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Mamsell Unnütz

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Autor: W. Heimburg
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Titel: Mamsell Unnütz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20–28, S. 613–623, 645–652, 677–687, 709–720, 741–748, 773–782, 827–834, 841–847, 873–876
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman als Vorabdruck
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[613]

Mamsell Unnütz.

Roman von W. Heimburg.

Das Fest war just vorüber. Einer der stillen finsteren Tage zwischen Weihnacht und Neujahr neigte sich seinem Ende zu; es schneite in feinen Flocken, war bitterkalt, und ein scharfer Ostwind hielt die Leute in den Stuben. Nur der alte Briefträger schritt mit seinen großen Lederstiefeln auf dem schmalen Bürgersteig dahin; hier und dort trat er in ein Haus, Botschaft bringend aus der Ferne, gute und schlechte, Glück und Unglück übermittelnd, ohne eine Miene zu verziehen im Gefühl seiner Unverantwortlichkeit.

„Da soll man heut abend noch da ’naus laufen,“ murmelte er, unter einer Laterne stehenbleibend und einen eingeschriebenen Brief betrachtend, der die Aufschrift trug:

 „Fräulein Friederike Trautmann
 Andersheim a. Rhein
 Germania.“

Der alte Mann schüttelte den Kopf und bog mit verdrießlichem Aufseufzen in eine Gasse ein, die dunkler und einsamer dalag als die anderen. Er beschleunigte den Schritt und fand sein Ziel mit Hilfe des vorschriftsmäßigen Laternchens nach ungefähr zehn Minuten, Er klingelte an der Thür einer Gartenmauer, worauf sich Hundegebell hören ließ, gleich danach rasselte eine Thürschelle, und ein schwacher Lichtschein machte die Umrisse eines ansehnlichen Hauses sichtbar.

„He!“ rief der Mann draußen, „der Briefträger ist es! Kann ich das Fräulein sprechen?“

Die Thür in der Mauer ward aufgethan, und ein braunlockiger Junge von ungefähr zwölf Jahren sah mit neugierigen, höchst verwunderten Augen bald den Brief bald den Ueberbringer an. „Für die Tante?“ fragte er athemlos.

„Für Fräulein Trautmann!“

„Mutter,“ schrie er, über einen schmalen gepflasterten Weg ins Haus laufend, „die Tante kriegt einen Brief!“

Die Thür mit dem kleinen Guckfenster rechter Hand in dem großen, kaum erhellten Hausflur öffnete sich, und eine Frau [614] erschien auf der Schwelle, die Lampe in der Hand. sie trug auf kaum ergrauendem Haar eine schwarze Spitzenhaube, und ihr längliches farbloses Gesicht zeigte die offenbarste Verwunderung.

„Meine Schwester? Einen Brief?“

Aus der Küche war jetzt auch das Dienstmädchen herzu gelaufen, ein frisches treuherziges Ding, das ebenfalls vor Erstaunen sprachlos geworden schien.

„Geben Sie her,“ sagte die Dame, die Stufen herunterkommend, „wo ist der Brief?“

„Thut mir leid, Frau Rath, muß eigenhändig in Empfang genommen werden. Ist das Fräulein nicht zu Hause?“

„Ei – ei – eigenhändig?“ stammette Frau Roettger.

„Jawohl, kann’s nicht anders machen.“

„Das Fräulein ist droben – Luischen, nimm die Lampe und führe den Mann hinauf!“

Der Bub’ mußte abermals dabei sein. Er sprang voran, immer gleich drei Stufen auf einmal nehmend, und polterte den Flur entlang, daß man glauben konnte, es wolle sich jemand vor Feuer retten. „Tante,“ hallte seine Stimme in dem Gange, „Tante Riekchen, es kommt ein Brief!“ Er riß die Thür auf zu ihrem Zimmer und rief noch einmal: „Ein Brief, Tante Riekchen! Du bekommst einen Brief!“

„Ich? Einen Brief?“ klang es zurück.

Es lag ebenfalls die höchste Verwunderung in der Stimme, aber diese Stimme war so sanft, so wohlklingend, daß der alte Briefträger unwillkürlich seinen bärbeißigen Ton milderte und höflich sagte: „Guten Abend, Fräulein, ’s ist etwas zum Unterschreiben.“

Darauf erhob sich eine Gestalt, die bis jetzt am Fenster gesessen hatte, und ging leisen Schrittes durch das Gemach; nun sprühte ein Streichholz auf, nun brannte ein Wachsstock in spiegelblanker Messingkapsel, und nun griff eine bleiche Frauenhand nach dem Schreiben.

„Bitte, wollen Sie hier Ihren Namen hersetzen.“

Die Schrift ward krakelfüßig, denn die Hand, die schrieb, bebte. „Kostet es etwas?“ fragte die Empfängerin des Briefes.

„Nein, Fräulein!“

„Nicht? Ach, warten Sie!“ Und die zitternde Hand legte ein Geldstück in die Rechte des Postboten.

„Guten Abend – danke gehorsamst!“

Draußen auf dem Vorsaal verklangen harte Schritte; hier innen stand Fräulein Friederike Trautmann, den Brief in der Hand, und wagte nicht, ihn zu öffnen. Der Junge ihr gegenüber hatte purpurrothe Wangen vor Ungeduld und Erregung.

„Tante, warum liest Du denn nicht?“ platzte er heraus.

Sie schrak zusammen. „Geh’ hinunter, Fritz!“ sprach sie und strich ihm über den lockigen Scheitel.

„Aber von wem ist er denn, Tante?“

„Ich weiß es nicht.“

„Er ist aus Italien, sieh doch die Marke!“

„Ja – – aber den Absender kenne ich nicht n geh’, mein Bub’! – Geh’!“ wiederholte sie noch einmal, als er zögerte.

Der hübsche Bursche in grauer Joppe verließ unmuthig das Zimmer. Sie folgte ihm bis zur Thüre, verriegelte diese und ließ sich dann am Tische nieder vor dem Wachsstock.

Sie war nicht mehr jung, die Mitte der Vierzig mochte sie wohl überschritten haben; aber das Gesicht zeigte noch immer die Spuren einstiger Schönheit. Der Gram hatte das blonde Haar gebleicht und die einst so glänzenden Augen matt gemacht; er hatte um den kleinen Mund tiefe Falten und um die Augen dunkle Ringe gezogen und dennoch flog in diesem Augenblick ein Schimmer von Jugend über das erregte Gesicht. „Aus Italien!“ flüsterte sie. „Nachricht von ihm! Von wem denn sonst?“

Sie öfffnete den Umschlag und las. Sie sah nicht mehr gut und mußte sich tief hinunterbeugen auf das Papier, und plötzlich senkte sich ihr Antlitz noch tiefer, und ein dumpfes Stöhnen klang durch das Zimmer. Jetzt sprang sie auf, so hastig, daß sie den Wachsstock zur Erde warf; er erlosch, und nun ward es ganz finster und ganz still. Nach einer langen Weile erst erklang ein Schluchzen aus dem Lehnstnhl am Fenster, das matt von dem Schneelicht erhellt war, ein heißes bitterliches Schluchzen, welches erst verstummte, als draußen ein harter Finger an die Thür pochte und die Stimme der Frau Rath erscholl. „Kommst Du noch nicht zu Tische, Friederike? Die Kartoffeln werden kalt!“

„Bitte, entschuldige mich,“ antwortete Riekchen Trautmann.

„Na, was hat’s denn gegeben? So sprich Dich doch aus! Man kommt ja um vor Angst!“ klang es draußen gereizt.

„Ja, später – ich komme noch hinunter, Minna.“

„Du bist eben ein Dickkopf! – Meinetwegen –“

Die Schritte der Frau Rath entfernten sich. Friederike Trautmann hatte aufgehÖrt zu weinen; sie saß, das Haupt in die Hand gestützt, und starrte durch das Fenster. Im gespenstischen Dämmerlicht lag der Garten, die beiden kahlen Nußbäume drunten am Zaune hoben sich schwarz von dem grauen Hintergrund ab; Fräulein Trautmann konnte jetzt sogar ganz deutlich die Eisschollen sehen, die auf dem Rheine dahintrieben. Wie furchtbar öde, wie tot war das alles! Hatte es wirklich einmal einen Frühling gegeben, einen Lenz, in dem die Welt duftete, grünte und blühte, in dem das Mondlicht auf dem Strome zitterte und die Nachtigallen schlugen? Einen Abend, an dem sie dort unter dem Nußbaum stand in weißem Kleide und mit klopfendem Herzen dem Nachen entgegenschaute, der ihn zu ihr trug – –? Ein kurzer Traum war es gewesen; der Reif war auch in diese Frühlingsnacht gefallen, so unbarmherzig und vernichtend, daß keine Blüthe je wieder aufsproßte.

Sie hatten es nicht gewollt, daß sie dem unbekannten Maler folgen sollte, der da gekommen war – Gott weiß, woher – um überall, wo er eine schöne Stelle fand, seinen Malschirm aufzuspannen. Der Vater hatte von brotlosen Künsten geredet, die Mutter von dem Leichtsinn solcher jungen hübschen Burschen, die zwar der Sammetrock wohl kleide, die jedoch ganz und gar, und so gewiß sie lebe, alle miteinander nichts taugten und nur da seien, die Mädchen und später ihre armen Frauen unglücklich zu machen. Die Schwester aber, die weit weniger schöne Schwester, die konnte es dem jungen Manne nicht verzeihen, daß er nur Augen für das „Riekchen“ hatte, daß er an dem Abend, wo sie im Mondschein von der Aue heimruderten, sein Riekchen aus dem Nachen, in dem sie, die Minna Trautmann, saß, herauslotste in ein kleines Boot, und daß sie trotz der Entfernung, in der dieses Boot von dem andern sich hielt, doch deutlich mit ihren scharfen Falkenaugen erkennen konnte, wie eng umschlungen die beiden auf der Bank saßen.

Sie war es gewesen, die es der Mutter verrieth, und ein böser Morgen war über dem Trautmannschen Hause emporgestiegen der für Riekchens Augen viele Thränen brachte. Am Abend war sie dann noch einmal hinausgegangen, um ihm Lebewohl zu sagen. Die Schwester hatte es bemerkt und ihr vom Lager aus zugerufen. „Bleib hier, das paßt sich nicht – verstehst?“

Riekchen war dennoch gegangen mit einem trotzigen: „So sag’s! – Das Abschiednehmen wenigstens darf mir keiner verwehren!“

Aber Minna hatte nichts verrathen. Der aufschluchzende Ton, welcher der Schwester Worte schloß, mochte sie eigen berührt haben, und Riekchen konnte unter dem alten Nußbaum ungestört die schmerzvollste, bitterste Stunde ihres Lebens auskosten.

Jetzt, in diesem Augenblicke, sah sie so deutlich sein bleiches Gesicht. „Hast recht gethan, Mädchen, daß Du nachgabst! Was willst Du auch mit dem armen Schlucker!“ Das waren die Worte gewesen, mit denen er sie empfing. Erst als sie in verzweifeltem Schluchzen an seinem Halse hing und immer, immer wieder stammelte. „Ich bleibe Dir treu, ich vergeß Dich nimmer, ich kann von Dir nicht lassen!“ – da war auch er weich geworden, und ihre Thränen flossen zusammen.

„Schreibst mir?“ fragte sie endlich.

„Wenn Du es willst, lieb Riekchen!“

„Es ist mein einzig Glück!“

Und nach einer ganzen Weile: „Heinrich, bleibst Du mir treu?“

„Ich – ich wohl – – aber Du?“

„O immer, immer!“ hatte sie geschluchzt.

„Weißt was, Riekchen – ich glaub’s nicht, Du bist zu fein und lieb dazu.“

„Heinrich, so wahr mir Gott helfe, ich seh’ keinen anderen an, ich wart’ auf Dich und würd’ ich alt und grau! Und wenn Du mal in Noth bist, gelt, Du sagst’s mir, und wenn Du die Sterne vom Himmel verlangst, ich hol’ sie Dir; und wenn ich wüßt’, es wär’ Dein Glück, so lief ich mit Dir heut abend, ohne Gram und Scham – aber –“

„Aber?“

[615] „Sie sagen, es sei Dein Unglück wie meines!“

„Meines? Das wär’ gleich!“

„Aber Du sollst glücklich sein! Ich will mich nicht an Dich hängen wie eine Klette – Deine Kunst will Freiheit ... geh’ – aber denk an mich, vergiß mich nicht!“.

