eine tschechische Arbeiterbevölkerung in dieser Gegend ansiedeln wollte.

In später Nacht langten mein Fahrtgenosse und ich in Friedberg an und verließen am frühen Morgen den hübschen Marktflecken, um den Weg nach dem Sankt Thoma-Gebirge zu nehmen.

In einer Stunde erreichten wir die Hochebene, etwa 1000 Meter über dem Meere, wo sich ein armseliger Flecken, ein Schwarzenberg’sches Jagdschloß im Schweizervillenstil, eine Wallfahrtskirche und die Reste der Ruine Wittinghausen befinden, einer Stammburg der Witikone oder Rosenberg, auf welche Adalbert Stifter eine seiner reizendsten Erzählungen gedichtet hat. In dem noch erhaltenen Thurm sind die Treppen gangbar gemacht, und die oben sich bietende Fernschau wird als die schönste im ganzen Böhmerwalde bezeichnet. Allein trotzdem die Sonne heiß herniederglühte, der mich auf dieser Reise äffende Höhenrauch wollte auch nach zehn Uhr nicht weichen, und ich sah nur Theile des Grenzkammes, des Salnauer Gebirgs, den Schreiner und Kubani, sowie die dazwischen liegenden Thäler – immerhin noch ein herrlicher Anblick. Wir beschlossen weiter zu gehen, nachdem wir noch mit einem höheren Schwarzenberg’schen Beamten Rücksprache gepflogen. Dieser war sehr freundlich. Aber als er das Gespräch auf politische Dinge lenkte, sahen wir, daß einer der heftigsten politischen Parteigänger des Fürsten sich uns gegenüber befand, welcher die Treue im Dienstverhältnisse selbst bis zur Verleugnung der inneren Ueberzeugung getrieben wissen wollte.

Unser Weg führte über Stögenwald und Glöckelberg, wo wir den Schwarzenbergischen Schwemmkanal kreuzten, zum Plöckensteiner See. „Auf diesem Anger, an diesem Wasser ist der Herzschlag des Waldes.“ So liest man auf dem vor acht Jahren errichteten Granitobelisken von zehnfacher Manneshöhe, welcher am Hange der Plöckenstein-Seewand sich erhebt, rings von aufwärts strebenden Tannen und Fichten eingefaßt. Dieses einfache, aber durch seine landschaftliche Umgebung großartige Denkmal Adalbert Stifter’s stimmt so recht zum Geiste des Dichters der „Studien“, „Bunten Steine“, des „Nachsommers“. Hier verspürt man den Herzschlag des Hochwaldes und blickt von der Felswarte hinaus in die meilenweite Waldfluth, welche bald hoch aufschlägt, bald in Thäler sich hinabsenkt bis zum Andreasberger und Salnauer Gebirge am Horizontrande. Es ist ein wintergrünes Land, welches jetzt in den Strahlen der glühenden Augustsonne seinen stillen Sommerschlaf hält. Nur ein ferner Axtschlag im Holz dringt schwächer als das Hämmern des Spechtes zu uns herüber. Aber Frost und Stürme werden wieder hereinbrechen, und dann muß, in die Nebelkappe gehüllt, der herbe Nadelwald den Kampf aufnehmen gegen feindliche Mächte, um seinen grünen Kranz zu behaupten.

Auf der anderen Seite des Obelisken sind die Worte Stifter’s zu lesen: „Lieg’ in hohes Gras gestreckt, schaue sehnend nach der Felswand.“ Das paßt nicht zu der Stelle, wo man nach dem ermüdenden Aufstieg sich nur auf Felsenplatten lagern oder auf einen Baumstumpf hinsetzen kann. Da müßte man im gewundenen Moldauthale oder bei Hirschbergen am Seebach ausruhen, wo es Wiesengelände und Grasmulden giebt. Nun, über solche Kleinigkeiten setzen sich Denkmalgründer und wohlwollende Denkmalbetrachter hinweg. Den Hauptreiz der Gegend aber haben wir bei unseren kritischen Bemerkungen vergessen. Es ist jenes dunkle Wellenauge, welches vom Fuße der Klippenwand heraufblickt nach Wolken und Sternen mit endloser, ungestillter Sehnsucht: der Plöckensteiner See. Und als durchsichtiger Schleier breitet sich die Einsamkeit über ihn.

