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Land und Leute/Nr. 50. Spielzeug aus der Höhe

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Textdaten
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Autor: Heinrich Noë
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Titel: Spielzeug aus der Höhe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 440–443, 444, 445
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Reisebericht aus der Artikelserie Land und Leute, Nr. 50
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Land und Leute.

Nr. 50.0 Spielzeug aus der Höhe.
Bilder aus dem Grödener Thale von Heinrich Noë.

Alles Körperliche hat sein Wiederspiel im Geistigen. Auf dieser Wahrnehmung, zu der auch ohne den Fittig mächtiger Einbildungskraft vorgedrungen wird, beruhen Lehrmeinungen, deren Propheten es ihrer Zeit ein Kleines däuchte, mit ihrer Hülfe Gott, die Welt, sich selbst und Alles zu erklären. Auch auf die Natur und das Menschenleben in dem „köstlich frischen“ Grödener Thale, in welches wir unsere Leser heute führen, darf dieser Satz angewandt werden.

Von unseren Gelehrten wissen wir, daß einst über Thälern der Alpen, auf deren Gründen jetzt der feurigste Wein heranreift, viele tausend Fuß dick und tief die Rinde graublauen Gletschereises lagerte. Die Pflanzen und die Thiere, welche damals am Rande des Eises in den Thälern lebten, haben sich, als andere Lüfte über diese ihre Welt hereinbrachen, auf die winterlichen Höhen zurückgezogen. Menschen und ihre Rede sind aus der Tiefe vertrieben und in rauhe Hochthäler gedrängt worden.

Als die Römer in das Alpengebirge Rhätiens[1] gelangten, unterwarfen sie dessen Insassen und zwangen ihnen ihre Sprache auf. Wo irgend ein Stamm der Barbaren sich mit dem Volke Latiums vereinigte, entstand alsbald durch diese Mengung eine jener Sprachen, die wir heutzutage nach ihrem durchschlagenden Hauptinhalt romanische nennen. Deren giebt es aber nicht fünf oder sechs, wie man uns in den Schulen gelehrt, sondern mehr als hundert; denn allenthalben wurde das Latein in anderer Gestalt, in verschiedenartiger Abänderung und in mancherlei Anpassung der bisherigen Muttersprache eingemengt.

Zu einer solchen romanischen Sprache bequemten sich denn auch die Bergvölker zwischen den Quellen des Inn und Rhein und den Ufern der Etsch und Piave. Ein romanisch redendes Volk wohnte im früheren Mittelalter vom Gonlasee bis in’s baierische Gebirge hinein und von Graubünden bis zu den Dolomiten von Ampezzo. In diese zusammenhängende Reihe wurden aber bald germanische Keile eingetrieben. Baiern, Alemannen und Trümmer anderer deutscher Stämme drangen in die besten der Thäler. Die „Romanen“ unterwarfen sich, nahmen die Sprache der Eindringlinge an oder verschwanden. So sind im grünen Inn- und Eisakthal nur an Namen von Gehöften, Waldstücken und Fluren die Spuren der Vergewaltigten haften geblieben – in allem Uebrigen ist das Land deutsch geworden, als ob es nie anders gewesen wäre.

Wie einst mit der Aenderung von Luft und Wetter die Thiere und Pflanzen jener tieferen Thäler sich in der alten

[441] 

St. Ulrich im Grödener Thal in Südtirol.
Nach der Natur gezeichnet von R. Püttner.

[442] Heimath nicht mehr behaglich fühlten und nur dort weiter gediehen, wo keine Umwandlung zu verspüren war, so geschah es auch mit den Menschen. Eine der breitesten Lücken, welche die germanische Sturmfluth in den zusammenhängenden Ring der Rhätier einriß, deren Rede sich mit dem Latein der alten Eroberer verquickt hatte, ist diejenige, die zwischen dem Engadin und den Gebirgen des Eisakthales klafft. Dort ist aus der alten Val Venosta das heutige Vintschgau und aus dem romanischen Pauzanum, Bolsanum, das deutsche Bozen geworden. Die Rhätier haben deutsch reden gelernt – oder sie gedeihen drinnen in den Hochthälern, auf den Matten unter den bleichen Dolomitbergen. Dort hausen sie heute noch, die „Ladins“.

