Lebkuchen und Marzipan
Lebkuchen und Marzipan. [1]
Zuckerwerk verdirbt der Kinder Leiber, Schmeichelei die Weiber,“ sagt ein altes Sprichwort. Trotz dieser Mahnung werden in dem letzten Viertel jedes Jahres für die fröhliche Weihnachtszeit so ungeheuere Massen von Zucker verarbeitet, daß die Zuckerkrisis sofort aus der Welt geschafft sein würde, wenn man auch in den übrigen neun Monaten so menschenfreundlich wäre, den Mitmenschen das Dasein so viel als möglich zu versüßen. Unter all den Süßigkeiten aber, die an dem im Herzenlicht strahlenden Christbaum hängen oder unter denselben gelegt werden, nehmen zwei die hervorragendste Rolle ein: Lebkuchen und Marzipan. Beide sind altehrwürdige Leckerbissen, welche eine Geschichte haben und dazu, wie wir beweisen wollen, eine recht interessante. –
Da das Alter den Vortritt hat, so müssen wir uns zunächst mit dem Lebkuchen beschäftigen, der schon einige Jahrhundert hindurch in Deutschland gegessen wurde, bevor sich die Zähne und der Magen an das Marzipan gewöhnt hatten. Bereits vor 600 Jahren erfreute sich an dem duftigen „lebekuoche“ oder „lebkuoche“ Jung und Alt, Weltlich und Geistlich; hauptsächlich letztere Kategorie, denn aus den Sitzen der mittelalterlichen Kultur, aus den Klöstern, ist der Lebkuchen hervor gegangen. Sein Name ist der Verräther seiner Herkunft. Der erste Theil des Wortes stammt aus dem mittellateinischen libum, das ist Fladen, welche halbgelehrte Zusammensetzung uns berichtet, daß das süße Gebäck zuerst an geistlicher Stätte bereitet wurde. Die Klosterschwestern waren in dieser Beziehung besonders erfinderisch, und heute noch melden die Namen köstlicher Bäckereien, wie Nonnenkräpflein, Nonnenplätzlein etc., wem sie ihren Ursprung verdanken. – In Nürnberg, das heute noch als Hauptsitz der Lebkuchen-Industrie anerkannt wird, spielten die Lebkuchen im 15. Jahrhundert auch außerhalb der Klostermauern schon eine hervorragende Rolle. Kaiser Friedrich III., der sich oft und gern in der alten Reichsstadt aufhielt, hatte Kunde erhalten, daß dieselbe sich eines reichen Kindersegens erfreue. Um diesen einmal in seiner ganzen Größe überblicken zu können, beehrte das Reichsoberhaupt alle Kinder unter 10 Jahren mit seiner Einladung. Aus allen Gäßchen und Gassen zappelten am Sonntag nach Himmelfahrt des Jahres 1487 die aufs Zierlichste geputzten Männchen und Fräuleins zur kaiserlichen Burg hinauf. Bald waren deren gegen 4000 im Stadtgraben unter derselben versammelt, der wohl seit dieser Zeit nimmer ein so fröhliches Gewimmel gefaßt hat. Die kleinen Gäste fühlten sich außerordentlich wohl daselbst, und es gelang ihnen sogar, das Oberhaupt des heiligen römischen Reiches deutscher Nation in Verlegenheit zu bringen; als der Kaiser, hocherfreut über die muntere Schar, „dieser artigen und unschuldigen Menge der Leutchen“ außer Wein und Bier auch Lebkuchen reichen ließ, entwickelten dieselben in der Vertilgung eine solche außerordentliche Thätigkeit, daß die Vorräthe nicht hinreichten und mancher Wunsch unbefriedigt blieb. An Verzagtheit litt also schon damals die Nürnberger Jugend nicht! Als besonderer Schmuck war den Lebkuchen das Bildniß des hohen Wirthes aufgedruckt; man nannte deßhalb von damals an die zur Vertheilung gekommene Art Lebkuchen die „Kaiserlein“.