Dieser Hochsee liegt mehr als 1150 Meter über der Meeresfläche und wird von dem Plöckenstein und dem benachbarten Dreisesselberg nur noch um 200 Meter überragt. Er hat eine Fläche von etwa 13 Hektaren und ist rings von Wald und Fels umgeben. Wie alle Böhmerwaldseen besitzt er eine braundunkle Farbe, welche nur durch einzelne Lichtstreifen erhellt wird. So gewinnt er seinen düster sinnenden, träumerischen Ausdruck. Stifter hat diese Scenerie auch zum Schauplatz seiner Dichtungen gemacht. Schade nur, daß er selbst diesem Zauber des Stillsinnens und Betrachtens unterlag, daß er sich nicht wie eine Lerche mit schmetternden Jubeltönen erheben und das in patriarchalischen Zuständen eingesargte Bergvolk zum Selbstgefühl und zu jenem Befreiungsdrang erwecken konnte, der alte Ueberlieferungen und Formen sprengt.

Den gewundenen und steilen Weg, der uns zum Stifter-Denkmal auf vorspringender Granitklippe hinaufgeführt, ging es nun lustig hinunter. Wieder zum Ufer des Sees gelangt, warfen wir demselben den Scheideblick zu. Der Abend begann allmählich heranzudämmern, kein Sonnenstrahl streifte mehr die Wasser. Die Krummföhren hockten auf Steinblöcken wie Gnomen, die nach der Arbeit in des Berges Tiefen ein Ruhestündchen halten und sich alte Geschichten vom Hofe ihres Königs und Anekdoten über menschliche Thorheiten erzählen. Ein wurzelloser Baum war durch abwärts gesenkte Zweige in den steinigen Seegrund verankert und streckte kahle Aeste bewegungslos nach oben – das stille, inbrünstige Gebet eines Unglücklichen. Hoch in den [525] Lüften jagte ein Falke oder Geier. Mit beschleunigtem Schritt verfolgten wir den grün überschatteten Steig zur Rosenauer Kapelle. Die nächste Lichtung zeigte ein Bild der Zerstörung. Die untergehende Sonne beschien ein Schlachtfeld der Naturgewalten. Hunderte von Stämmen lagen zu Boden geworfen, zum großen Theile schon entrindet. So sieht ein gesprengtes Karré aus, das durch feindliche Schwadronen niedergestreckt worden. Es war ein „Windbruch“, die unverwischbare Spur, daß im Mai sich hier der Frühlingssturm ausgetobt. Den Todtengräberdienst besorgen jetzt die Borkenkäfer. Unweit der Rosenauer Kapelle nahm uns ein entgegengeschickter Wagen in Empfang und führte uns durch das im Mondlicht erglänzende Seebachthal und die Moldau-Mulde nach Ober-Plan, dem Geburtsort Stifter’s.

Am nächsten Morgen sahen wir uns das Häuschen an, in dem Stifter das Licht der Welt erblickte und das seine Mitbürger mit einer Gedenktafel versehen haben. Der noch lebende ältere Bruder des Dichters wies uns verschiedene Reliquien desselben, Briefe, Familienbilder u. s. w. vor und belebte die Erinnerung an dessen Leben und Wirken.

Auf dem Gipfel des Dreisesselberges.

Nun galt es, die Besteigung des etwa 1400 Meter hohen Dreisesselberges nachzuholen. Der höchste Punkt desselben liegt schon in Bayern. Unser Bild zeigt die ungeheuren Granitblöcke, welche die Spitze bekrönen und die eine lebhafte Einbildungskraft wohl für Riesen halten könnte, die vor ihr Fehmgericht Wolken und Stürme forderten. Für den Touristen sind Treppen zur Besteigung der natürlichen Plattform, Bänke, Tische und ein Schutzdach hergerichtet. Nur ein wirkliches Unterkunftshaus mit Restauration wird schmerzlich vermißt, und die darauf abzielenden Wünsche harren noch ihrer Erfüllung. Eine Quelle sprudelt in der Nähe; den Mundvorrath aber muß man sich mitbringen. Trotz dieser Unbequemlichkeiten hatte an dem schönen Augusttage sich hier ein Dutzend Menschen eingefunden; die meisten waren Bayern, welche von ihrer Seite bequemeren Aufstieg nehmen können und namentlich keine Sumpfstellen zu überschreiten brauchen. Luft und Licht waren herrlich, aber auch hier schob sich der Schleier der Maja, welcher diese Erscheinungswelt umhüllt, als dünner, glanzzitternder Fernnebel dazwischen und ließ uns nicht die dahinter gelagerten Alpen erspähen. Alles weist darauf hin, daß man Bergbesteigungen im Böhmerwalde auf den Herbst, oder noch besser auf den Winter verschieben soll, wo die größere Mühe auch mit jener ungetrübten Ausschau gelohnt wird, welche eine dunstfreie Atmosphäre gewährt.