Das anziehendste aller ladinischen Thäler ist Gröden, das bei Waidbruck zwischen Brixen und Bozen in’s Eisakthal ausmündet und sich nach oben, wo seine Wasser zusammenrinnen, in große Kalkwüsteneien hinein verästelt. Es ist schön, grün, wasserreich, von wundervollen Bergen umringt, unter denen die grünende, von zahlreichen Heerden und munterem Sennervolk belebte Seiseralpe obenan steht. Wer dieses herrliche Stück deutscher Erde nicht gesehen, den mögen von der Wahrhaftigkeit unseres Lobes die trefflichen diesem Artikel beigefügten Püttner’schen Zeichnungen überzeugen.

Im unteren Theil des Thales haben sich die Ladins nicht erhalten. So weit wärmere Luft reicht und Fruchtbäume stehen, hat auch der Verkehr seine Wellen herein geworfen. Die Zunge des Verkehrs aber ist deutsch. An dieser Seite des Gebirgs hängen die Ladins an Zirben und Fichten. Ihre Sprache gehört zur Alpenflora.

Die Ladins sind in ihren eigenen Augen, gleich den Rumänen, die echtesten aller Abkömmlinge des Römervolkes. Jetzt schnitzen sie dort oben, hoch in ihren Berghäusern, von denen viele so weit über das Meer aufragen, wie Brocken oder Schneekoppe, einen nicht geringen Theil der Spielwaaren, welche in hercynischer Tiefebene das Christkind seinen deutschen Schützlingen bringt.

Das ist so zugegangen. .... Doch wozu ein geschichtlicher Excursus? Es ist ebenso wenig auf Jahr oder Tag hinaus festzustellen, wann die Grödener anfingen, ihre Spielwaaren zu schnitzen, wie es von den Berchtesgadenern oder Oberammergauern bekannt ist, oder wie man weiß, wer in Mittenwald die erste Cither gemacht hat. Packen wir die Sache von ihrer sinnlichen, malerischen Seite!

Ich habe in meinem „Deutschen Alpenbuch“ (Glogau, Flemming) gesagt: „Jetzt war der Abstieg zum Ladinergebiet erreicht. Weit schaute das Auge auf die blauen Gipfel von Cadore, in die fernen Corridore, die nach Wälschland hinabführen zu den Palästen des Venediger Landes. Dort grünt der Lorbeer, rauschen die Brunnen und stehen weiße Bilder – hier oben aber, auf der armen Höhe, liegen Zirbenklötze, mit Zweigen zugedeckt. ‚Das werden Rösser,‘ sagt der Führer. Das heißt, es kommen Männer herauf, welche die Hölzer mit fortnehmen und daheim Pferde und ähnliches Spielzeug daraus schnitzen. Bald fällt vielleicht das Licht des Weihnachtsbaumes in festlicher Stube auf die Rösser, die jetzt noch in diesen Klötzen eingeschlossen sind.“

Ich setze nunmehr andere Bilder hinzu.

Am Abhang von St. Christina, wo der Wasserfall gegen die vielblumigen Wiesen herabstäubt – im Angesicht des Langkofel, um den langsam die Wolken wandeln, gehen gebückte Gestalten, Weiber und Kinder. Sie beugen sich unter Tragkörben. Unter dem Tüchlein, welches oben über den Korb gebreitet ist, schauen Füße von Thieren, Schellenkappen von Hanswursten heraus. Sie „liefern ab“. Der „Verleger“ unten in St. Christina oder St. Ulrich ist es, dem sie zuschleppen, was während der letzten Woche daheim, bei Sonnenschein oder bei Lampenlicht, von Alt und Jung aus dem Holze herausgearbeitet worden ist.

Nicht selten sind es auch die Bilder des gekreuzigten Erlösers oder von Heiligen, die da langsam von mühseligen Menschen am Rande der Felswände dahin getragen werden.

Wieder ein anderes Bild!