Der Schmuck und die Verzierungen, welche unsere Vorfahren jedem ihrer alltäglichen Gebrauchsgegenstände zu verleihen wußten, erstreckte sich also auch auf die Leckereien, an denen sie sich ergötzten. Während wir uns heute mit ganz glatten Lebkuchen, die höchstens durch einen Stern von Mandeln oder Citronat geschmückt sind, begnügen müssen, hatte man in früheren Zeiten das Vergnügen, zugleich die schönsten und interessantesten Darstellungen, wie das Urtheil des Paris, David mit der Harfe, die Geburt Jesu, Maria mit dem Kinde, das eigene oder das Wappen anderer Familien, prächtig geputzte Frauen und Männer in der Tracht ihrer Zeit, zu Fuß und zu Pferde, Schlittenfahrten (Fig. 7) etc., kurzum den ganzen Bilderkreis mitverschlucken zu dürfen, den die Holzschnitte und Stiche jener Zeiten aufweisen. Die frommen Beichtkinder des Pfarrers Joh. Ditelmair zu St. Jakob in Nürnberg druckten 1631 sogar das Bildniß des beliebten Geistlichen auf ihre Lebkuchen – sie hatten ihn also zum Fressen gern. Das fabelhafte Ungeheuer, das uns auf Fig. 5 so drohend anblickt, gehört noch dem 15. Jahrhundert an und dürfte wohl demnächst seinen 400jährigen Geburtstag feiern. 100 Jahre jünger ist der stolze Reitersmann (Fig. 3), dessen Pferd etwas kurz ausgefallen ist. Die reichgeschmückte vornehme Dame (Fig. 4) entzückte, ebenso wie der bewaffnete Herr (Fig. 1) im 17. Jahrhundert die Kinder, während wir in der anderen (Fig. 2) eine mit der Brautkrone geschmückte bürgerliche Dame erkennen, die bei fröhlichem Hochzeitsmahle die Tafel zierte.
Die ältesten professionsmäßigen Verfertiger der Lebkuchen waren die Bäcker; sie theilten sich später in Schwarz- und Weißbäcker, von letzteren sonderten sich dann mit der Zeit die Zuckerbäcker und Lebküchner, auch Lebzelter und Pfefferküchler genannt, ab. In Nürnberg z. B. gehörten die Lebküchner bis zum Jahre 1643 zu den Weiß- oder Losbäckern und bildeten erst von da an eine besondere Innung mit eigener Ordnung, die sich aber bald zu der angesehensten der deutschen Lebküchnerzünfte aufschwang. Der Altdorfer Professor Wagenseil (geb. 1633, gest. 1705) spendet in einem seiner Werke vom Jahre 1697 deren Erzeugnissen großes Lob: „Die rechten guten Nürnberger Lebküchlein oder Pfefferkuchen, welche angenehm von Geschmack und eine rechte Magenstärkung, auch angenehm beim Trunk sein, haben noch niemals, wie sehr man sich auch darum bemühet, anderwärts können nachgemacht werden, ob man gleich Nürnberger Lebküchner und alle ihre Zuthat und Werkzeug darzu gebrauchen und verschrieben hat.“
Aber auch die Lebkuchen anderer Städte erfreuten und erfreuen sich theilweise noch heute eines ausgezeichneten Rufes, so die von Basel, Braunschweig, Bremen, Breslau, Danzig, Pulsnitz, Thorn u. s. w. Von ganz besonderer Güte müssen auch die Ulmer Lebkuchen gewesen sein; soll doch nach einer Anekdote in Christoph Weigel’s Abbildung der „Gemein-Nützlichen Haupt-Stände“ (1698) ein Graf von Werdenberg seine Grafschaft Albeck „mehrentheils in Ulmischen Lebkuchen verschlucket“ und bei dieser angenehmen Beschäftigung immer gerufen haben: „Wie schmecken sie so gut! Mehr her! Mehr her!“
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts trat der Lebkuchenfabrikation ein gewaltiger Feind entgegen; unähnlich seinem lebkuchenfreundlichen Vorfahren Friedrich III. hob Kaiser Josef II. in seinen Erblanden die Lebküchnerzünfte gänzlich auf und verbot zu gleicher Zeit die Einfuhr fremder Leb- oder Pfefferkuchen. Hatte der große Kaiser eine Ahnung, daß die Lebkuchen ihren Ursprung in den von ihm gleichfalls aufgehobenen Klöstern genommen hatten, und trat er nur deßhalb so feindlich gegen die Lebkuchen auf? Oder wollte er in seiner allumfassenden Fürsorge nur seine Unterthanen vor verdorbenen Mägen und leeren Geldbeuteln bewahren? Jedenfalls war der Kaiser mit der Annahme der Alten, durch welche sich diese wohl nur selbst täuschen und das Lebkuchenessen entschuldigen wollten, daß die Lebkuchen eine „rechte Magenstärkung“ seien, nicht einverstanden. Noch weniger hätte ihm die von Christoph Weigel gegebene Ableitung des Wortes Lebkuchen [821] gepaßt; sie sagt nämlich, „weil das Honig, sowohl innerlich als äußerlich gebraucht, ein zur Lebensunterhaltung sehr seltsames Mittel ist und viele hundert Jahre bewährt befunden worden, daß mancher dadurch sein Leben sehr hoch gebracht und nächst Gottes Beihilf ein hohes Alter erlanget, so mag der von Honig bereitete Kuchen hiervon den Namen Lebkuchen bekommen haben, als welcher das Leben gleichsam stärke und mit neuer Kraft begabe.