„Hör’ auf zu weinen,“ hatte er nach einer Weile getröstet, „Italien ist nicht aus der Welt –“

„Ach, Heinrich, viel zu weit für die Lieb’! Und die Mädchen dort – sie sind arg schön, hab’ ich gelesen.“

Und dann hatten sie beide unter Thränen gelacht und sich wieder geküßt. „Laß die Mädchen – so schön wie Du ist keine!“

Und noch einmal wurde es von Mund zu Munde gesprochen: „Leb’ wohl! Ich bleib’ Dir treu!“ 0 „Komm’ wieder – ich warte Dein – Leb’ wohl! Behüt’ Dich Gott!“ –

Sie meinte noch jetzt, nach langen Jahren, das Plätschern der Ruder zu hören, den letzten Ruf vom Wasser herüber: „Leb’ wohl, mein goldenes Lieb!“

Ach, und dann! Dumpf, öde hatten die Tage sich fortgesponnen. Sie hätte es heut nicht sagen können, ob sie gewacht oder geträumt während all der Zeit. Einzelnes hob sich aus grauem Einerlei heraus, das waren seine Briefe; wie leuchtende Sterne am nächtlichen Himmel hatten sie in ihr Leben gestrahlt. Dann kam ein Freier – sie schlug ihn aus; noch einer – sie wollte ihn nicht; der Vater ward ärgerlich ob des abermaligen: „Ich heirath’ nicht!“

„Sie kann den windigen Maler nicht vergessen,“ erklärte die Schwester. Und als Riekchen einst nicht daheim war, stöberte die Mutter ihre Briefmappe durch, fand Heinrichs Adresse, und der Vater schrieb einen höchst nachdrücklichen Brief, des Inhalts, daß er sich nunmehr das läppische Geschreibsel verbitte, denn das Mädchen beginne vernünftig zu werden und an eine passende Partie zu denken.

Riekchen ahnte nichts; sie litt nur unter dem Schweigen des Geliebten unsagbar. Endlich, an einem Weihnachtsabend, ward sie krank. Drunten feierte man just die Verlobung der Schwester mit Herrn Referendar Roettger; sie phantasierte von ihm in der stillen Krankenstube, und immer klang die Frage an das Ohr der Wärterin. „Gelt, hast mich vergessen, Lieber? Da drunten sind die Mädchen schöner, ach, soviel schöner!“

Als sie wieder genesen war, wurde Minnas Hochzeit gefeiert. In der Kirche brach Riekchen ohnmächtig zusammen, sie war noch nicht kräftig genug. Aber sie meinten doch alle, sie habe wunderschön ausgesehen mit ihrem Lockenköpfchen und den weißen Blüthen im Haar. Dasselbe meinte auch der Hauptmann Erbenstein, aber sie fand, daß ihn das wenig interessieren könne – und der Hauptmann mußte sich trösten.

Und weiter zogen die Jahre. Erst starb der Vater, dann die Mutter; und die Sterbende hatte nach ihrer Hand gefaßt: „Du hast nicht glücklich sein wollen, Kind – wie mich das schmerzt!“

Und das Mädchen hatte fast heiter erwidert: „Gewollt, lieb’ Mütterchen, hab’ ich’s wohl, aber nimmer – –“

„Dürfen“ wollte sie sagen, doch mochte sie der Sterbenden keinen Vorwurf mit ins Grab geben; und so hatte sie sich denn begnügt, hinzuzusetzen: „aber ich hab’s nicht recht verstanden, hab’ kein Talent dazu.“

Nun war sie allein in dem großen Hause, das ihr vermacht worden war. Die Schwester kam zwar ab und zu, sie brachte auch ein Kind mit, einen prächtigen braunlockigen Buben, der es verstand, mit seinem hellen Kinderlachen sich der Einsamen ins Herz zu schmeicheln. Er war mehr und lieber bei der Tante denn daheim, und als der Tod eine unglückliche Ehe löste, kam der kleine Friedrich ganz ins Tantenhaus, sammt seiner Mutter, die wieder in die heimathlichen Räume flüchtete. Sie nahm das Anerbieten der Schwester, die Parterrewohnung zu beziehen, nur allzugern an, denn sie befand sich angeblich in bedrängten Verhältnissen; der Verstorbene hätte das meiste ihres recht netten Vermögens „verlumpt“ – wie sie sich verächtlich ausdrückte. In Wahrheit aber besaß sie noch alles, sogar noch mehr, denn sie war äußerst genau und sparsam gewesen.

Nun, Riekchen half ja. Sie hatte für weiter nichts zu sorgen, und der Bub’ stand ihr auf der ganzen Welt am nächsten; wozu sollte die alte Jungfer auch sonst ihr Geld gebrauchen! Tante Riekchen sah sich zu der zweifelhaften Würde einer Erbtante erhoben, und Frau Minna vertrug sich mit ihr, so gut es ihr zänkisches rechthaberisches Naturell zuließ. Verstehen konnten sie sich nicht, es war auch nicht nöthig. Mochte Frau Minna dort unten immerhin ihre Kaffeegesellschaften geben und ihre endlosen Bettdecken häkeln und stricken, hier oben, da lebte etwas Besseres, da sprachen die alten Erinnerungen in einsamen Dämmerstunden, da stand noch allezeit eine Skizze auf der Staffelei, da kehrten Bücher und Journale ein, da klangen aud dem Flügel Beethovens und Schumanns herrliche Melodien und – da saß der Bub’ und ließ sich Geschichten erzählen von alten Zeiten, oder lernte sein Latein oder spielte auf seiner kleinen Violine.

So war es allmählich still in ihr geworden. Wenn aber die Schwester einmal taktloserweise die alte Wunde berührte, kam der Schmerz heiß und bitter wie nur je. Und wissen wollte sie immer, was aus ihm geworden sei – ob er verdorben und gestorben, ob er zurückgekehrt sei nach Deutschland, glücklich und behaglich lebe, ober ob er dort geblieben sei, ein Weib genommen und der alten Liebe vergessen habe.

Nie war eine Kunde gekommen, nie – bis heute. Da kam eine – aber welche!

Sie stand plötzlich auf wie jemand, der einen rascheu Entschluß gefaßt hat, zündete Licht an, holte einen dunklen altmodischen Mantel und eine Kapuze aus der Nebenstube, und den Brief in der Hand tragend, verließ sie das Zimmer. Unten ging sie zuerst in die Küche, hieß die Magd eine Laterne anzünden und sich bereit machen, sie zu begleiten, dann klopfte sie an die Thür der Schwester.

„Herein!“ Frau Minna saß am runden Tische bei der Lampe und häkelte; der Sohn las.

„Jesus, wie siehst Du aus!“ schrie die Räthin ganz entsetzt in das blasse Antlitz der Schwester blickend. „Was ist Dir? Sag’s doch endlich!“

„Ich hab’ eine Nachricht von – –“ der Name wollte nicht über die blassen Lippen, „aus Italien –“

„Gott soll mich schützen! Er kommt doch nicht etwa zurück? Oder sollst Du gar hin? Grundgütiger, die Geschicht’ ist aber dauerhaft!“

Tante Riekchen stand hoch aufgerichtet und antwortete nicht.

„Nun, er will Dich wohl noch? Ist nun wohl endlich so weit, daß er eine Frau ernähren kann?“

„Er ist tot,“ antwortete Fräulein Riekchen.

Frau Minna schrak doch einen Augenblick zusammen vor dem verhaltenen Schmerzensruf der Schwester. Sie wollte etwas sagen aber es fiel ihr nichts ein, sie sah nur mit einem nicht sehr klugen Gesicht der Frauengestalt nach, die aus der Thür schritt. Gleich darauf rasselte unten die Schelle, und Tante Riekchen hatte das Haus verlassen.

„Wo will Tante hin?“ forschte der Sohn.

„Was weiß ich! Wird wohl einen Kranz bestellen wollen – aber den kann sie ja gar nicht schicken, so weit – Gott mag wissen, was sie vor hat. Ich bin nur froh, daß da endlich ’mal ein Ende wird.“

„War das Tante Riekchens Bräutigam?“

„Ja, so was war’s. Aber lerne nur; sie kommt schon wieder. Wenn ihr irgend etwas quer geht, läuft sie hinaus, und wenn’s Spitzbuben regnet. Hat sie sich dann ausgetobt, so fällt’s ihr schon wieder ein, wo sie wohnt.“

Fritz senkte den Kopf gehorsam über sein Buch, jedoch lernen konnte er nicht. Er hatte die Tante aufrichtig lieb; er fand bei ihr Ersatz für die Prosa, mit der die Mutter sich umgab, und daß sie ein Leid erdulden mußte, machte ihn selbst ganz traurig und unruhig.

„Wenn ich nur wüßte, wo sie hin ist,“ wagte er nach einem Weilchen zu sagen.

„Lern’ doch!“ – –

Indessen war Fräulein Riekchen Trautmann im Sturm und Schneetreiben durch ein paar finstere Straßen geschritten und in ein hochgiebliges Haus getreten, hinter dessen Läden im Unterstock ein Licht schimmerte.

„Ist der Herr zu Hause?“

„Jawohl!“ antwortete ein alter Mann, der in einer Art Livree steckte, „just raucht er seine Pfeife, und die Frau Doktor setzen das Schachbrett zurecht.“

„Fragen Sie, ob ich einen Augenblick stören darf!“

[618] „Na, aber allemal! Was ist da zu fragen? Sie kann ich immer anmelden, Fräulein Riekchen.“ Und ohne an die Stubenthür zu gehen, brüllte er mit wahrer Donnerstimme: „Frau Doktor, Trautmanns Riekchen ist da!“ Dann öffnete er eine Thür, und ein lachendes, noch recht schmuckes Frauenantlitz erschien in dem Rahmen.

„Immer herein, lieb Riekchen, mein Alter sieht schon wie eitel Sonnenschein aus!“ Und den Gast über die Schwelle ziehend, rief sie: „So! Und nun den Mantel herunter und die Kapuze. Das war ein gescheiter Gedanke! Nimmst doch ein Gläschen Wein? Alter, ich hole von dem Eberbacher, – und nun unterhaltet Euch gut derweil, ich seh’ es Euch ja an der Nase an, Ihr habt Heimlichkeiten! – Na, eifersüchtig bin ich nicht, obgleich sich’s schon noch verlohnte!“ rief sie zurück.

„Plappermühle!“ sagte lächelnd ein hochgewachsener ältlicher Herr, dem man den Arzt auf den ersten Blick ansah. Und er hatte die Hand seines Gastes ergriffen und nöthigte Riekchen neben sich auf das altmodische Sofa. „Nun? womit kann ich dienen? Giebt’s wieder ’mal Aerger mit Frau Minna? Oder rebelliert das Herz wieder bei Ihnen? Sie sehen recht blaß aus, Fräulein Riekchen – nicht soviel sitzen, gehen Sie doch mehr spazieren –“

„Ich komme nicht um meine Gesundheit, lieber Doktor, ich möcht’ einen anderen Rath, möcht’ Ihre Vermittlung bei Ihrem Bruder – – nicht wahr, er ist noch in Florenz?“

„Ja – wenigstens vor vier Wochen war er noch dort.“

„Ich hätt’ eine große Bitte an ihn.“

„Die er Ihnen sicher gern erfüllen wird.“

„Selbstverständlich sollen ihm keinerlei pekuniäre Verpflichtungen erwachsen, dafür sorge ich; ich würde ihn nur bitten, nach Rom zu reisen, dort eine Frau aufzusuchen, bei ihr einen Jungen abzuholen und diesen dann über die Alpen nach Basel zu geleiten, wo ich ihn in Empfang nehmen will.“

„Herrje! Das klingt ja ganz geheimnißvoll!“

„Es ist keinerlei Geheimniß dabei,“ sagte sie matt lächelnd. „Dieser Bub’ ist der Sohn eines Jugendfreundes, der vor kurzem starb. In einem Briefe, den er zwei Tage vor seinem Tode schrieb und den mir ein Kollege von ihm seinem Willen gemäß übermittelt hat, bittet er mich, ich solle mich seines Knaben annehmen und ihn nach Deutschland holen.“

„Wie heißt das Kind?“

Sie faßte sich an die Kehle, als würge sie etwas. „Friedrich Adami,“ kam es stockend heraus.

„Ach so – Verzeihung, Riekchen, ich kenne den Namen – ich – ich habe selbst einst –“

„Darunter gelitten“ wollte er sagen, verstummte aber und blickte still das edle, reine Gesicht des Mädchens an, das er einst heiß begehrt hatte und von dem er abgewiesen worden war um jenes Fremden willen.

„Sie wollen sich also des Kindes annehmen?“

„Ja, lieber Doktor!“

„Wie alt ist es denn?“

„Dreizehn Jahre, ungefähr so alt wie der Fritz Roettger.“

„Wissen Sie, was Sie sich damit aufbürden?“

„Vollkommen!“

„So will ich an Oskar schreiben. Er dürfte, so wie ich ihn kenne, mit Wonne bereit sein, eine Tour nach Rom zu machen. Ihre Börse wird er dabei nicht zurückweisen mögen oder können – weiß der liebe Himmel, Geld ist auch heute noch trotz seiner sechsunddreißig Jahre das wenigste bei ihm –“

„Und in Basel oder Zürich, oder wo er will, nehme ich ihm den Knaben ab.“

„Ich mein’, Riekchen, wenn er schon so weit ist, wird er sich auch gern ’mal wieder die alte Heimath anschauen und dazu soll ein Zuschuß von mir ihm verhelfen.“

„Das wär’ noch schöner! Sie wissen, lieber Doktor, ich bin all mein Lebtag nicht aus unserem Neste hinausgekommen. Aber hier ist nun die Adresse: Signora Adami, Piazza de’ Cappucini 16.“

„Danke!“ sagte der alte Herr und schrieb sich die Namen auf.