Es ist Mitternacht. Mit mächtigerem Rauschen (wie das scheinbar oder in Wirklichkeit zur Nachtzeit alle Wasser thun) zwängt sich der Thalbach den Engpässen entgegen. Der deutsche Bauer drunten im Eisakthale liegt schon seit Stunden in den Federn, nachdem er sich, wenn nicht müde gearbeitet, doch müde gebetet hat. Hier glänzen helle Punkte, hinauf, weit hinauf an den Matten bis unter die grauen Wände hin. Es sind nicht Glühwürmer im Nadelwald; es sind nicht Feuer der Hirten. Hier brennen die Lampen, und hinter den Lampen sitzen die Menschen mit ihren Messern. Da häufen sich Hügel von ganz rohen Schafen, Hunden, Kühen und Ziegen, die alle im Handumdrehen gemacht werden und für deren eines nicht einmal ein ganzer Kreuzer als Entgelt abfällt. Da wachsen die Gliederpuppen und die Wiegenpferde aus Blöcken von Fichten- und Föhrenholz heraus.

Es geht hier allenthalben umgekehrt zu, wie bei den „Verwandlungen“ des lateinischen Dichters. Hier tritt die menschliche Gestalt aus dem Holze heraus, während sich bei dem Poeten so oft die hüllende Rinde eines Baumes hinter der verfolgten Nymphe schließt und ihre emporgestreckten Arme als lange Aeste gegen den Himmel schauen.

Wieder ein Bild! Hoch oben auf der Bergwiese glänzt ein weißes Haus, auf der Sonnenseite des Thales. Es ist ein mühsames Gehen dort hinauf, auf den schmalen Wiesenwegen, zwischen den Gerstenfeldern hindurch – wenn die mittägige Sonne sich an die jähen Halden legt. Dort oben im sauberen Hause wohnt ein gerühmter Bildschnitzer. Bei ihm finden wir lebensgroße Gestalten der heiligen Geschichte – vielleicht auch Jagdstücke, kunstvolle Becher. Der Schnitzer ist der vornehmste unter den Arbeitern oben. Er schafft nicht für einen „Verleger“; er braucht keinen Vermittler zwischen seiner Arbeit und denjenigen, die ihrer bedürfen. An ihn wenden sich Gemeinden und Pfarrer, die ihre Kirchen verschönern wollen. Gleichwohl kommt seiner Behausung das Aussehen einer kleinen Fabrik zu – denn die Brüder und anderen Gehülfen im größeren Raume beschäftigen sich als „Faßmaler“. Schon der Leimgeruch der Farben, die Ausdünstung der Lacke deutet uns an, was diese treiben. Hier malen sie dem heiligen Johannes seinen schönen, mädchenhaften, etwas hektischen Teint und die goldblonden Haare an; dort umgeben sie den Wundenrand eines Märtyrers mit blutigem Carmin. Man findet da Gesellschaften in golden und silbern strahlenden Gewändern von ganz seltsamen Geberden und Stellungen, welche die Gestalten gegen einander einnehmen.

Auch die Unglückstafeln, an denen das Hochthal ein ziemliches Bedürfniß hat, werden vom Faßmaler angefertigt. Er stellt die Begebenheit dar und liefert auch den Text, und zwar je nach Wunsch in italienischer oder deutscher Sprache; denn zur Schriftsprache hat sich das Grödenische noch nicht zu erheben vermocht. Es ist, nebenbei gesagt, sehr schwer, einen Brief in dieser Sprache sich zu verschaffen. Außer dem Curaten Vian, der eine Grammatik geschrieben, sind nur von ein paar Sprachforschern kleine Texte im Ladin veröffentlicht worden. Auch mit ihrem Gott reden die Ladins nicht in der Muttersprache. Es wird deutsch, zumeist aber italienisch gepredigt, und wer etwa bei einer Procession den Weibern zuhört, die mit ihren hohen schwarzen Wollmützen, denen blaue Bündchen als Zierrath angeheftet sind, betend einhergeschritten kommen, der wird sich bald überzeugen, daß es die angelernte Kirchensprache ist, in welcher sie die Formeln hersagen.

Die Häuser in Gröden sind zumeist sauber, aber als die schönsten muß man, wie leichtbegreiflich, die der „Verleger“ gelten lassen. Die „Verleger“ sind es, welche das meiste Geld haben. Insam und Prinoth werden heute als erste „Firma“ genannt. Das wichtigste aller Verlegerhäuser ist aber das von Purger, für die Geschichte des Thales wenigstens; hat es doch zum ersten Mal der Grödener Arbeit Gebiete über dem Meere erschlossen. Purger war der erste große Kaufmann im Thale. Ihm ist es zu danken, daß die Grödener eine Straße haben. Denn, es darf daran erinnert werden: früher mußten sie mit ihren Tragkörben den Abgrund umgehen, in welchem der Thalbach zum Eisak vorbricht.