Lucken-Urwald bei Schattawa.

Wir kehrten nach Neuthal zurück und gingen von da ab nach dem schöngelegenen Böhmisch-Röhren, wo uns der Mond und der dunkle Tussetwald in das Schlafzimmer hineinschauten. Am nächsten Tag besuchten wir den Markt Kuschwarda und fuhren dann längs der „grasigen Moldau“ nach Elenorenhain, der berühmtesten Glashütte im Böhmerwalde. – Von hier aus machte ich mit dem Buchhalter der Fabrik, einem Deutschen aus Nordböhmen, und mit einem Forstadjunkten, welcher in freundlicher Weise unsere Führung übernahm, den Ausflug zum Lucken-Urwald bei Schattawa am Fuße des 1350 Meter hohen Kubani. Dieser Besuch der Urwaldsmajestät gehört zu den stimmungsvollsten Erlebnissen meiner Wanderschaft. Die Skizze, welche eine Partie der großartigen Baumwildniß darstellt, kann nur schwach den Eindruck wiedergeben, welchen diese fessellose Natur hervorruft, die hier eine gewaltige Orgie von sprossendem Lebensdrang und erbarmungsloser Zerstörung feiert. Von der Bergstraße blickt man in dieses Chaos von Hochtannen und bärtigen Fichten hinein, zu deren Füßen die gefallenen Brüder wirr durch einander liegen und sich der junge Nachwuchs im Verein mit üppigem Gesträuche drängt. Etwa sechzig Hektaren sind für „ewig“ von der strengen Zucht der Axt befreit, welche Wachsthum und Vergehen regelt. Wir stiegen hinab zu dem Kampfplatz.

Es war eine der schwierigsten und mühseligsten Arten des Anschauungs-Unterrichtes. Die fast vergessenen Turn- und Kletterkünste jüngerer Jahre mußten hervorgeholt werden, damit wir weiter kommen konnten. Da galt es, vorsichtig auf einem quer über andere Baumleichen hingestreckten mächtigen Stamme sich zu bewegen, die dürren, oft in der Hand zerbrechenden Aeste zur Seite zu beugen, von dem schlüpfrigen Moos, welches als grünliches Sterbelaken den Todten bekleidete, nicht abzugleiten. Denn ringsumher hielten andere Bäume ihre spitzen Aeste vor, um den Fallenden aufzuspießen. Aus den morschen Fallstämmen, die man „Ronnen“ oder „Raanen“ nennt, und aus den stehengebliebenen Wurzelstöcken derselben sprießen junge Fichten und Tannen hervor, während unter ihnen Farren und Kräuter sich ungehemmt entwickeln. Aber auch manche schon vollständig ihrer Rinde entblößte Stämme stehen noch aufrecht da und strecken ihre verdorrten Wipfel in die Lüfte – [526] unheimliche Spukgestalten. Um hier vorwärts zu kommen, mußte man manchmal glatt auf dem Bauche uuter einem Riesenstamme durchkriechen und sich durchwinden und dabei Acht geben, daß man nicht plötzlich in ein von Himbeersträuchern verdecktes Sumpfloch gerathe. Der geübte und mit dem Terrain vertraute Forstmann, welcher eine der ungangbarsten Stellen gewählt hatte, um uns ein gründliches Studium des Urwaldes möglich zu machen, sah mit leisem Schmunzeln den verzweifelten Anstrengungen der Schreibtischmenschen zu. Nach einer starken Stunde des tollsten Herumkletterns, wobei wir uns oft hin und her winden und ducken mußten, hatten wir die Sache satt und begehrten nach kultivirtem Wald. Der Adjunkt brachte uns auch wieder auf die Straße. Zum Durchschreiten des Urwalds in beliebiger Richtung hätten wir mindestens zwei Stunden gebraucht. Ich war aber in der einen schon müder geworden, als bei all’ meinen Aufstiegen im Böhmerwalde und bei zwölfstüudigem Tagemarsche.