Die Frau Doktor trat mit Römern und Flasche herein, als Riekchen sich schon wieder zum Fortgehen anschickte. „Nichts da!“ rief sie, „erst wird getrunken! Soll ich umsonst in den Keller gestiegen sein?“ Und sie drängte der Eiligen ein Glas auf.

„Nun denn, Fräulein Riekchen, lassen Sie uns anstoßen auf alles Glück zu Ihrem menschenfreundlichen Vorhaben!“ sagte Doktor Kortum.

„Himmel, was ist denn los?“ rief die kleine niedliche Frau mit den schwarzen blitzenden Augen.

„Sie will ein Kind adoptieren.“

Die Frau Doktor schlug die Hände uber dem Kopfe zusammen. „Du mein!“ rief sie, „geh’, sei gescheit – ’s ist nicht wahr!“

„Doch, Frau! Mach’ doch nicht so thörichte Augen!“

„Aber die Verantwortlichkeit! Da nähme ich doch lieber ein Mopperl oder ein paar Kanar – – “

„Schweig’, Frau, sie thut ein gutes Werk! Aber – was wird Frau Minna sagen?“

„Eben will ich es ihr noch mittheilen,“ erwiderte Riekchen etwas verzagt.

„Was die Minna sagen wird?“ rief Frau Doktor. „Aussehen wird sie wie unser Kater, der Peter, wenn ich ihm die Milchschüssel wegnehme – – O du liebe Zeit, ich wär’ nicht so kühn, ihr das zu vermelden!“

„Es ist auch schwer,“ sagte leise das blasse Mädchen und ihre Augen blickten ganz starr. „Lebt wohl; sie wartet auf mich!“

Nach einer knappen Viertelstunde war sie wieder daheim und trat in die Wohnstube. Frau Minna aß eben einen Bratapfel, Fritz blätterte gelangweilt in seinem Briefmarkenalbum.

„Ach wie gut, daß Du kommst, Tante,“ rief er, „da können wir droben noch das Kapitel vom Lederstrumpf weiterlesen!“

Sie legte plötzlich die Hand auf seinen Kopf. „Fritz, sieh mich ’mal an – Du erhältst einen Kameraden ins Haus; ich bekomme Besuch, langen Besuch von einem Burschen in Deinem Alter – freust Du Dich?“

„Famos!“ schrie der Junge, „Du bist famos, Tante!“

„Was ist das für Unsinn?“ fragte Frau Minna.

„Adamis Sohn kommt zu mir ins Haus,“ klärte Riekchen sie auf, scheinbar ruhig, aber ihre Brust hob und senkte sich stürmisch.

„Auf Besuch?“

„Nein – vorläufig – für immer, Minna.“

Die Frau auf dem Sofa hatte sich verfärbt. „Das heißt – das heißt – daß Du –?“

„Daß ich für ihn sorgen werde!“

„Daß Du verrückt bist, heißt’s!“ rief Frau Minna. Und als die Schwester mit einem ruhigen „Gute Nacht!“ allen weiteren Erörterungen aus dem Wege ging, brach die Frau auf dem Sofa in ein nervöses Lachen aus. „So!“ rief sie und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, „so! Nun ist’s vollkommen, nun wische Dir den Mund, Du armer Schlucker, Du!“

„Aber – Mutter –“ wollte der Knabe beruhigen, doch sie stieß ihn zurück, flüchtete in ihr Schlafzimmer, und dort stöhnte sie, als sei ihr das schwerste Unglück widerfahren, indes der Junge sich die rosigsten Zukunftsbilder an der Seite seines Kameraden ausmalte.

Und Tante Riekchen saß droben und las noch einmal einen langen Brief, dessen zittrige Schriftzüge die Hand eines Schwerleidenden verriethen. – –

„Der Gedauke, daß Du meine Bitte erfüllen wirst, erleichtert mir das Sterben. Ich bitte mit keinerlei Recht, ich weiß es, aber ich weiß auch, daß Du mich nicht vergessen hast. Zu spät erfuhr ich es, daß Dein Vater mir die Unwahrheit schrieb, indem er mir mittheilte, daß Du glücklich seiest an der Seite eines anderen.

Es ist herb gesündigt worden an uns beiden, armes Kind! Doch wir sind wohl nicht die einzigen in der Welt, denen so geschehen ist, nicht die einzigen, die erfahren haben, was es heißt, entsagen zu müssen. – Ich habe einen Sohn, Friederike, ich liebe ihn unbeschreiblich; so lange ich lebe, ist er geborgen, aber – dann? – Seine Mutter – – ich darf keine Anklage schreiben – –. Nimm Dich des Kindes an, gieb ihm etwas Liebe, etwas Sonnenschein! Gott segne es Dir! Er soll Dich [619] ehren wie Dein eigen Kind – gieb ihm Güte und Geduld, gieb ihm Liebe!

Als ich vor langen Jahren den oben erwähnten Brief Deines Vaters erhielt, da ging es mir, wie es ein deutsches Lied ausdrückt: ‚Mir war’s, als sei verschwunden die Sonn’ am hellen Tag –‘ Ich könnt’ es heute nicht beschreiben, wie ich jene Zeit ertrug. Mein Schaffen, mein Wollen schien gelähmt, gänzlich gelähmt.

Die Tochter meiner Wirthin war es, die mich vor dem Aergsten bewahrte, um – mich noch Aergeres erleben zu lassen. Ich verdiente nichts mehr, ich kam aus den Schenken kaum noch heim, ich verdarb es mit den Familien, die mir zuredeten, mich aufzuraffen; ich war am Rande des Abgrundes angelangt. Die Wirthin, meine nachherige Schwiegermutter, eröffnete mir eines Tages, daß sie mich nicht länger im Hause dulden wolle, dafern ich nicht sofort die rückständige Miethe bezahlte – ich lachte und wies ihr die leeren Taschen. Sie begann darauf in der kreischenden Weise ihres Volkes zu zetern mit Polizei zu drohen – und ihre Tochter stand blaß und wortlos an der Thür. Als die Alte endlich das Zimmer verließ, riß sie das Mädchen mit sich hinaus, und draußen begann ein Streit zwischen den beiden Frauen, während ich ein paar Sächelchen zusammensuchte, die das Leihhaus noch nicht verschlungen hatte.

Die volle tiefe Stimme des Mädchens blieb endlich Siegerin; es ward still in dem kleinen Hause –

Ach, Friederike, es wird mir schwer, Dir dies zu schreiben, aber ich meine, Du hast ein Recht darauf, zu wissen, wie ich mein Weib gewann. Es war der Abend dieses Tages gekommen, ich hatte just mein letztes Werthstück in der Hand und war im Begriff, dasselbe als einzige Bezahlung der ehrenwerthen Donna Marchi zu geben und dann das Haus auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Da klopfte es leise und Julia huschte in das Zimmer.

‚Signor Federigo,‘ flüsterte sie, ‚Ihr braucht nicht auszuziehen – behaltet Euer studio, die Mutter läßt es Euch, Ihr werdet kein böses Wort mehr hören.‘

‚Wie kommt denn das?‘ fragte ich gleichgültig; mir war es wirklich einerlei, ob ich ging oder blieb.

‚Ich habe –‘ sie stockte und sah mich durch die Dämmerung an mit den dunklen Augen, die in Thränen schimmerten. – Sie war ein kleines zierliches Geschöpf, ohne Spur von Farbe in dem gelblich bleichen Antlitz. Ich hatte sie kaum beachtet, wenn sie an ihrem Webstuhl saß und seidene Fäden zu Bändern webte, wie sie es bei einer Muhme in Sorrent gelernt hatte.

‚Was haben Sie denn, Julia?‘

‚Ich bezahlte der Mutter –‘ stieß sie hervor, ‚ich habe mir heimlich gespart von dem, was ich verdiene, aber sie darf es nicht wissen, Signor, sie schlüge mich sonst tot.‘

‚Das nehme ich nicht an, Julia,‘ sagte ich kurz. ‚Du bist ein gutes Kind, doch – das ist unmöglich! Geh, rufe die Mutter!‘

Da fiel mir das Mädchen zu Füßen und begann zu weinen, bitterlich und leidenschaftlich, und dazwischen kamen einzelne Worte hervor – ich solle nicht gehen, ich solle sie nicht verlassen, ohne mich wolle sie nicht leben, denn – sie liebe mich. Sie müsse es bekennen, es sei nun einmal so, und sie werde ersticken, wenn sie es nicht hinausschreien dürfe. Und wenn ich gehe, so laufe sie mir nach, und keinen Ton wolle sie sagen, wenn ich sie auch schelten und treten würde. – – Da hob ich sie auf und zog sie an mein Herz und dachte, daß Du mich verlassen habest, und daß dieses arme Kind des Volkes hoch über der Frau stehe, die mir die vielgerühmte deutsche Treue brach. Und nach ein paar Tagen ward sie mein Weib und saß nach wie vor an ihrem Webstuhl, während meine Schwiegermutter für vornehme Herrschaften wusch und ich fleißig genöthigt wurde, ebenfalls zu schaffen, denn die Zeiten seien schlecht und man wolle doch zuweilen Sonntags und Festtags an meinem Arme sich zeigen im Theater oder in einem Café.

Das Elend, das moralische Elend blieb nicht aus. Anfangs, nach der Geburt meines Jungen, kam noch einmal ein Aufleuchten, aber dann – – Ich habe mich, das Kind im Arme, anfangs tapfer gewehrt gegen den Einfluß der Unbildung und Niedrigkeit, ich habe den Knaben vom ersten erwachenden Verständniß an in meinem Atelier, unter meinen Augen gehabt, ich habe gearbeitet, bis mir die Krankheit Pinsel und Palette aus der Hand riß und die überhandnehmende Schwäche es nicht mehr verhindern konnte, daß mein Liebling das dumpfe Krankenzimmer floh und sich auf der Gasse in Gesellschaft umhertrieb, die seiner nicht würdig war. – Meine Frau arbeitete doppelt emsig; die Wiege mit einem zweiten Kinde stand neben ihr. Sie war in dem letzten Jahre viel in meiner Stube, mir zur Qual – Gott helfe mir – denn jedes ihrer Worte war ein Stachel, eine Anklage gegen den jämmerlichen Mann, an den sie ihr Herz gehängt.

Und dann erfuhr ich, daß Du mir treu geblieben bist! Das war das Schwerste, und doch so schön. – Habe Dank, Friederike! – Noch einmal bitte ich Dich, gieb dem Kinde Deine edle Gesinnung, Dein vornehmes Denken, Deine Treue! – Leb’ wohl, und verzeihe mir! Ich habe Dich nie vergessen!“

Friederike Trautmann saß noch lange, den Brief in der Hand. Das Licht war heruntergebrannt und erloschen – sie merkte es nicht. Eine nie gekannte peinigende Bitterkeit hatte ihr Herz gepackt.

„O, Ihr!“ flüsterte sie und streckte die Hand aus gegen das Bild der Eltern, „hattet Ihr denn das Recht, uns zwei elend zu machen?“ Und je mehr sie darüber nachsann, um so größer ward ihre Sehnsucht nach dem Kinde des geliebten Mannes. Alles, alles, was er von ihr verlangte für seinen Sohn, würde sie diesem geben, mehr noch, viel mehr! Wie ein Verschmachtender trinkt, so sog sie die Vorstellung jener Minute ein, in der sie die Arme ausbreiten würde, um dieses Kind ans Herz zu nehmen.

Wollte Gott, es stünde erst neben ihr!




Und der Tag nahte sich; die Zeit war langsam, aber sie war vergangen. Die Vorbereitungen hatten der angehenden Pflegemutter viel heimliche Freuden, die Sticheleien der Schwester, das bekümmerte Aussehen des Neffen, der von der Mutter allmählich überzeugt worden war, daß ihm durch das Erscheinen des „fremden Bengels“ bitter Unrecht geschehe, viel offenbare Kränkungen gebracht. Aber sie ging doch unbeirrt ihren Weg. Zwei Tage vorher war denn alles in schönster Ordnung, wenigstens im Obergeschoß des alten Hauses, das sein spitzes Giebeldach trug wie eine verhältnißmäßig viel zu hohe Kopfbedeckung, und dessen zahllose Bodenluken verschlafenen Augen glichen. Nun ächzte die alte rostige Wetterfahne im Westwind, der über den Rhein daher brauste, und in den Straßen des winzigen Städtchens tobte die liebe Jugend in allerhand billigen Verkleidungen einher, denn es war der Rosenmontag, und wenigstens die kleinen Leute wollten ihren festlichen Umzug haben wie die großen dort unten im heiligen Köln und oben im goldenen Mainz.