Längs des natürlichen Weges, den das Wasser vorzeichnet, konnten sie nicht hinauskommen. Es ist dort eine Klamm hinter der anderen, und die Traufen der angeschmetterten Wellen im untern Lauf des Thalbaches, der als ein langhingestreckter Wasserfall gelten kann, sprühen hoch in den Schatten der Felsen hinein. Da mußten sie hoch oben herumklettern, die Träger, über Laien und St. Peter, und weit über den Porphyrwall hinsteigen, der dem Thale vorgelagert ist. Sie waren zu steigen genöthigt, um in die Tiefe zu kommen. Purger erklärte es für seine Aufgabe, der Mühsal abzuhelfen, aber er hatte ohne die Staatsweisheit jener Tage gerechnet. Es darf nicht Straßen bauen, wer da will, wer sie zu nützen trachtet und den Bau selbst zahlt. Vier, fünf Reisen nach Wien, der allunterthänigsten Vorstellungen vor den höchst Gewaltigen, der Bücklinge und Bitten bedurfte es, bis den armen Grödenern [443] gestattet wurde, in ihre eigenen Taschen zu greifen und sich auf ihre Kosten einen Weg nach den Stationen des Verkehrs anzulegen. Ohne Purger krabbelten die Kraxenträger noch heute über das Joch. Selten vermeldet, wie wir wissen, eine ruhmredige Gedächtnißtafel den wahren Namen desjenigen, den man als den Urheber des Werkes ansehen sollte. Meist erscheint in Goldlettern der Name irgend einer Person, die gar nichts oder vielleicht nur durch die Mühe einer Unterschrift mit demselben ein wenig zu schaffen hatte. Purger’s Name aber ist dort, am Felsen unter Pontifes, mit Recht eingegraben, und alle Vorübergehenden müssen des Mannes gedenken. Wenn die Buchstaben der Inschrift längst unleserlich geworden sind, wird man im Thale noch vom „alten Purger“ erzählen. Er hat seine Heimath erschlossen. Auch in anderer Hinsicht bleibt sein Andenken geehrt. Es fiel ihm nicht bei, das Mark der Grödener auszunutzen. Der Gegensatz von Geld und Arbeit wurde damals den armen Schnitzern nicht empfindlich. Purger wäre es nie in den Sinn gekommen, durch schlechte Nahrungsmittel, durch verfälschte Milch einen Theil des ausgezahlten Lohnes wieder in die eigene Tasche zu bringen.

Der Anfang und Fortgang der Grödener Schnitzerei hat viele Aehnlichkeit mit der Geschichte der Mittenwalder Geigenindustrie. Es ist in Gröden nicht so gegangen, wie beispielsweise in Partenkirchen-Oberammergau, wo durch das Auftreten eines einzigen Mannes künstlerisches Leben in Fluß kam und die Arbeit urplötzlich aus dem Bereiche gewöhnlichster Hausindustrie in den des Geschmackes hinüber gehoben wurde. Gröden hatte keinen Michael Sachs, wie das baierische Hochland. Erst in neuester Zeit hat die österreichische Regierung, um Jahrzehnte hinter den Nachbarn nachhinkend, durch Errichtung einer Schnitzschule darauf hinzuwirken angefangen, daß nicht die Grödener Arbeit durch geschmackvollere Leistungen der Mitbewerber allenthalben aus dem Felde geschlagen werde.

Die Holzschnitzerei in Gröden begann im Laufe der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Zuerst erstreckte sie sich nur auf Rahmen, Kraxenträger schleppten diese Holzrahmen über den Berg hinaus, und war der Vorrath ihres Tragkorbes erschöpft, so kehrten sie um. Allgemach wurde ein solcher Verkehr zu umständlich und lästig. Es lohnte sich nicht mehr, mit so geringen Vorräthen weite Reisen, wie nach Preußen und Rußland, zu machen, und so ließen sie sich an entlegenere Orte Waaren nachführen. Es entstanden Depots, Niederlagen.