“ Mehr hätten dem Kaiser wohl die damit nicht übereinstimmenden Worte des Arztes Gualtherus Rivius oder Ryff entsprochen, der in seinem im 16. Jahrhundert erschienenen „Spiegel der Gesundheit“ schrieb: „Die Lebkuchen oder Lebzelten mit Honig und Mehl gebacken sind harter, schwerer Däuung (Verdauung)“. Mag dem nun sein, wie ihm wolle, schön war es von Josef II., zu dessen Verehrern wir sonst gehören, nicht, daß er die Kinder seines Reiches mit einem Federstriche dieses Leckerbissens beraubte, die der Ansicht huldigten, daß Leckkuchen ein viel richtigerer und treffenderer Name für dieses Gebäck sei als Lebkuchen.
Ueber die Verhältnisse des Lebküchnergewerbes zu Anfang unseres Jahrhunderts berichtet der Schweinfurter Oberpfarrer J. P. Voit in seiner „Faßlichen Beschreibung der gemeinnützlichsten Künste und Handwerker“ vom Jahre 1805: Indessen nimmt die Anzahl der Lebküchner im Reiche immer mehr ab und sie wenden sich lieber zur Kaufmannschaft, weil sie von der Lebküchnerei allein sich nicht ernähren können. Selbst in Nürnberg ist die Anzahl der Lebküchner sehr vermindert worden, und der weltberühmte Nürnberger Leb- oder Pfefferkuchen hat den Verfall dieser Profession nicht verhüten können.“
Sollte dieser Rückgang vielleicht eine Nachwirkung der Gegnerschaft des Kaisers Joseph sein? Heute ist von diesem Verfalle in Nürnberg nichts mehr zu verspüren; die Lebkuchen-Industrie steht vielmehr daselbst in der Gegenwart in höherer Blüthe als je. Nur ein Theil der Nürnberger Lebkuchen wird jedoch jetzt noch innerhalb der alten Mauern in den engen, krummen, malerischen Straßen und Gäßchen der Stadt gefertigt; die hervorragendsten Firmen haben sich vielmehr außerhalb der Mauern in den Vorstädten großartige Fabriklokale gebaut, in welchen sie mit allen Hilfsmitteln, wie sie die fortgeschrittene Technik der Neuzeit und ein im großen kaufmännischen Stile betriebenes Geschäft bietet, ihre süßen, jeder Konkurrenz die Spitze bietenden würzigen Lebkuchen anfertigen, die am Christfest allüberall hochwillkommene Gäste sind und unter keinem deutschen Weihnachtsbaume fehlen. Wahrer denn je sind die im Jahre 1683 von Schuppius geschriebenen Worte: „Die Kinder halten einen Lebkuchen höher als Gold und Silber.“
Es wäre aber irrig, hieraus den Schluß zu ziehen, daß sie deswegen die übrigen Bäckereien, speciell das Marzipan, etwa mit Verachtung strafen! In ihrem kleinen Magen haben sie auch noch einen Vorzugsplatz für diese Leckereien refervirt und zwar nicht erst in der Gegenwart, sondern schon seit Hunderten von Jahren. Im 16. Jahrhundert hatte das Marzipan sich bereits das Bürgerrecht in den deutschen Landen erworben; es stammt aber aus Wälschland, wie sein Name, der wahrscheinlich aus pane, Brot, und dem lateinischen maza, Mehlbrei, Milchmus, zusammengesezt ist, verräth, und ist jedenfalls durch den Handelsverkehr mit Italien, aus welchem Lande Deutschland ja so viele Süßigkeiten zugekommen sind, im 15. Jahrhundert auch im Norden bekannt geworden. In Lübeck, woselbst man vorzügliches Marzipan herzustellen versteht, erzählt man sich über den Ursprung des Marzipans, zugleich eine Deutung des Namens versuchend, daß einstmals alle Früchte verdarben und eine so große Hungersnoth entstand, daß die Menschen Heu und Gras essen mußten und der Bissen Brot, wie eine wälsche Nuß groß, in Sachsen drei Pfennige kostete. Zum Andenken an diese betrübte Zeit backte man in der Folge am Markustage reich gewürzte Brötchen in dieser Größe, welche man das Markusbrot, Marci panis nannte.