Fritz Roettger stürmte auch die Treppe hinauf in Tante Riekchens Zimmer, obgleich ihn die Mutter gewarnt hatte, daß besagte Tante ja doch keine Augen mehr für ihn haben würde.

Sie hatte recht gehabt, die Mutter. Tante Riekchen saß stumm und bleich im Sofa, und vor ihr stand der Onkel Doktor mit einem Briefe in der Hand und schien so halbwegs ihre Fassungslosigkeit zu theilen, denn er kratzte sich bedenklich hinter den Ohren. Fritz hörte darch seine schwarze Pferdehaar-Perücke, mittels welcher er sich zu einem „Radidimausidifallenjungen“ umgeschaffen hatte, noch deutlich, wie er sagte. „Ja, das ist nun nicht anders, mein liebes Fräulein Riekchen; bedenken Sie, daß es so das Nächstliegende war. Hier haben Sie das Schreiben. Vorläufig ist nichts daran zu ändern, und später – kann ja dann Rath werden. Gezwungen – – Was stehst Du denn hier und gaffst, dummer Bub’,“ herrschte er den Knaben an, der mit offenem Munde lauschte. „Lauf ’nunter, ich hör’ schon die Musik.“ Und als der Verdutzte verschwunden war, fuhr der Doktor fort. „Gezwungen werden, das zweite auch noch als Pflegekind anzunehmen, können Sie nicht. Ich bitte Sie, der Adami muß doch hier in Deutschland herum noch Verwandte haben, deren Pflicht und Schuldigkeit es ist, für die Kinder zu sorgen?“

„Keine hat er, lieber Doktor!“

„Na, das wird sich alles finden. Mein Bruder war aber in ganz verwünschter Lage; stellen Sie sich nur vor – wie schreibt er denn?“ Und er begann zu lesen:

[620] „Ich kann Dir nicht sagen, wie es aussah dort in dem kleinen Hause nahe der Kapuzinerkirche. Das verstaubte öde Atelier, mitten darin die Bahre der jungen Frau, die, wie man mir sagte, sich bei der Pflege des schwindsüchtigen Gatten angesteckt hatte, um in unglaublich kurzer Zeit derselben furchtbaren Krankheit zu erliegen; dazu eine alte halb blödsinnige Person, die Mutter der Verstorbenen, die ein wahres Zetergeschrei erhob über die Last, die sie auch noch mit einem Kinde haben müsse, einem ganz abscheulich boshaften Kinde. Den Aeltesten würde sie gleich behalten, wenn ich nur die da mitnehmen wollte, und sie wies nach einer Ecke, in der ein kleines Mädchen hockte, ein armseliges mageres Ding mit großen ausdruckslosen Augen, dem Schelte und Schläge gar nicht mehr weh zu thun schienen, vermuthlich, weil es schon vom ersten Tage an daran gewöhnt worden war.

Ich machte der widerwärtigen Scene ein Ende, indem ich erklärte, beide Kinder mitnehmen zu wollen. Es ist eigenmächtig und leichtsinnig, ich gestehe es, aber das Herz drehte sich mir im Leibe um beim Anblick des kleinen jammervollen Geschöpfes, und ich denke, so völlig wird ja doch Edelsinn und Großmuth noch nicht aus der Welt geschieden sein, daß so ein armes Dingel verkommen müßte. Wäre ich ein anderer, lieber Bruder, ich behielt es selbst – aber so –“

„Behalte ich es,“ unterbrach die Stimme Riekchens den Lesenden, „es muß auch gehen. Die Freudigkeit zu diesem Schritte wird sich noch finden,“ setzte sie hinzu. „bis jetzt geschieht es nur unter dem Einfluß der Nothwendigkeit.“ Und sie drückte dem alten Freunde die Hand, klingelte ihrer Magd und begann mit neuem Rumoren im Hause, just über der Schlafstube der Frau Räthin, die sich gerade das schwarze Häubchen aus Wollspitzen auf den Scheitel setzte. Schwarze Wollspitzen schienen ihr das praktischste, sie kosteten keine Wäsche und waren haltbar.

„Luischen!“ rief sie in die Stube, wo das Mädchen den Ofen schürte, „was ist denn da oben wieder los?“

Und Luischen ging auf Kundschaft und kam mit schreckensbleichem Gesicht zurück. „Um Gotteswillen, Frau Räthin, das Fräulein richtet ein zweites Bettchen auf, ein kleines; vom obersten Boden hat sie’s herunterschaffen und neben ihrer Schlafstube aufstellen lassen, und das Käthchen sagt, es kämen nicht eines, sondern zwei Kinder.“

„Gott erbarme sich!“ rief die entsetzte Frau, „was fällt ihr ein? Unser Haus ist doch keine Kinderbewahranstalt!“ Und sie lief spornstreich’s die breite Eichentreppe hinauf und trat in die geöffnete Thür eines kleinen einfenstrigen, alkovenartigen Raumes, der dem verstorbenen Vater, dem Justizamtmann, als Aktenkammer gedient hatte. Dort stand jetzt ein schmales Gitterbettchen, darin einst beide Schwestern ihre Kinderträume verträumt hatten und in welches Fräulein Riekchen eben ein Kopfkissen als Deckbettchen legte.

„Na, ich hab’s nicht glauben wollen – jetzt seh’ ich’s,“ sagte die Frau Räthin tonlos.

„Ich kann’s selber schwer glauben,“ antwortete die Schwester und nahm eine alte Zitzgardine vom Tische, um sie prüfend gegen das Fensterlein zu halten.

„Nun, wenigstens scheinst Du Dich einfacher einrichten zu wollen bei diesem neuen Zuwachs,“ kam es von den zitternden Lippen der Frau Minna, „oder wird da auch neu tapeziert und gestrichen, und werden zu Dutzenden die theuersten Spielsachen aufgebaut wie drüben bei dem Prinzen?“ Und sie deutete mit der Hand nach der gegenüberliegenden Thüre über der ein höchst einfaches, von Tannenzweigen umrahmtes „Gott segne Deinen Eingang!“ prangte.

Riekchen antwortete nicht und begann, das rothgetüpfelte Stückchen Zeug an ein Gardinenbrett zu heften. Was sollte sie auch sagen? Jedes Wort hätte den Sturm entfesselt, der schon lange in der Luft dieses Hauses lag, und sie wollte Frieden, Frieden um der Kinder willen.

Die erregte Frau bezwang sich endlich angesichts dieser Gelassenheit, sie that nur einen tiefen Seufzer und sagte: „Wüßten’s der Vater und die Mutter, im Grabe drehten sie sich um, nicht einmal, sondern zweimal!“ Damit ging sie, um sich drunten ihr Schwarzseidenes überzuwerfen, denn sie war zu einem Kaffee gebeten bei Frau Kammerräthin Gerbach, woselbst sich auch die sämmtlichen, möglich und unmöglich aufgeputzten Kinder versammelten, um sich bei Punsch und Kuchen gütlich zu thun. Dort saß sie und erzählte mit gen Himmel gerichteten Augen, daß es doch ein wahres Kreuz um eine alte Jungfer sei. Schrullen habe das Riekchen, höher als ein Haus, aber sie, sie wasche ihre Hände in Unschuld. Drunter und drüber werde es ja gehen. „Na, Ihr werdet sehen, Kinder, denkt an mich!“




Aschermittwoch, und alles übernächtig, traurig und still; die Alten mit Kopfweh, die Kinder mit Magenbeschwerden, und dazu ein ganz abscheulicher Ostwind, der selbst durch die Fensterritzen sein Opfer sucht mit Halsschmerzen unb Schnupfen.

Frau Räthin hatte große Wäsche angesetzt; was gingen sie denn die Empfangsfeierlichkeiten da droben an? Der feuchte Dunst der Waschküche fand seinen Weg bis in den großen, mit uralten nachgedunkelten Porträts geschmückten Flur und verwischte sich mit dem Duft des frischgebackenen Kuchens, der von oben aus der neu eingerichteten Küche des Fräuleins herabdrang. Denn die Frau Räthin hatte erklärt, fortan sei es besser, jede Familie führe ihre eigene Wirthschaft.

Die Frau Räthin that sich viel darauf zugute, ihre Meinung „ehrlich“ heraus zu sagen. Daß dieser sonst recht lobenswerthe Grundsatz in einer Art Anwendung fand, die verletzend wirken mußte, fühlte sie nicht; bei ihr war Grobheit und Wahrheit gleichbedeutend. Ihr Wahlspruch lautete: „Ich kann mich nicht verstellen. Wem’s nicht paßt, wie ich bin, der soll mir vom Leibe bleiben. So ein zimperliches, rücksichtsvolles Gethue, wie es das Riekchen an sich hat, ist mir schrecklich, das ist nicht Fisch noch Vogel, nicht lau und nicht warm, basta!“

„Du gehst in die Wohnstube, dummer Bub’, und hast nicht etwa Maulaffen feil, wenn die fremden Kinder kommen!“ fuhr sie den Sohn an.

Fritz verzog sein Gesicht, denn er hatte schon die Einladung der Tante, das Mittagsbrot bei ihr zu essen, abschlagen müssen; aber gegen den Willen der Mutter gab es kein Auflehnen. Er begnügte sich, den Lauscherposten am Fenster einzunehmen und so gespannt die Mauerpforte im Auge zu behalten, als stehe er auf dem Anstand.

Droben saß auch jemand am Fenster und wartete.

Es war ein mittelgroßes behagliches Zimmer mit Wandtäfelung und dunklem Balkenwerk. In der Mitte des Raumes unter einer Hängelampe stand ein alter massiver Eichentisch; an der Wand neben dem Ofen aus Backsteinen, um den eine hölzerne Bank lief, hing ein leeres Bücherregal; es sollte sich erst noch füllen. Einige Landkarten, ein paar Bilder, Darstellungen aus der römischen Geschichte, ein Schreibpult und ein Bett vervollständigten die Einrichtung. Der Tisch aber trug eine wahre Weihnachtsbescherung an Spielen, Soldaten, Büchern, alles umkränzt mit Tannenzweigen. Das war das Zimmer, welches der kleine Friedrich Adami bewohnen sollte, und man sah auf den ersten Blick, daß Hoffnung und Liebe es eingerichtet hatten.

Fräulein Riekchens Herz hörte fast auf zu schlagen, als die Glocke drunten gezogen wurde. Die alte Dora, die just zu jener Zeit im Hause gedient hatte, als Riekchen sich von ihrem heimlich Verlobten trennen mußte, und die, nun längst Witwe, auf Bitten des Fräuleins den Posten einer Wirthschafterin in dem vergrößerten Haushalt übernommen hatte, obgleich sie Stein und Bein schwur, sie könne nicht mehr so recht schaffen, – sie lief, so rasch es ihre alten Füße gestatteten, die Treppe hinunter und an die Hausthür, während ihre Herrin dort oben stand wie gelähmt und nur eines sah, einen schlanken blonden Buben, der an der Hand des Doktors über den Hof schritt.

Die Füße zitterten ihr. Wie eine steinalte Frau schleppte sie sich bis zur Stubenthür und hinaus auf den Flur, und dort lehnte sie am Treppengeländer mit vergehendem Athem. „Mein Junge,“ flüsterte sie in heftiger Bewegung, „mein herziger armer Bub’, sei willkommen!“ Und sie zog den biegsamen Körper des schlanken Burschen an sich und starrte ihm ins Gesicht, und sie preßte ihre Lippen auf den Blondkopf, und die klaren Tropfen aus ihren Augen rannen auf das krause dicke Haar, dasselbe Haar, wie der Vater es gehabt. „Friedrich heißt Du wie Dein Vater? Und bist Du gern zu mir gekommen? Ich will Dich [622] lieb haben, Friedrich – Du verstehst mich doch, Du sprichst doch deutsch?“

Er hatte sich etwas verlegen aus den Armen der fremden Frau gewunden. „Ja!“ sagte er und sah an ihr vorüber, „aber Italienisch ist schöner.“

Der Doktor lachte verlegen. „Oskar,“ rief er zurück, „kommst Du noch nicht?“

Vom Absatz der Treppe her war schon während einiger Minuten die zuredende Stimme eines Mannes gedrungen. „Ja doch! Ja doch!“ rief dieselbe Stimme jetzt, „der kleine Racker sitzt hier auf der Treppenstufe und ist nicht zu bewegen, weiter zu gehen. – Na, dann komm, Du Eigensinn,“ fuhr er fort, „ich will Dich tragen!“

Nun der Schrei eines erschreckten Kindes, und gleich darauf tauchte an der Biegung der Treppe ein Mann auf mit breitkrämpigem Kalabreserhut, der ein sonderbares kleines Wesen in den Armen trug. Es lag darin, wie man etwa ein Wickelkind trägt, den Kopf hintenüber gebeugt, die Augen halb geschlossen, einen trotzigen Zug um den Mund und die Fäustchen geballt.