Die Nachfrage nach den billigen Erzeugnissen wurde immer größer, und allmählich thaten sich Männer im Thale selbst auf, welche Waaren zusammenkauften oder auf Bestellung anfertigen ließen, Verleger. Ein Beispiel aus dieser Periode des Grödener Handels bietet uns Dominicus Mahlknecht. Als junger Bursche begann er mit seinem Tragkorbe zu hausiren, sammelte nach und nach Geld an und wurde Großhändler. Als er starb, berechnete man sein Vermögen auf eine halbe Million Gulden.

Wie bei aller Betriebsamkeit, so nimmt auch in den Grödener Schnitzwaaren die Nachfruge ab und zu. Eines der besten Jahre war 1868. In diesem Jahre betrug das Gewicht der von Gröden ausgeführten Schnitzereien 8000 Centner, ihr Werth 600,000 Gulden. Während der siebenziger Jahre bemerkte man fühlbaren Rückgang. Dermalen hingegen werden die Spielsachen aus Gröden wieder viel begehrt. Der Arbeiter ist nicht verlegen um Absatz, und er ist es, welcher vom Verleger gesucht wird – nicht umgekehrt, wie es wohl schon in schlimmeren Zeiten der Fall war. Gleichwohl dürfen die Grödener nicht vergessen, daß sie gefährliche Nebenbuhler haben. So lange in den Kunsthandlungen Innsbrucks die schönsten Stücke von dem, was dort als „tirolische Schnitzwaare“ feilgeboten wird, nicht von ihnen herrühren, steht ihrem Ehrgeize noch ein weites Feld offen. Auch ist es vielleicht unnöthig, daß sich die Verleger auf ihre Kosten bereichern, und könnten sie es den Ampezzaner Filigran-Arbeitern nachmachen, welche sich zu einer Genossenschaft zusammengethan haben.

Unter den Männern, welche sich um den Fortschritt des Grödener Kunstgewerbes verdient gemacht haben, muß der dermalige Zeichnungslehrer Herr Sotriffer erwähnt werden. Er wohnt neben der Kirche zu St. Ulrich, im Angesicht des gewaltigen Grödener Wahrzeichens, des Langkofel. Seine Behausung bietet schöne Aussicht, sein Gespräch Einblick in die Geschichte des Thales Gröden und die Mannigfaltigkeit seiner Natur. Gelegentlich sei erwähnt, wie sein Name zu denjenigen gehört, an welchen man die beliebte Germanisation der romanischen Namen zu studiren vermag. Sotriffer kontmt her von sotto ripa, das heißt unter dem Hang, Rain, und wäre demnach mit Unterrainer zu übersetzen. Dieser Name ist zu vergleichen mit Aldosser, Welponer, Pineiter, die von al doss, val bona, pineto abgeleitet sind und etwa mit Bühler, Gutthaler, Fichtner verdeutscht werden könnten.

Nachdem ich so viel über die Grödener und ihre Schnitzereien gesagt, gestatte ich mir einige Worte über ihre Wohnstätten.

Wären die hohen Schrofen nicht, die steil in das obere Thal abfallen, so möchte sich der Wanderer beim ersten Anblick in irgend eines der Thäler des baierischen Voralpengebirges versetzt glauben. Allgegenwärtiges Grün von Nadelholzwäldern und Wiesen und dazwischen verstreut weiße Häuser. In der That verrathen die romanischen Grödener, in ihrer Weise zu wohnen, nicht die geringste Verwandtschaft mit den italienischen Nachbarn. Diese letzteren lieben es nicht, sich in vereinzelten Häusern anzusiedeln. Sie ballen ihre Wohnstätten zusammen und das feste Mauerwerk ihrer Dörfer gleicht einem heruntergekommenen Theile der nächsten besten Stadt. Die Ladins aber folgen dem germanischen Triebe, der schon den römischen Schriftstellern der Kaiserzeit auffiel. Romanisch dagegen ist die Theilnahmlosigkeit an der Verschönerung des eigenen Heims durch die Pflanzenwelt.