[728]
III.

Die Stadt Prachatitz, am Fuße des 1100 Meter hohen, schönbewaldeten Libin gelegen, ist das mittelalterliche Schatzkästlein des Böhmerwaldes. In den erhaltenen Baudenkmälern und dem malerischen Schmucke vieler Häuser zeigt sich der Abglanz früherer Tage des Reichthums und der Fülle, welche längst dahin geschwunden. Einst war Prachatitz die Hauptstadt des Handels im südwestlichen Böhmen, und auf dem „güldnen Steige“, dem berühmten Handelsweg nach Passau, flossen ihm Macht und Ansehen zu. Heute suchen die Tschechen die Stadt zu erobern. Die Beseda, die tschechische Privatschule ist bereits vorhanden, und etwa ein Viertel der 4000 Bewohner giebt die letzte Volkszählung als Tschechen an. Denselben Erscheinungen begegnet man in den anderen Städten an der seit hundert Jahren ohnedies stark zurückgeschobenen Sprachgrenze, in Winterberg, Bergreichenstein. Der „deutsche Böhmerwaldbund“ hat seine Bestrebungen am besten gekennzeichnet, als er die erste Generalversammlung im September v. J. in dem schwer bedrohten Prachatitz abhielt.

Unsere Illustrationen (S. 729) veranschaulichen: eine Partie des alten Stadtwalles und die denselben flankirenden Thürme; das zinnengekrönte, kastellartige, große Stadt- oder Piseker-Thor, auf dessen Außenfront das vor wenigen Jahren restaurirte riesige Reiterwappen der Rosenberg, der früheren Schutzherren der Stadt, in lebhaften Farben prangt; endlich das aus dem 16. Jahrhundert stammende alte Gemeindebrauhaus mit vorspringenden Arkaden und Sgraffito-Malereien, welche an der Breitseite eine kühn komponirte figurenreiche Römerschlacht, an der Eckseite ein mittelalterliches Zeltlager, zwischen den Fenstern Landsknechtsfiguren in derbem Holzschnittstile darstellen. Im Hintergrunde der zwei letzten Ansichten erblickt man den pavillonartigen Aufsatz, womit man einen der Thürme verunziert hat, welche zu der schönen spätgothischen Stadtkirche Sankt Jakob gehören. In der alten Sakristei sind die eisernen Fenstergitter verbogen. Hier ließ Ziska nach Erstürmung der Stadt am 12. November 1420 neunzig gefangene deutsche Bürger durch Pechkränze verbrennen. Zweihundert Jahre später (28. September 1620) richtete der Sieger vom „Weißen Berge“, Graf Buquoy, ein Blutbad unter den Anhängern Friedrich’s von der Pfalz an, dem 1800 Menschen zum Opfer fielen. Noch von verschiedenen anderen Gräueln, welche finsterem Religionshasse entsprangen, erzählt die Chronik der ihrer einstigen Herrlichkeit beraubten Stadt, die uns als ein verfallenes Klein-Nürnberg erschien.

Auf der Fahrt von Prachatitz nach Winterberg kommt man in einschneidendes tschechisches Sprachgebiet und sieht im Markte Hussinetz das Geburtshaus des bitter gerächten Reformators Johannes Huß, der neben dem reinen Glauben leider auch den, Deutschenhaß predigte. Winterberg ist ein schöngelegenes Bergstädtchen mit einem Schlosse der Schwarzenberg, in deren ungeheuren Besitzungen ich mich seit Krumau fast immer befand. Die nationalen Verhältnisse sind hier denjenigen in Prachatitz gleich; die slawische Propaganda sucht sich auch dieses Sitzes der

[729]