„Wo kann denn die Vorstellung des kleinen Fräuleins erfolgen?“ fragte scherzend der Bildhauer, Oskar Kortum, der Bruder des Doktors; „es ist wohl am besten, ich bringe sie gleich an Ort und Stelle, sonst fängt der scheue Vogel auf der Stubenschwelle noch einmal an, mit den Flügeln zu schlagen.“

Fräulein Riekchen öffnete die Thür zu des Knaben Zimmer, und dort stellte der Künstler ein kleines Geschöpf auf zwei winzige Füßchen, ganz drollig anzusehen; aus einem sonderbar buntgestreiften Tuche, das um die Taille geknüpft war, tauchte ein blasses Gesichtchen empor, von einer Fülle dunkler krauser Haare umgeben. Regungslos stand das Persönchen da, vollständig fremdländisch anzuschauen; das einzige, was sich an ihm regte, waren die großen goldenen Ringe in den zierlichen Ohren.

„Geh zu der Dame und gieb ihr die Hand,“ sagte der Bildhauer auf Italienisch. Aber die beiden braunen Hände schlangen sich fest ineinander, das Mündchen preßte sich zusammen und zwei große dunkle Augen streiften scheu unter langen Wimpern hervor die schlanke Frau, die noch immer den Bruder mit einem Arme umschlungen hielt.

„Komm doch zu mir, Kleine,“ forderte Riekchen. Aber ihre Stimme klang anders, als sie zu dem Bruder gesprochen hatte. „Komm, mein Kind, wie heißt Du denn?“

„Julia,“ antwortete der Knabe an ihrer Stelle, „Julia, wie die Mama.“

„Komm her, Julia!“ Riekchen Trautmann sprach es ungeduldig und befehlend, über ihr Gesicht war jäh eine rothe Flamme hingeschlagen. Und als das Kind stumm zurückwich, riß sie es zu sich herüber, und vor ihm niederkniend, hielt sie es an beiden Schultern und sah ihm in das schmale blasse Gesichtchen unter dem wirren Gelock.

„Keine Spur von ihm – fremd, fremd!“ sprach ihr Herz, und jede weiche Regung schwand daraus. „Das ist ihr Kind, das Kind jener, die das Glück besaß, das doch mir gehörte von Gottes- und Rechtswegen!“ Sie fand kein Wort der Liebe für das bebende Geschöpfchen; fast heftig ließ sie es los und richtete sich empor.

„Dora,“ sagte sie zu der alten Dienerin, „thue Du ihm die warmen Tücher ab und nimm es hinüber in sein Stübchen.“ Und wieder wandte sie sich zu dem Jungen, der an dem Tische stand und mit leuchtenden Augen die Schätze betrachtete, die dort für ihn lagen.

„Es ist Dein, Friedrich – beschau es Dir, nachher wollen wir essen. Ich bitte die Herren –“ und sie schritt zur Thür, „treten Sie einstweilen, bis es zu Tische geht, in mein Wohnzimmer und lassen Sie sich danken, Herr Oskar Kortum, für den großen Dienst, den Sie mir erwiesen haben.“

Die Brüder hatten rasch einen stummen Blick gewechselt. Der Jüngere seufzte. „Die Kleine dauert mich,“ murmelte er, so daß es nur der Aeltere verstand.

„Warte doch ab!“ tröstete dieser.

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Frau Minna scharwerkte indes unten in der Küche umher; da das Mädchen bei der Wäsche half, bereitete sie heute das Essen. Die Bratendüfte aus dem oberen Stock, wo der Doktor und der „windige“ Bildhauer aus Florenz, der die „unnützen Dinger“ gebracht, mitspeisten, machten ihre Laune nicht besser. Als nun gar der Fritz in die Küche schaute und fragte, ob er denn wirklich nicht oben essen dürfe – Tante Riekchen habe ihn noch einmal einladen lassen – ward sie ganz erbost. „So lauf in Kuckucks Namen!“ rief sie und schmetterte einen Deckel so heftig auf den brodelnden Fleischtopf, daß es wie Janitscharenmusik klang. Sie lief dann ins Waschhaus, und kein Stück war ihr recht gewaschen; es gab scharfen Tadel und bittere Redensarten, und endlich setzte sie sich in der Küchenschürze auf den Sorgenstuhl am Fenster der Wohnstube und nahm sich vor, ihre leibliche Schwester wegen Verschwendung und Unzurechnungsfähigkeit unter Kuratel stellen zu lassen.

„Und gleich zwei! Gleich zwei!“ murmelte sie; „das zweite ist ganz und gar überflüssig. Eine Sünd’ und eine Schand’ ist’s – ersticken möcht’ man darob!“

Und just in diesem Augenblick erscholl über ihr ein heftiges Kinderschreien, gellend und boshaft, wie die Räthin meinte; dann die Stimme Riekchens, so laut wie sie in diesem Hause noch nie vernommen worden war, und jetzt unterschied die Lauschende auch noch Doras hohes Organ. „Na, das kann ja hübsch werden!“ sprach die Räthin vor sich hin. „Herr Gott, wenn ich bedenke, was das Riekchen für ein Gesicht machte, wenn mein Bub’ einmal schrie!“ Dann wurde es plötzlich still, aber in die Stube zur Frau Räthin kam das Luischen mit aufgestreiften Aermeln und nasser Schürze. „Haben die Frau gehört?“ fragte sie eifrig.

„Jawohl, ich bin nicht taub!“

„Ach Du mein, bin ich erschrocken! Eh’ man sich da dran gewöhnt! Die Kleine, das Mädchen, soll ein so böses Ding sein, vor Eigensinn ist’s ganz weggeblieben, sagt eben das Käthchen von droben, ganz blau ist’s geworden.“

„Du sollst Dich um Deine Wäsche kümmern!“

„Ich geh’ ja schon, Frau Räthin, aber so etwas hab’ ich noch nicht gehört, daß ein Kind wild wird, wenn’s etwas Liebes gethan bekommt. Schad’ um die neue Puppe, eben hat das Käthchen die Scherben in die Müllgrube gethan.“

Frau Räthin sah zum Fenster hinaus, und Luischen zog sich zurück; sie hörte nur noch, wie die Frau die Hände faltete und sagte. „Großer Gott, was für eine Last, was für eine Last! Was für ein unnützes Ding!“ –0

Fräulein Riekchens trauliche Schlafstube floh heute der Friede. Sie ging noch um Mitternacht auf und ab, jeder Nerv bebte ihr. Sie nahm den Wachsstock und schlich nach denn Zimmer des Knaben; der schlummerte nicht, er lag mit großen offenen Augen und starrte in die neue Umgebung.

„Schlaf, mein Bub’,“ flüsterte sie und beugte sich über ihn und strich ihm die Locken zurück, die sich genau so keck auf die weiße, schön geformte Stirn legten wie einst bei dem Vater.

„Ja, Tante!“

„Gefällt es Dir bei mir?“ forschte sie zärtlich.

„O ja! – Der Fritz und ich wollen uns morgen Kaninchen kaufen. Er sagt, wenn ich’s möchte, erlaubtest Du es.“

Sie schwieg.

„Nicht wahr, Du erlaubst es?“ fragte er und umfaßte mit beiden Armen ihren Hals und zog sie zu sich herunter.

Ihr schwebte ein „Nein!“ auf der Zunge, denn sie hatte vor kurzem erst dem Neffen diesen Wunsch abgeschlagen, aber das „Nein!“ verwandelte sich in ein „Ja!“ unter der Zärtlichkeit des Knaben. Sie war sich der Schwäche bewußt und es bangte ihr vor sich selbst.

„Nun schlafe aber auch!“

„Ja, Tante!“

Und dann ging sie auch an das Lager des kleinen Mädchens. Das Kind lag in dem weißen Bettchen, fest schlummernd, den kleinen Mund herbe heruntergezogen, die Fäustchen geschlossen. Die alte Dora schlief tief in ihren aufgethürmten Kissen. Friederike stellte das Licht auf ein Tischchen und stand mit schlaff herabhängenden Armen und gesenktem Kopfe vor diesem Kinde. Welch ein unseliger Charakter steckte in dem zerbrechlichen kleinen Ding! Ihr Herz zitterte noch bei der Erinnerung an die Scene von heute [623] mittag. Jubelnd hatte der Bub’ seine Schätze der Schwester gezeigt und das Mädchen hatte sie mit großen begehrlichen Augen angesehen, ohne sich zu rühren. Und da hatte ihr Riekchen eine Puppe hingehalten, eine sehr häßliche gewöhnliche Puppe, die Käthchen in aller Eile um ein paar Groschen aus dem nächsten Laden geholt, weil man so gar nicht an Mädchenspielzeug gedacht. Die Kleine aber griff nicht zu; sie streckte wie heute früh die Hände auf den Rücken und blickte schier verächtlich von der bunten Karikatur auf das Hänneschentheater, mit dem der Junge sich zu schaffen machte. Da nahm Riekchen ungeduldig die Puppe und drückte sie dem kleinen trotzigen Dinge gewaltsam in die Arme – und nun geschah etwas Unerwartetes. Die Hände des Kindes ergriffen die bunte Bäuerin und schmetterten sie so gewaltsam zur Erde, daß der Porzellankopf in tausend Scherben zersplitterte. Ein sprühender Blick traf die erschrockene Geberin, und das winzige Persönchen wandte ihr mit einer ganz unnachahmlich stolzen Gebärde den Rücken. Riekchen aber quoll ein unbekanntes schreckliches Gefühl heiß zum Herzen; sie faßte das Kind und führte es heftig in das Stübchen, da es schlafen sollte, und dort – wie kam es nur, daß sie so zornig werden konnte? – dort schlug sie die braunen unartigen Händchen, bis ein lautes Schreien begann, ein thränenloses entsetzliches Schreien, das ihr die Ohren gellen machte. Erst Dora hatte die kleine Gestrafte zu beruhigen vermocht.

Sie war zu hart gewesen, Riekchen gestand es sich ehrlich ein und war dennoch nicht imstande, die Hand auszustrecken, um liebkosend dieses schmale Kinderantlitz zu berühren. Und plötzlich sank sie am Bette nieder und klammerte sich weinend an die Gitterstäbchen. „Herr Gott,“ schluchzte sie, „welch eine Last, welch eine schwere Last hast Du mir auferlegt! Hilf mir – mein Herz wendet sich ab von diesem Kinde, ich kenne mich selbst nicht mehr!“

Und sie weinte, bis die Alte erwachte. „Ja, ja, sie ist ’ne Last, die Kleine da, eine schwere Last, Fräulein – aber, sehen Sie, da hilft nur Güte und Geduld.“

Und in diesem Augenblick sprach diese schwere kleine Last im Traume: „Mama mia, mia carissima Mama!“ Es klang so süß, so weich, wie wenn ein Vögelchen im Schlafe zwitschert.

Riekchen starrte in das Kindergesicht – es lächelte; wie entzückeud sah es aus!

Ja, wenn sie auch so gelächelt hatte – und wieder stürzten ihr die Thränen aus den Augen, und sie ging rasch hinaus, denn jetzt konnte sie das Kind erst recht nicht sehen.




Eine schwere Last – so dünkte allen dieses federleichte, kleine, seltsame Mädchen, das so unerwünscht und unerwartet ins Haus geschneit war, keinem schwerer als der Pflegemutter, am leichtesten noch der alten Dora. Vor der großen Gestalt der Tante flüchtete das Kind blitzgeschwind in irgend einen Winkel wie jene zierlichen Eidechsen, die sich auf einem Trümmerhaufen im heimathlichen Rom sonnen. Nichts brachte es aus seiner Gleichgültigkeit, Güte nicht und nicht die Strenge. Die Frau Räthin war geradezu entsetzt über das zigeunerhafte Geschöpf, und sie malte es ihren Freundinnen in so grellen Farben, daß diese sich wunderten, eines Tages an der Hand der alten Dora ein ganz menschlich aussehendes Wesen nach der Schule trippeln zu sehen; sie hatten gemeint, es sei mohrenschwarz und habe Wollhaar.

Wunderbarerweise hielt die Kleine in der Klasse aus, ja sie war beinahe schwer zu bewegen, nach Hause zu gehen, obgleich sie in der Schule meist starr auf ihrem Platze saß, die Augen von dem Lehrer nicht verwandte und von den Mitschülerinnen keine Notiz nahm.