Bei den Festen der Fürsten, des Adels und der reichen Bürger spielte das Marzipan und anderes Zuckerwerk eine große Rolle; es war „gemeiniglich auf den fürstlichen oder dergleichen Tafeln“ in großen Massen zu finden, namentlich mit Rücksicht auf die anwesende Frauenwelt, „dann dieses ein Ding ist, das insonderheit dem liebreichen Frauenzimmer lieb und annehmlich ist.“ Der große schöne Doppeladler Fig. 6 unserer Abbildungen mit der Jahreszahl 1650 und den Chiffern F. III., dessen Original über einen Fuß im Durchmesser hat, prangte unzweifelhaft auf einer Tafel des Kaisers Ferdinand III. zu Regensburg. Das kleine Wappen mit den gekreuzten Schlüsseln über dem Adler ist das der Stadt Regensburg; von dort ist auch der Model nebst einer Reihe anderer sehr hübscher in das Germanische Nationalmuseum gelangt, in dessen Sammlungen die Driginalmodel unserer heutigen Abbildungen sich befinden.
Auch die reichen Patricier in den deutschen Reichsstädten trieben einen großen Luxus mit den Süßigkeiten. Die durch ihre außerordentliche Prachtliebe bekannte Gesellschaft Limburg zu Frankfurt am Main geleitete bei den Hochzeitsfesten ihrer Mitglieder zum Schlusse Bräutigam und Braut zum Beilager nach Hause, woselbst noch allerhand Schleckwerk köstlich von Zucker, Marzipan, Kuchen, Gebacknes gereicht wurde, welches allerhand Geschöpfe von Thieren und Vögeln, auch allerhand Heirathsfiguren darstellte. Es ist nicht zu verwundern, daß man zu jener Zeit, in der man mit Schaustücken und Schau-Essen, welche manchmal von den in ihnen versteckten Thieren die Tafel entlang gezogen wurden, eine so große Verschwendung trieb, auch das Marzipan sich mancherlei Ausschreitungen gefallen lassen mußte. Als Meister in der Erfindung solcher Schau-Essen wird der Nürnberger Zuckerbäcker Hans Schneider genannt, der um 1595 seine Thätigkeit begann und bei festlichen Tafeln ein willkommener Mitarbeiter war. Vielleicht gab seine Thätigkeit den Anstoß, daß der Nürnberger Rath in seiner Hochzeitsordnung vom Jahre 1603 nachstehendes Verbot erließ:
„Nachdem auch eine zeithero diese Neuerung aufkommen, daß die Marzipan, so man bisweilen bei den Hochzeiten und Handschlägen aufzusetzen pflegt, mit allerlei köstlicher und doch unnothwendiger Zierd, einem Schauessen gleich, zugerichtet und aufgetragen worden, welche Zierd, ungeachtet deren Niemand geniessen können, oftmals mehr als die Marzipan selbst gekostet: Als will ein Ehrnvester Rath solche Zierd der Marzipan, als einen unnützen Ueberfluß, hiermit gänzlich abgestellt haben, bei Straf 5 Gulden, also daß, wer hinfüro der Marzipan sich gebrauchen will, dieselbe ohne einige fernere Zierd auftragen lassen soll.“
Wie noch heute, scheinen auch schon damals die Aufwärter unter den Vorräthen gewaltthätig gewirthschaftet zu haben, denn in derselben Ordnung wird ihnen geboten, „nichts weiteres von essenden Sachen, Marzipan oder anderen,“ weg zu thun und ihren Kindern mitzubringen. In Leipzig sah sich der Rath 100 Jahre später – 1701 – veranlaßt, ein Verbot gegen den Luxus zu erlassen, der mit dem Marzipan bei den Taufen getrieben wurde; er ordnete an, daß ein jeder die Wahl habe, einen Marzipan oder Kuchen zum Gevatterstücke zu geben, jedoch, daß bei denen Vornehmsten kein Marzipan über zwei Reichsthaler und kein Kuchen über einen Thaler koste; Handwerks- und gemeinen Leuten aber sollen zu Gevatterstücken Marzipan durchaus verboten, auch sonsten insgemein alle Marzipane, welche bishero bei Austheilung der Pfannkuchen von Etlichen mit beigelegt worden … abgeschafft sein.“ Nach Leipziger Marzipan war auch der General Tilly einmal lüstern; am Abend vor der Schlacht [822] bei Leipzig (1631) forderte er von dem Rathe noch eine große Menge von Lebensmitteln, darunter auch mancherlei Konfekt und 80 Pfund Marzipan. Die Schläge, die er von Gustav Adolf des anderen Tages bekam, verdarben ihm jedoch den Appetit gründlich. Da, wer den Schaden hat, für den Spott nicht zu sorgen braucht, ließen seine Gegner eine ganze Reihe mit Kupfern gezierter Spottblätter gegen ihn los, welche die anzüglichen Titel „Sächsisch Confekt“, „Neu gedeckte Confekt-Tafel“ und ähnliche führten.