Ansichten von Prachatitz.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[730] Deutschen zu bemächtigen. Zu den Merkwürdigkeiten Winterbergs gehört die Steinbrecher’sche Gebetbücherdruckerei, welche gleich jener in dem schweizerischen Einsiedeln ganze Legionen von katholischen Erbauungsschriften der verschiedensten Zungen in alle Welt sendet, und die große Glasfabrik „Adolfshütte“. Das eintretende schlechte Wetter veranlaßte mich, den Besuch von Außergefild und des Moldau-Ursprunges aufzugeben. Bei Sussen sah ich am 19. August v. J. frischgefallenen Schnee in Dachrinnen und auf Waldblößen, welcher mir die rauhe, stiefmütterliche Natur dieses Landstriches verkündete. Als der Himmel sich etwas aufklärte, sah durch zerrissenes Gewölk die großartige Ruine Karlsberg, welche an den Gründer der Prager Universität Karl IV. mahnt, auf die „königliche freie Bergstadt“ Bergreichenstein herab, deren Goldstollen, Goldmühlen und Goldwäschen zu einer goldnen Sage der Vergangenheit geworden.

Die tiefe Thalschlucht, in welche sich die Wotawa einschneidet, durchkreuzend, schritt ich nach Hartmanitz, von welchem Städtchen man zu dem Plateau der „künischen Freibauern“ aufsteigt. Hinter Gutwasser und der Kapelle des heiligen Günthers oder Gunderi – eines thüringischen Grafen und frommen Einsiedlers, der Kaiser Heinrich’s III. Scharen durch die Urwälder zum Siege über die Tschechen geführt – beginnt das Gebiet dieser Freibauern. Dasselbe erstreckt sich im Süden bis Innergefild, im Norden bis Neuern. Diese kernigen Landleute stammen von deutschen Kolonisten, welche zum Schutze der Grenze angesiedelt und mit mannigfachen Rechten ausgestattet wurden. Von ältester Zeit bis 1848 hatten sie ihre acht Freigerichte mit selbstgewählten Beisitzern und einen das gesammte Rechts-, Steuer- und Konskriptionswesen leitenden Oberrichter. Sie kannten nicht Robot noch sonstige Beschränkungen in ihrem Eigenthume. So erwuchs ein stolzes Geschlecht von Königsbauern, das durch sein Standesbewußtsein, durch seine treue Art und durch hartnäckiges Festhalten am Hergebrachten an die Westfalen erinnert. Auch die Anlage ihrer isolirten Bauernhöfe, deren Herrenhaus mit einem Glockenthürmchen versehen ist, zeugt von Selbständigkeit und Wohlhabenheit. Die Inwohner der verschiedenen Gerichtsbezirke unterscheiden sich noch heute durch andersfarbige Bänder an den runden Filzhüten. Der Boden ist hier fruchtbar, aber der Waldreichthum wird von den zahlreichen Glasbläsereien und Schleifereien fortwährend vermindert.

Das Thal des Regenbaches, eines frisch dahin sprudelnden Forellenwassers, erreicht man in Eisenstein, dem Mittelpunkt eines herrlichen Bergpanoramas, das uns durch den Wechsel von Wald und grünen Matten erfreut, von welch letzteren die Glocken der weidenden Rinder herüberklingen. Man sieht hier die Doppelgipfel des schon zum Bayerischen Wald gehörigen, 1350 Meter hohen Arber und des 1300 Meter hohen Osser, den 1350 Meter hohen Spizberg, den 1100 Meter hohen Fallbaum, den 1300 Meter hohen Falkenstein – eine hochansehnliche Gesellschaft. Im Walde bei Deffernik steht die „große Tanne“, ein Baumriese von 50 Meter Höhe und 7 Meter Umfang. Der malerische Eindruck des Ortes Eisenstein, der eine beliebte Sommerfrische für bayerische und böhmische Gäste geworden, wird durch die steinbeschwerten Dächer und luftigen Holzbalkone der Häuser noch erhöht. Originell, einem ungeheuren Rettig ähnlich ist die Kuppelüberdachung der Pfarrkirche, welche ein angeblich von Lukas Kranach herrührendes Madonnabild besitzt.

In Eisenstein stößt man bereits auf die im ganzen Bayerischen Wald heimische Sitte der „Leichenbretter“, auf welche der Todte gelegt wird und die dann, bunt bemalt, mit kurzem Nachruf und frommen Sprüchen versehen, vor den Häusern, bei Wegkreuzungen oder Krucifixen senkrecht eingepfählt werden.