Dora hauste mit ihr im kleinen Stübchen, in welchem nur grad’ Raum für die zwei Lager, ein Nähtischchen und den Schmollwinkel des Kindes war. Die Alte allein im ganzen Hause verstand es, mit dem „Julchen“ umzugehen. Freilich hatte die Kleine stets harte Ohren, wenn sie „Julchen“ genannt wurde; sie pflegte bei diesem Anruf regungslos an ihrem Platze zu verharren. Entschloß sich aber die Alte, so schmelzend es ihre rauhe Stimme fertig brachte, „Julia“ zu rufen, so gehorchte das Kind sofort.

Am wohlsten schien sich Julia zu fühlen in diesem Winkel, und wenn im Nebenzimmer, Tantes Putzstube, die Töne einer Violine erklangen, dann flog sogar ein Lächeln über das ernste kleine Antlitz und die Hände preßten sich gegeneinander wie im höchsten Entzücken während sie regungslos an der Thür lauschte.

„Du hast ihn wohl gern, den Fritz?“ forschte Dora, wenn sich das Mädchen das feine Näschen an der Fensterscheibe platt drückte und mit ernsten Augen das Spiel der wilden Jungen im Garten verfolgte. Aber eine Antwort bekam sie nicht.

„Hast Du Deinen Bruder recht lieb?“ fragte die Alte weiter.

„Nicht so sehr!“ autwortete das seltsame Kind.

„Nun, aufrichtig bist Du wenigstens, beinahe so wie die Frau Räthin – daß Gott erbarm’!“ Und Dora dachte daran, daß besagte Dame von dem fremden Eindringling nie anders sprach als von „Mamsell Unnütz“.

Zuletzt gebrauchten auch die Dienstboten diesen Namen und die beiden Jungen, die sich mächtig angefreundet hatten. Frau Räthin ließ diese Freuttdschaft zu, denn Riekchen fand ja in ihrer Affenliebe für den blonden Friedrich nicht Maß noch Ziel, war aber doch so gerecht gegen ihren Neffen, daß sie ihn vollauf an allem Guten theilnehmen ließ, das sie dem Pflegesohn gewährte.

Friedrich Adami, oder wie Tante Riekchen ihn nannte, der „Frieder“, war allmählich Herr im Hause geworden, nach ihm richtete sich alles; bedurfte es doch nur eines Blickes der blauen Knabenaugen in die der Tante, und sein Wille geschah. Er verlebte eine Jugendzeit wie im Himmel. Riekchen brachte es nicht einmal fertig, ihn zu tadeln für Unarten, für schlechte Schulzeugnisse, für Klagen seitens der Lehrer, sie fand stets eine Entschuldigung für ihn, und das Aeußerste war, daß sie ihn in ihr Zimmer kommen ließ, ihn mit Thränen im Auge bat: „Frieder, versprich mir nur, daß das nie wieder geschieht!“ Was er dann auch mit feurigster Bereitwilligkeit gelobte, um es in Zeit von einer halben StUnde zu vergessen.

Im ganzen Städtchen war der Frieder bekannt als einer der ärgsten Rangen. Der Doktor schüttelte betrübt den Kopf, wenn er abends aus dem Gasthaus „Zur Traube“ heimkehrte, wo auch die Lehrer des Gymnasiums ihren Schoppen tranken; und oft sagte er zu seiner Frau: „Es ist eben Weibererziehung, was soll daraus werden!“

„Du müßtest doch als Vormund eingreifen,“ antwortete diese dann ärgerlich. Er aber meinte, das könne und dürfe er nicht, denn noch geschehe ja nichts, was ein Einschreiten seinerseits rechtfertige.

Es war nur ein Glück, daß Tante Riekchen all die einsamen langen Jahre hindurch die Zinsen ihres Vermögens nicht verbraucht hatte und sich nun in der Lage befand, den Herrengelüsten ihres Frieder nachgeben zu können. Der Bube war eitel, er mußte alles geschniegelt und gebügelt haben. Die Räthin nannte es „Afferei“, und ihr Fritz bekam trotz allen Jammerns und Bettelns doch immer nur die gestickten Sachen für Alltags; Riekchen aber entschuldigte den Hang des Frieder für Eleganz mit dem Schönheitssinn, den er von seinem Vater, der ein Künstler gewesen, geerbt habe.

Ach, sie liebte ihn ja, den hübschen Buben, liebte ihn, wie nur ein Herz lieben kann, das jahrelang gedürstet hat, so angstvoll zärtlich, so leidenschaftlich blind, daß nichts anderes Platz fand in ihr und um sie als der Sohn des heißbetrauerten, so treu von ihr geliebten Mannes. Es war ihr eine schmerzlich süße Lust, nach Aehnlichkeiten in seinem Gesicht, nach gleichen Gesinnungen, Aeußerungen, Bewegungen zu forschen, und glückselig konnte sie den Knaben in die Arme ziehen, wenn sie etwas gefunden zu haben glaubte. Sie besaß eine kleine Büste seines Vaters; ein Freund desselben, ein junger Bildhauer, hatte sie einst modelliert; sie stand in den langen Jahren der Trennung auf einer Konsole über ihrem Nähtisch als der Einsamen größtes Heiligthum. Es gab Augenblicke, wo der Frieder diesem schönen Kopfe glich, als habe er dazu Modell gestanden – und sie liebte diese Züge, welche ihr Herz so ganz erfüllten, daß sich darin kein Raum mehr fand, die kleine verschlossene und ihrem Bruder so unähnliche „Mamsell Unnütz“ zu lieben!

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 21, S. 645–652

[645] Zwei Jahre waren die Kinder im Hause, da trat eine schlimme Wendung ein. Frieder und Fritz wurden zuerst kühler gegeneinander, dann offenbar feindlich, und eines Tages kam es zum hellen flammenden Streite, der das ganze Haus in Mitleidenschaft zog und einen so unheilbaren Riß in die Freundschaft machte, daß fortan „oben“ und „unten“ wie zwei feindliche Heerlager von einander geschieden waren, da bis auf die Dienstmädchen herab jede Partei für „ihren“ Buben eintrat.

Es war ein gewitterschwüler Tag, an dem dies geschah, ein rechter Unglückstag schon von vornherein. Fräulein Riekchen litt an Kopfschmerzen, als sie erwachte. Die alte Dora hatte ihr dann die Eröffnung gemacht, daß Mamsell Unnütz aus den vorjährigen Sommerkleidchen derartig herausgewachsen sei, daß durchaus neue angeschafft werden müßten, und Riekchen, der für Frieder nichts zu viel wurde, hatte tief geseufzt darob. Unten aber im Hausflur schalt die Räthin mit dem Gärtner, denn die Schnecken hatten auf den Gemüsebeeten die jungen Zuckerschoten zerstört, und da der Mann respektwidrig antwortete, er habe das Ungeziefer nicht erschaffen, so bekam er eine noch schärfere Gegenrede, die zur Folge hatte, daß er dieselbe noch übertrumpfte und schließlich von der erzürnten Frau mit seiner sofortigen Entlassung bedroht wurde.

Fräulein Riekchen kam ob dieses Streites erschreckt die Stiege [646] herab; ihr war Unfriede fürchterlich. Die Räthin, die just nach oben wollte, traf mit ihr auf dem Absatz der breiten Treppe zusammen und begann höchst erregt auf sie einzusprechen, daß sie es nun nachgerade satt habe, sich mit dem alten groben – – da flog die Hausthür auf und die beiden Knaben stürmten herein. Der Frau Rath blieb das Wort auf den Lippen sitzen, denn die Thür schlug donnernd wieder zu, in der nächsten Sekunde waren die Schulranzen der Jungen je in eine Ecke geschleudert und die beiden aufeinander losgefahren wie die Kampfhähne.

So rasch geschah es, daß die beiden Frauen kaum wußten, wie die erbitterten Kämpfer, die sich auf der Diele balgten und in stummer Wuth aufeinander einhieben, dorthin gekommen waren. Es herrschte einige Sekunden lang eine athemlose Stille, dann ein dumpfer Fall und die heiseren Worte des Fritz. „So, Du römischer Hund, da hast Du Deinen Lohn!“ Und Frieder lag bleich auf dem Boden, das Gesicht entstellt vor Wuth und Scham. Der andere sprang in die Ecke, ergriff den Ranzen und wollte eben in den Garten, da stand Tante Riekchen vor ihm.

„Was fällt Dir ein, Du abscheulicher Junge!" stieß sie hervor, „wie kannst Du Deine groben Fäuste gegen den Schwächeren gebrauchen! Geh’ – ich will von Dir nichts mehr wissen – nie!“

Der kräftige Junge sah sie ruhig an; noch ging sein Athem schnell, noch war er erregt. aber er vergaß keinen Augenblick, mit wem er sprach. „Du weißt ja den Grund nicht, Tante,“ sagte er, machte eine Schwenkung um sie herum und verschwand durch die Hinierthür.

Frau Rath aber gebärdete sich schier wie eine Heldenmutter. „Na, ich gönn’s dem Buben, verdient hat er schon längst einen Rücken voll!“ erklärte sie gelassen.

„Wie?“ rief jetzt Riekchen zitternd, „Du nimmst Deinen unartigen Jungen noch in Schutz – schämst Du Dich denn nicht? Vergißt Du denn ganz, wie lieb ich den Fritz immer hatte, und daß ich doch etwas Rücksicht erwarten könnte für den armen vaterlosen Buben? Strafen sollst Du Deinen Sohn, empfindlich strafen – ich bitte Dich darum.“

„Fällt mir gar nicht ein!“ erwiderte die Schwester, „strafe Du doch den Deinigen, der Fritz hat sicher keine Schuld.“

„Komm!“ wandte sich Tante Riekchen an Frieder, der sich eben aufrichtete und seinen zerrissenen Jackenärmel betrachtete, „komm! Wenn sich andere Jungen gewöhnlich betragen, so hast Du noch nicht das Recht, es ebenfalls zu thun. Hinauf in Dein Zimmer; ich bin ernstlich bös!“

So stiegen die Zwei die Treppe hinauf, und Frau Rath holte sich ihren Jungen aus dem Garten, und unten und oben fanden Verhöre statt, aber an beiden Stellen erfolglos.

„Mutter,“ erklärte Fritz, „frage nicht weiter; er ist ein ganz schlechter Bursche, der Frieder.“

Frieder konnte eine gewisse Verlegenheit nur schlecht verstecken hinter falscher Großmuth. „Laß doch nur, Tante, er hat es ja nicht so bös gemeint.“

Und Tante Riekchen ging, äußerlich noch unversöhnt, innerlich ganz gerührt, in ihre Wohnstube. „Er ist doch von vornehmer Denkungsart,“ sagte sie, „und Jungens prügeln sich wohl mal. Er will den Grund nicht verrathen, das ist nobel.“ – Nichtsdestoweniger hatte sie ihm angekündigt, er werde heute zur Strafe allein auf seiner Stube speisen und dieselbe nicht früher verlassen, als bis er komme, um Verzeihung zu bitten. Sie fühlte, sie müsse einmal mit Strenge auftreten.

Die Grimasse ihres Pflegesohnes, als sie den Rücken wandte, sah sie nicht. Friedrich Adami ballte die Fäuste, nachdem sie sich entfernt hatte. War es nicht zu albern von ihr, ihn hier festzusetzen? Pah! Er brauchte ja nicht zu gehorchen, er ging einfach in den Garten; dem derben Bengel dort unten mit seinen groben Fäusten, dem würde er’s schon noch heimzahlen. Was ging den das an, wenn das weiße Kaninchen in seinen Verschlag lief, statt in dem des dummen Kerls zu bleiben, und wie kam der dazu, gleich nach diesem Zanke so handgreiflich Partei zu nehmen für seine Tante? Er, Friedrich Adami, konnte sie nennen, wie es ihm beliebte. Freilich – wenn der Fritz klatschte, daß er seine Pflegemutter ein „altes Gerümpel“ geheißen hatte, mit der er machen könne, was er wolle, die Alte habe nun einmal einen Narren an ihm gefressen – dann war’s doch höchst eklig.

Er war schon im Begriff, nach dem Garten zu entwischen, als sich die Thür aufthat und die alte Dora mit dem Essen erschien. „Aber Frieder,“ sagte sie, „was machst Du für Sachen? Aergerst Deine gute Tante! Bist gar nicht werth, daß sie Dich so lieb hat. Da, schau’ her, eigenhändig hat sie Dir das Quittenmus aus der Vorrathskammer geholt.“

Um den Mund des hübschen Buben zuckte ein spöttisches Lächeln. Zur Strafe schickte sie ihm seine Lieblingsnäscherei! Er hatte schon recht mit dem, was er gesagt. Er gab den Vorsatz, nach dem Garten zu gehen, auf und setzte sich mit dem größten Appetit zu Tisch.

„Bitt’ es ihr nachher ab,“ mahnte die Alte.

„Ich hab’ nichts abzubitten!“ antwortete er.