Es gab verschiedene Sorten von Marzipan. Das zu Frankfurt am Main 1587 erschienene Kochbuch des Churmainzischen Hofkoches Marx Rumpolt führt weißen und grünen Marzipan, von Mandeln, welschen Nüssen, rothen Haselnüssen und Zirbelnußkernen, sowie Marzipankräpflein auf. Das Basler Kochbuch der Anna Weckerin von 1609 enthält auch ein Recept für Quitten-Marzipan. Die „eröffnete Akademie der Kaufleute“ (1767) meldet, daß man auch Pistazien, Aprikosen- und Pfirsichkerne zur Bereitung des Marzipans verwendet. Es wurde eben in den verschiedenen Städten und zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise bereitet, und sein Name ist in einzelnen Gegenden auf manche Bäckerei übergegangen, die grundverschieden von dem köstlichen, in der Hauptsache aus Mandeln, Zucker und Eiern bereiteten Marzipan Norddeutschlands ist. So wird z. B. in der Nürnberger Gegend eine ganz geringwerthige Sorte Zuckerbäckerei als Marzipan bezeichnet, die auch noch den anzüglichen, aber ganz richtigen Namen „Wasserzucker“ führt.
Die alten Model, mit welchen das Marzipan ausgedrückt wurde und die von den Lebkuchenmodeln nur schwer zu unterscheiden sind, haben sich in ziemlich großer Anzahl erhalten und gehören gerade nicht zu den Seltenheiten; sie haben sich in den Geschäften vom Vater auf den Sohn, im Haushalte von der Mutter auf die Tochter und Enkelin vererbt. Noch gegen Anfang unseres Jahrhunderts bildete sich der tüchtige Nürnberger Lebküchner auch in der Kunst Formen zu stechen aus; er war stolz auf die selbst gefertigten Model, in denen er seiner Phantasie, seinem Geschmacke und seiner Geschicklichkeit Ausdruck gegeben hatte. Die feine Sitte, das Marzipan durch einen bildlichen Schmuck zu verschönern, hat sich bis auf die Gegenwart erhalten, und Darstellungen nach hervorragenden modernen Künstlern, wie Defregger, Meyerheim u. A. blicken uns auf manchem norddeutschen Marzipan entgegen, ebenso wie auch große Schaustücke gefertigt werden, die den alten Luxusgesetzen, würden sie heute noch in Kraft sein, zum Opfer fallen müßten. Nicht verhehlen dürfen wir jedoch, daß Forscher auf dem Gebiete der germanischen Mythologie geneigt sind, den Zuckerfiguren und Bildern, an welchen wir uns während des höchsten Festes der Christenheit erfreuen, einen altheidnischen Ursprung zuzuschreiben und in ihnen die Nachfolger der Opfer zu erblicken, welche die alten Germanen in der heiligen Zeit der Wintersonnenwende ihren Göttern darbrachten. Wir hoffen, daß sich durch diese Annahme keiner unserer Leser veranlaßt fühlt, mit Rücksicht auf sein Seelenheil auf das Lebkuchen- und Marzipanessen zu verzichten; bei unseren kleinen Leckermäulchen brauchen wir uns deßwegen ohnehin keine Sorge zu machen, sie halten heute noch wie vor 200 Jahren einen Lebkuchen und das Marzipan höher als Gold und Silber! Hans Boesch.
- ↑ Sämmtliche Abbildungen zu diesem Artikel sind nach Thonabdrücken der alten Model des Germanischen Museums zu Nürnberg angefertigt.