Von Eisenstein aus unternahm ich die Besteigung des Arber, der schon auf bayerischem Gebiet liegt. Der Waldbund hat für einen prächtigen Aufstieg und gute Wegweiser gesorgt. Mitten im Walde liegt über 900 Meter hoch der von Schilf und Seelilien umkränzte große Arbersee (vergl. Illustration S. 725), von wo aus man den Gipfel in dreiviertel Stunde erreicht. Eine kleine Kapelle steht hier oben neben einem durch ein eisernes Kreuz gekennzeichneten Felsen, und ein für Touristen sehr praktisches Unterkunftshaus ist vor Kurzem eröffnet worden. Aber dichter Nebel, der sich während des Aufklimmens zusammengeballt, verhüllte mir die so verlockend gepriesene Aussicht. Ich hatte zweifellos kein Bergfexen-Glück im Böhmerwalde.

Einen weiteren Ausflug unternahm ich nach dem 1000 Meter hohen, malerischen Teufelssee und dem fast 1200 Meter hohen Schwarzensee (vergl. Illustration S. 732), welcher die größte Tiefe unter allen Böhmerwaldseen – 90 Meter – aufweist und zugleich der größte von allen ist. Die dunkle Färbung, welche alle diese Hochseen besitzen, wird hier noch durch die düsteren Schatten der steilen Felsen und des finsteren Nadelwaldes gesteigert, weßhalb wohl der Name gewählt worden. Das Ufer ist mit mächtigen Steinblöcken eingefaßt, ein gefälliger Pavillon ladet zur Rast ein. Auf dem Hinweg am Fuße der Seewand sowie auf dem Rückweg über den Spitzbergrand glaubte ich durch einen Park zu wandeln, so wohlgepflegt sind die heimlichen Waldespfade, die im Bereiche des ausgedehnten Besitzes der süddeutschen Hohenzollern dies- und jenseit der Grenze liegen.

Von Eisenstein fuhr ich auf der Eisenbahn, welche hinsichtlich der Kühnheit des Baues und Großartigkeit der eröffneten Berglandschaft den Vergleich mit berühmteren Gebirgsbahnen nicht zu scheuen braucht, nach Neuern. Man passirt gleich zu Anfang der Fahrt den 1800 Meter langen, 800 Meter über dem Meer befindlichen Tunnel unter dem Spitzberge und gelangt in das Thal der Angel. Die Hohenzollern erwarben hier Schloß und Herrschaft Bistritz, und auf einem Vorsprunge erblickt man die Trümmer von Baiereck, welche Burg einst als Grenzveste gegen die Tschechen errichtet wurde. Die Sage weiß hier von verzauberten, durch höllische Geister behüteten Schätzen zu erzählen. Möge eine künftige Legende nicht in ihrer Bildersprache an den versunkenen Schatz des deutschen Volkes im Böhmerwalde nachkommende Geschlechter gemahnen, ihnen einschärfen, wie leichtherzig ihre Väter diesen uralten Nationalbesitz preisgegeben haben!

Denn wir sind hier am nördlichen Ende des eigentlichen Böhmerwaldgebietes. Unweit von Neuern ist das idyllische Dörfchen Friedrichsthal, wo der „Auerbach des Böhmerwaldes“, Josef Rank, geboren wurde. Mitte Juli v. J. feierten Heimatsgenossen des greisen Dichters in erhebender Weise sein siebzigjähriges Wiegenfest und schmückten sein Vaterhaus mit einer Gedenktafel. Der Verfasser der Geschichten „Aus dem Böhmerwalde“, des „Dorfbrutus“ und des „Seelenverkäufers“ schloß seine Dankrede mit den Worten: „Wir sind beisammen in deutscher Liebe für das Vaterland, in der zuversichtlichen Hoffnung auf bessere Tage unseres Landes und Volksthums!“ O, daß diese Hoffnung nie getäuscht werde durch Diejenigen, welche schwer bedrängten Stammesbrüdern warme Sympathien schuldig sind!



  1. Vergl. S. 206 der „Gartenlaube“ dieses Jahrgangs.