„Dann kannst Du aber nicht hinunter.“

„Werd’ schon können, wenn ich will – ich will aber gar nicht!“

So ward es Abend. Die Gewitterwolken hatten sich vertheilt, es war kühler geworden draußen. Friedrich Adami wartete auf seine Tante, die Tante wartete auf ihn, keiner wollte nachgeben. Der Knabe stand am Fenster; drunten ging der Fritz in den Kaninchenstall, er pfiff ganz vergnügt vor sich hin; der hatte es besser. Nun nahm er wahrscheinlich sein Eigenthum, das hübsche weiße Kaninchen, zurück und machte die Thür des Verschlages doppelt fest, damit es nicht wieder entwischen konnte. Ueber den Hof strich ein feuchter erfrischender Hauch, er kam wohl vom Rheine herauf; der Junge sog ihn mit vollem Athem ein. Just heute zog es ihn so mächtig wie nie an den Strom hinunter, um seine schmerzenden Glieder hineinzutauchen in die grünliche klare Fluth.

Je nun, warum sollte er der „Alten“ den Gefallen nicht thun und um Verzeihung bitten? Er nahm seinen Strohhut und schlich in die Wohnstube hinüber.

Die Tante war nicht dort, aber dafür stand mitten in dem rosigen Lichte der untergehenden Sonne, das die tiefe Fensternische magisch erfüllte, sein Schwesterchen auf einem Stuhl vor dem Nähtisch der Tante. Mit einem Knie stützte sich das zierliche Geschöpf in dem verwachsenen rosa Kattunkleidchen auf diesen Tisch; beide Aermchen hatte sie gegen die Wand gestemmt, so daß sie die kleine Konsole, welche die Gipsbüste ihres Vaters trug, fast umarmte. Das dunkle Köpfchen war vorgeneigt, und ihr zum Kuß gespitzter rother Mund berührte zärtlich die lockige Stirn des leblosen Gesichtes. Es war eine scheue süße Innigkeit in dem Gebahren der Kleinen, die wohl jeden gerührt hätte.

Von Brüdern verlangt man im allgemeinen nicht, noch dazu von Brüdern in den Flegeljahren, daß sie ihre Schwestern bewundern sollen; aber daß dieser brüderliche Held seine Hand dazu benutzte, das Gesicht des kleinen Mädchens so heftig gegen den Gipskopf zu stoßen, daß derselbe durch den Zusammenprall von der Konsole fiel und auf der Diele mit dumpfem Schlag in Trümmer sprang, das war denn doch nicht einmal mit brüderlicher Unempfindlichkeit zu entschuldigen.

„Dummes Ding!“ rief er, selbst erschreckt, „was hast Du da nun angerichtet!“

Und in diesem Augenblick kam Tante Riekchen. Die Kleine stand vor Schreck noch unbeweglich auf dem Stuhle, das tief erblaßte Kinderantlitz hatte etwas unheimlich Starres; und die Frau, welche die Güte selbst sein konnte, ward beim Anblick ihres zertrümmerten Kleinods hart bis zur Grausamkeit.

„Du entsetzliches, boshaftes Kind!“ rief sie, „bist Du nur gekommen, um mir Unglück zu bringen? Wollte Gott, ich hätte Dich nie gesehen!“ Sie riß die Zitternde vom Stuhle und schleuderte sie vorwärts, daß der kleine Körper an der Ausgangsthür wie ohnmächtig zusammenbrach.

Dora hob sie auf. Stumm, bebend lag das Mädchen in ihren Armen, und von der kleinen schön geschweiften Oberlippe rieselte ein Blutstropfen.

„Julchen, liebes Julchen!“ flehte die Alte unter Thränen, nachdem sie das Kind auf sein Bettchen gelegt und ihm das Blut abgewaschen hatte, „was hast Du denn gethan? Um Gotteswillen, sag mir’s doch!“

Aber kein Wort der Anklage kam über die schmerzverzogenen Lippen.

Tante Riekchen wollte Julchen nicht sehen, hatte sie gesagt, und hungrig zu Bett gehen sollte sie auch! Und so saß die kleine, während drunten im Garten unter dem Nußbaum der wieder zu Gnaden angenommene Bruder an der Seite der Tante speiste, oben in der tiefen Dämmerung am Fenster, die Augen auf den Strom geheftet, mit einem wehen, über ihre Jahre hinaus wehen Zug im Gesicht, und horchte auf die Nachtigall, die drunten [647] schlug, und auf das leise Rauschen des Stromes. Am jenseitigen Ufer zuckte von Zeit zu Zeit ein starkes Wetterleuchten auf und tauchte den Garten in rothes Licht. Ganz allein saß sie da, denn Dora war zu ihrer verheiratheten Stieftochter gegangen.

Ob sie hungerte oder fror? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt. Sie hatte nur Sehnsucht nach Güte, nach Liebe, nach einem kosenden Worte, so übergroße Sehnsucht. Aber niemand, niemand war für sie vorhanden.

Da klinkte leise die Thür, und leise schlich jemand herein. „Hier!“ sagte die flüsternde Stimme des Fritz, der sie bisher kaum eines Blickes gewürdigt hatte, „hier, kleiner Unnütz; das Luischen meint, Du hättest heut abend nichts zu essen bekommen –“ Und der große Junge bog sich hinunter und legte dem Kinde ein Butterbrot in den Schoß. „Weine nur nicht, Unnütz,“ stotterte er, „iß lieber!“

Sie weinte nicht, aber sie aß auch nicht; sie sah unverwandt die Thür an, durch die der Bursch’ verschwunden war, das kleine Herz klopfte ihr heftig, und ein warmer Schauer durchrieselte sie. Wie ein Sonnenstrahl die Knospe wohlthuend streift, die sich kaum hervorgewagt hat, so wohl war dem einsamen Kinderherzen durch diese paar ungeschickten Worte geschehen und ein Fünkchen erglomm in der verschüchterten Seele, das einst zur starken mächtigen Flamme wachsen sollte. Und als sich abends die kleinen Hände von Mamsell Unnütz falteten, da klang auch der Name „Fritz“ ins Gebet wie in alle ferneren Gebete, die das Kind sprach.

Die Tante ward fortan noch kühler gegen das „boshafte Kind“. „Unten“ und „Oben“ blieben auf gespanntem Fuße; „guten Tag und guten Weg“ boten sich die Schwestern zwar noch, aber die innerliche Trennung wurde vollständig. Die Jungen gingen getrennt zur Schule und kamen einzeln wieder heim – in derselben Klasse saßen sie so wie so nicht, denn Frieder nahm sich Zeit bei seinen Studien, während Fritz eifriger denn je beim Lernen war. Und so getheilt gingen die Alten in den Herbst ihres Lebens hinein, die Jungen ihrem Lenze entgegen, und dann waren sie plötzlich mitten drin in diesem Lenze, und aus den Kindern waren Leute geworden.


Es ist ein reizender Tag, an dem ein Mädchen achtzehn Jahre alt wird; ein ganz eigener Zauber liegt über ihm, besonders wenn der Tag zu Ende Mai fällt, wo alle Rosenknospen im Aufspringen sind, wenn an dem Rosengarten der Rhein vorüber rauscht und der Duft der Blüthen die Luft erfüllt. Man kann sich das Geburtstagskind so recht vergegenwärtigen, wie es mit strahlenden Augen und im weißen Kleide durch den Garten flattert und vor seliger Daseinsfreude die ganze Welt umarmen möchte.

So kann es wohl sein – aber bei Mamsell Unnütz war es nicht so an diesem Maitag, an dem sie achtzehn Jahre alt wurde. Sie wachte schon ganz früh auf, aber gar nicht anders wie sonst; nicht die Spur freudiger Erwartung prägte sich in dem Gesicht aus.

Das Zimmerchen gehörte ihr jetzt allein; Frau Dora war nicht mehr im Hause, sie lebte in ihrem Witwenstübchen irgendwo in der Stadt, man hatte ihre Dienste nicht mehr nöthig. Das „Julchen“ war groß geworden, der junge Herr nicht mehr daheim, da schickte die Tante die Alte fort und hielt nur noch ein Dienstmädchen, ein ganz junges von fünfzehn Jahren. Julia mußte ohnehin die Wirthschaft lernen.

Das junge Mädchen wunderte sich heute gar nicht, daß kein Myrtenstöckchen an ihrem Bette stand, kein Blumenstrauß, daß kein liebes freundliches Gesicht über das ihrige sich neigte, keine freundliche Stimme sprach: „Gott segne Dich, Liebling!“ Sie machte wie sonst ihre Toilette, stieß das Fenster auf, sog die Morgenluft ein, während sie das lange blauschwarze Haar flocht, zu dem sich die Ringellöckchen von einst ausgewachsen hatten und das sie nun in einfachem Knoten am Hinterkopf aufsteckte. Sie war hoch und schlank geworden, dabei doch von zierlichem Gliederbau und sah noch landfremder aus denn als Kind, jedenfalls war sie ihrer Mutter ähnlich. Die Nase ein ganz klein wenig gebogen, die Stirn niedrig, das Kinn rund und fest, und alles überstrahlt von zwei glänzenden dunklen Augen, in denen, wie die Frau Rath sich ausdrückte, „etwas flimmerte, etwas – na, man wird ja sehen, was, und wenn sie noch so sittsam die langen Wimpern darüber fallen läßt“.

Die Kleidung war sehr einfach. Tante Riekchen fand es angezeigt, die auffallende Erscheinung, so viel als irgend anging, zu mildern. Ein hellblaues Kattunkleid, darüber eine Schürze, die sich das Mädchen, so zierlich es gestattet wurde, genäht hatte, das war die Geburtstagstoilette. Wie sollte sie auch anders sein, wenn zur Feier dieses Tages große Wäsche angesetzt war? Die geliebten Ohrringe hatte man ihr längst fortgenommen, aber Julia griff noch heute mechanisch nach den kleinen Ohrläppchen, wenn sie verlegen wurde, wie sie es früher gethan, wo sie in solcher Lage die Ringe zu drehen pflegte, bis die Tante sie auf die Finger klopfte. Eine Weile länger als sonst blickte sie heute doch in den Spiegel, und als es nun sieben Uhr schlug, lief sie eilig in die Küche, um das Frühstück zu besorgen. Sie trat dann mit dem Präsentierbrett in der Hand in die Wohnstube, wo Tante Riekchen am offenen Fenster saß und ihr aus blassem, sehr gealtertem Gesicht entgegen sah.

„Guten Morgen, Tante!“ sagte das junge Mädchen.

„Guten Morgen, Julia!“ klang die gemessene Antwort.

Das Mädchen schenkte die Tassen voll und rückte den Stuhl zurecht. „Ist’s gefällig, Tante?“ –

Fräulein Riekchen kam herüber. „Ich gratulier’ Dir, mein Kind,“ sprach sie und berührte mit den Lippen die Stirn des Mädchens. „Und hier ist eine Kleinigkeit für Dich.“ Sie schob ihr ein Päckchen in die Hand. „Sei recht sparsam damit – Du weißt –“ Ein tiefer Seufzer beschloß diese Rede, und Riekchen sank in den Sessel und rührte in der Tasse.

Ueber des Mädchens Gesicht war ein freudiges Roth gehuscht. „Ich danke Dir, liebe Tante – und darf ich mit dem Gelde thun, was ich will?“ fragte sie, ohne den Blick zu heben.

„Ja, vorausgesetzt, daß es keine Thorheitett sind; das heißt – ich hatte die Hoffnung, Du würdest es aufsparen,“ war die Antwort.

Mamsell Unnütz schwieg, aber ihre Freude an dem Geschenk schien geschwunden.

„Heute, gegen Abend,“ fuhr die Tante fort, „wenn die Wäsche von den Leinen ist, magst Du zur Schneiderin gehen, sie soll Dir ein weißes Kleid passend machen. Ich habe es getragen als junges Mädchen. Die Doktorin will Dich zu der Pfingstpartie einladen; mit achtzehn Jahren hast Du ja wohl ein Anrecht auf die Lustbarkeiten der Jugend.“

„Ach, Tante,“ wandte das junge Mädchen ein, „laß mich daheim, ich kenne die Menschen alle nicht, und –“

„Wenn ich nur wüßt’, Julia, weshalb Du so hochmüthig und apart thust! Du wirst mitfahren! Ich wünsche es schon deshalb, damit es nicht noch einmal heißt, ich gönne Dir nichts und behandle Dich als Stiefkind.“

Das junge Mädchen erwiderte kein Wort mehr. Sie goß der alten Dame die zweite Tasse ein und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

„Ich bitte also, daß die Wäsche nicht wieder so himmelblau wird wie das letzte Mal!“ rief Fräulein Riekchen ihr nach, und dann zog sie einen noch uneröffneten Brief aus der Tasche ihres grauen Kleides; ehe sie ihn erbrach, holte sie tief Athem, und Röthe und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht. –

Drunten im Hausflur standen allerhand Möbel umher, und das Dienstmädchen der Frau Rath klopfte mit dieser um die Wette förmliche Staubwolken aus den braunen Ripspolstern. Die Thüren von zwei Stuben, den Zimmern des jungen Herrn, denen diese steifen birkenen Stühle und Sofas angehörten, standen weit auf, und die Scheuerfrau bürstete die Dielen mit einem Eifer, der darauf schließen ließ, daß sie Angst vor der Räthin hatte, die ihr Thun unausgesetzt beobachtete. Der „Guten Morgen!“ des jungen Mädchens verhallte in dem Getöse des Klopfens. Frau Rath hatte weder Auge noch Ohr für sie, und Mamsell Unnütz konnte unaufgehalten ihre Geburtstagsfeier beginnen.