Wohl sind hier die Lüfte rauh – aber in noch rauheren Thälern des deutschen Hochlandes fehlt nie das wenn auch noch so dürftige Gärtchen vor der Schwelle mit der flüchtigen Zier seiner Mohnblumen, Päonien oder Astern. Darum kümmert sich aber der Grödener nicht. Im Herbste 1881 beispielsweise werden wohl die meisten Fremden kopfschüttelnd bemerkt haben, wie mitten im Dorfe St. Ulrich, in welchem die Verleger so schöne Häuser stehen haben, der ansehnliche Raum nördlich vom Adlerwirthshause, gegen den Purger’schen Palazzo hin, ausschließlich von Disteln und nur von Disteln bedeckt war – ein weiter Distelacker, so dicht von diesen Stachelgewächsen bedeckt, als ob die Bewohner von ihnen und nicht von ihrer Arbeit oder von Brodfrüchten leben müßten.

Bädeker’s verdienstvolles Handbuch zählt alle Zugänge in’s Thal auf. Fahrbar ist nur der durch die Klammen des Thürsenbaches, deren Wasser- und Felsansichten gewiß von John Bull zu gering geschätzt werden, wenn er sagt, daß „ihre Scenerie sich kaum zur Größe erhebt“. Herr H. J. Meyer in Leipzig dagegen befindet sich im Rechte, wenn er in seinen „Deutschen Alpen“ Gröden ein „köstlich frisches Thal“ nennt.

Freilich ist es ein ganz anderes Ding, sich dem Grödener Thale über irgend eines der Jöcher zu nähern. Sie sind alle leicht zu begehen, bis oben hinauf mit Gras, zum Theil auch mit Bäumen, bewachsen. Wer da oben geht, sieht die Pracht der Dolomite. Er staunt die Größe ihrer Steilwände, die Zerrissenheit ihrer Zacken, noch mehr aber vielleicht die Kühnheit der Menschen an, deren Fuß sich nicht durch die Schrecknisse abhalten ließ, mit welchen die Geister der Gipfel sich gegen menschliche Annäherung vertheidigen. Was da gewagt wird, das möge die Erzählung der Frau Antonie Santner, die eine Nacht auf dem Langkofel zugebracht hat, andeuten. Ich habe dieses wundersame Abenteuer in meinem „Bozener Führer“ mitgetheilt.

Einen lehrreichen Gegensatz bietet der Pflanzenwuchs des unteren und des oberen Thales. Dort unten, in den von jäh abstürzenden Wassern durchtosten Engen, hängt die Traube von luftigem Pfahldache und werfen Nußbäume und Kastanien ihre Schatten über den silbrigen Schaum. Dort oben, im Langthal, wo die letzten Trümmer von Wolkenstein stehen, gedeiht die Legföhre um schneeweißes Geröll. Kein Wunder – denn bis zur letzten Gaststätte, Plan, (dessen freundliches Wirthshaus gepriesen sei) hebt sich das Thal um ungefähr 1200 Meter.

Wer Grödens Hochkare und Schneefelder, seine von so wunderlichen Sagen belebten Felseinöden, seine stäubenden Bäche und dunklen Fichtenwälder in einer Bildergallerie vereinigt suchen will, der lasse sich von Franz Moser in Bozen eine Sammlung der Lotze’schen Photographien kommen! Noch besser freilich, wenn er dem folgt, was ich ihm in meinem Abschiedsworte anrathe.

Die „Gartenlaube“ hat schon Sätze ist Sprachen entlegener Erdtheile gebracht, aber noch keinen im hinschwindenden Idiome der Rhätoromanen. Mein Gruß sei also in dieses gewandet, indem ich sage: Je cunascia velga mia tutas las stredes che meina della bella val de Gherdeina. U les truepes d’autri m’ unito! Das heißt verdeutscht: Ich kenne schier alle Wege, die in’s schöne Grödener Thal führen. Mögen recht viele Andere mir nachfolgen!




[444]

Die „Ladins“ im Grödener Thal in Südtirol.
Nach der Natur gezeichnet von Richard Püttner.

[445]

Die Seiseralp in Südtirol.
Nach der Natur gezeichnet von Richard Püttner.


  1. Das heutige Graubünden, Tirol, Vorarlberg und baierische Hochgebirge.
    Die Red.