„Wenn Sie die Tischtücher und Servietten gleich zuerst ins Wasser stecken möchten, Fräulein,“ wies die alte Waschfrau sie an – „so, ich helf’ den Korb tragen.“ Und in wenigen Minuten war der Strom erreicht.

Den Garten schied nur ein schmaler Fußsteig vom Ufer, das ziemlich steil abfiel. Andersheim gehörte nicht zu den Orten des herrlichen Rheins, an denen die leidige Eisenbahn zwischen Strom und Gärten dahinbraust; die nahm hier ihren Weg hinter dem Städtchen vorüber, und am Wasser, besonders vor Trautmanns Garten, war es noch ebenso idyllisch wie zu jener Zeit, als Schienen und Dampfwagen in das Reich [648] der unbekannten Dinge gehörten. Zum Strome hinunter führten Stufen, und vor diesen schaukelte der alte Nachen im Schatten der Nußbäume, die ihre Zweige hoch und üppig über die Gartenmauer reckten, als wollten sie durchaus ihr Spiegelbild sehen in der köstlichen, grünlich klaren Fluth.

Julia zog den Nachen heran, trat hinein, ließ sich den Korb mit der Wäsche reichen und stand dann, als die Alte verschwunden war, noch ein Weilchen müßig da und schaute über die breite glitzernde Wasserfläche nach der jenseits gelegenen großen Aue, über der ein zarter bläulicher Frühnebel hing. Wie wonnig war dieser Morgen! So feierlich rauschte der Strom, so lustig hüpften die Goldfunken der Sonne auf den tausend kleinen Wellen, so duftend kam der Wind – dem jungen Geschöpf ward das Herz weit und das Auge feucht, unwillkürlich falteten sich ihre Hände. „Wenn man nur nicht so allein wäre,“ flüsterte sie, und dann blitzten auch in ihren träumerischen Augen ein paar Goldfunken auf wie zwei selige Hoffnungssterne und sie lächelte, während sie im Buge des kleinen Nachens kniete und ein Tuch lässig in den Wellen schwenkte.

Dann hielt sie wieder inne und starrte wie in Gedanken verloren vor sich hin, einen trüben Zug um den Mund, sonderbar veränderte sich dabei das Gesicht; und nun schrie sie leicht auf – das Tuch war ihren Händen entglitten und schwamm eilig den Strom hinab.

„Großer Gott!“ sagte das erschrockene Kind, „und es ist die damastene Kaffeedecke mit den eingewebten Sprüchen!“

Sie bog sich vor, soweit es möglich war, und schlug mit einer Stange ins Wasser, als könne das helfen; dann stand sie wieder kerzengerade und blickte mit weit geöffneten Augen zu einem Nachen hinüber, den ein Schiffer am Ufer entlang stromaufwärts trieb, und auf die Gestalt eines Mannes, der mit dem Bootshaken soeben das Tuch auffischte.

„Hallo!“ rief eine tiefe Stimme, „es sollte mich doch wundern, wenn Mamsell Unnütz nicht das Heldenstück, ein armes, des Schutzes bedürftiges Gespinst sich selbst zu überlassen aufgeführt hätte. Natürlich! Ja, bist Du es denn wirklich, Unnütz?“

Der Nachen war jetzt ganz dicht herangekommen, ein großer breitschulteriger Mann stand darin. Er hielt den Hut grüßend über dem braunen Scheitel, während die andere Hand noch den Bootshaken mit dem nachschleppenden Tuch umfaßte. Seine Augen aber hingen mit unverhohlenem Erstaunen an dem Mädchen, das, die Blässe einer großen Erregung im Antlitz, wie ein fremdartiges reizendes Bild auf Goldgrund in dem leise schwankenden Nachen stand.

„Nun, grüß’ Gott!“ sagte er endlich, „ich muß es wohl glauben, daß Du es bist, Unnütz. Wer im ganzen Städtchen hätte wohl solch schwarzes Haar und solche Augen, und wer sonst könnte wohl so stolz und mit so klassischer Ruhe dastehen als die Julia Adami aus Rom? Wie? Und Wäsche spülst Du an Deinem achtzehnten Geburtstag? Aber auch das ist klassisch, Kind; in alten Zeiten war es, glaube ich, Lieblingsbeschäftigung der Fürstentöchter –“ und er schlug klatschend das Tuch auf den Bug des Nachens, in dem das Mädchen stand, und schwang sich selbst hinüber. „Grüß’ Gott, noch einmal, Julia, und frohen Geburtstagsgruß!“

Da gab sie ihm langsam eine kleine zitternde Hand, aber ihr Auge begegnete dem seinen nicht. Sie standen so noch, als der Mann, der den jungen Doktor Fritz Roettger hergerudert hatte, schon wieder stromabwärts fuhr; sie noch immer mit gesenkten Wimpern, er sie erstaunt betrachtend.

Aus ihrem stillen Versunkensein wurden sie erst emporgeschreckt, als jetzt drüben ein Dampfer vorbeirauschte und durch die heftige Bewegung des Wassers, die er verursachte, der Nachen [649] in bedenkliches Schwanken gerieth. Der Doktor lachte laut und herzlich. „Schau, Mamsell Unnütz, jetzt wär’s Dir selbst beinah’ ergangen wie dem armen Tuche, und ich hätt’ Dich fischen müssen. Aber sag’ mir um alles in der Welt, Kind, was hast Du mit Dir angefangen in den zwei Jahren? Du bist ja eine halbe Elle gewachsen und wo ist Dein schmales Gesichtchen geblieben? Du bist ja – –“ Das Kompliment blieb ihm auf der Zunge, so rosig war sie erglüht.

„Zwei Jahre sind doch eine lange Zeit,“ sagte sie und begann wieder eifrig ihre Arbeit. „Aber wo kommst Du her?“

„Plantsche ein andermal weiter und setze Dich dahin – so! Ewig ist doch Wäsche bei Euch, ich kann mir Euch gar nicht anders vorstellen. Wo ich herkomme? Von Berlin, das heißt von Rüdesheim heute früh, gestern von Köln; und weil ich Euch überraschen wollte, fuhr ich mit dem Nachen, um ungesehen ins Haus zu gelangen.“

„Ich glaube, Deine Mutter denkt, daß Du erst am Pfingstheiligabend eintriffst,“ sagte sie.

„Ja, das mag sie wohl; aber mir wurde Berlin plötzlich zu eng. Ich hatte dort nichts mehr zu thun, reiste ab, und nun bin ich da, wie Du siehst.“

„Und bleibst immer hier?“ klang es stockend.

„Na, möglich ist’s; ich hab’s der Mutter verspochen. Vielleicht fassen die biederen Bürger von Andersheim Vertrauen zu mir und geben mir ihr sterbliches Theil bei Krankheiten anheim.“

„Willst Du nicht hineingehen und Deine Mutter begrüßen?“

„Nein! Es gefällt mir hier sehr gut, und Mutter bekommt noch früh genug den Schreck in alle Glieder, wie sie zu sagen pflegt. Erzähle mir lieber – wie geht’s hier bei Euch?“

Sie hatte doch wieder angefangen Wäsche zu spülen. „Immer so weiter,“ sagte sie, mährend ihr ein paar Tropfen auf das Haar flogen und dort wie blitzende Steine liegen blieben.

Er schwieg und sah ihr zu. Was war aus Mamsell Unnütz für ein eigenartiges Mädchen geworden, und welch trostloser Klang lag in den Worten: „Immer so weiter!“ Ihm ward ganz beklommen zu Muth; und an diesem „Immer so weiter“ sollte er theilnehmen, theilnehmen für sein ganzes Leben?

„Unnütz,“ bat er, seine Gedanken abschüttelnd, „laß die Plantscherei, das kann doch das Mädchen thun; es ist gräßlich! Freue Dich doch lieber Deines jungen Lebens!“ Und er hatte sie plötzlich auf das Bänkchen neben sich gezogen und den Arm um sie geschlungen. „Sonst gabst Du mir stets einen Kuß, wenn ich kam, weißt Du noch? Und beim Abschied auch. Heute zu Deinem Geburtstag muß ich Dir einen geben!“ Und ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er seinen hübschen braunen Schnurrbart auf ihre rothen Lippen gepreßt.

Sie entwand sich ihm blitzschnell und sah ihn an. Sonderbar leuchteten einen Augenblick die Goldfunken auf in den dunklen Sternen, dann senkten sich die Wimpern und ein sehr feindlicher Zug erschien auf ihrem Gesicht. „Bitte, laß das jetzt, ich bin kein Kind mehr,“ sagte sie.

„Nichts für ungut, Fräulein Unnütz!“ Er erhob sich und sprang behende aus dem Nachen, machte ihr vom Ufer aus noch eine tiefe Verbeugung und schritt die Stufen hinauf. „Es ist nur, damit Mutter noch rasch das bewußte Kalb schlachtet, Unnütz – auf Wiedersehen!“

Sie starrte ihm nach, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Wie kraftlos saß sie da, und auf einmal hielt sie die Hände vor die Augen, als blende sie die Sonne und das Spiel der Wellen und so saß sie noch, als die alte Frau den zweiten Korb mit Wäsche brachte. –

Der junge Doktor platzte gerade in die Wohnstube der Mutter zu einer Zeit, die er sich nicht gewählt haben würde, hätte er eine Ahnung gehabt von dem, was sich dort abspielte. Dort stand [650] nämlich in der Stellung einer Frierenden seine Mutter am sommerlich kalten Kachelofen mit dunkelrothem verärgerten Gesicht, und am Fenster saß Tante Riekchen, sehr bleich, einen Brief in der Hand.

Du, Fritz?“ rief die Mutter, als sie des Sohnes ansichtig ward. „Na, das ist aber ein Glück, wie gerufen kommst Du!“ und nach einem flüchtigen Kusse zog ihn die erregte Frau vor den Stuhl der Tante. „Da sag’s ihr einmal, Fritz, sie glaubt mir’s nicht.“

„Grüß’ Gott, Tante! Was glaubst Du denn schon wieder nicht?“ begrüßte er sie gutmüthig.

„Daß der Frieder ein – ein – Bruder Leichtfuß ist – gelind ausgedrückt!“ rief Frau Rath.

Tante Riekchen sah ihren Neffen an wie ein verwundetes Reh. „Erbarmen, Fritz, Erbarmen!“ sprachen die verweinten Augen.

„Ich kann Dir leider gar nichts vom Frieder erzählen, Tante,“ sagte der junge Arzt freundlich ernst, „kaum daß ich ihn einmal flüchtig auf der Straße sah. Du vermagst Dir das nicht vorzustellen, aber in einer solchen Großstadt, wo jeder seinen eigenen Weg gehen muß, da – –“

„Es thut mir recht weh, Fritz, daß Ihr Euch noch immer vermeidet.“

„Tante, das ist so der Lauf der Dinge. Offiziere halten sich – müssen sich etwas exklusiv halten; Absicht ist das gar nicht von uns beiden,“ tröstete er herzlich.

„Thu’ nur nicht, als ob Du nicht wüßtest, daß der Herr Adami den Baron spielt!“ sagte Frau Rath mit ihrer liebenswürdigen Offenheit. „Damen, Diners, Soupers in den feinsten Lokalen; wenn er’s nicht weiß, ich kann Dir’s sagen, Riekchen, so ist’s! Verschließ Dich nicht länger der Thatsache und häng’ Deinem Goldsohn den Brotkorb höher, sonst trifft noch ein, was ich Dir vor acht Jahren prophezeit hab’, als der Bub’ die große Rechnung in der Konditorei hier gemacht hatte – Du gehst noch mit dem Bettelsack aus dem Haus hier, hab’ ich damals gesagt.“

„Ich bitte Dich,“ rief Tante Riekchen verletzt, „bring’ nicht immer die alte, längst vergessene Geschichte wieder aufs Tapet. Uebrigens will ich nicht länger stören, da wir uns doch nicht einigen. Ich hab’ mich gefreut, Fritz, Dich zu sehen, und wünsche Dir Gottes reichsten Segen,“ wandte sie sich an den jungen Arzt, und schnell verließ sie das Zimmer, damit ihre Verwandten nicht die Thränen sehen sollten, die ihr aus den Augen schossen.

Frau Rath sah ihr nach. „Halsstarrig bis zuletzt!“ rief sie.

„Was wollte denn die Tante, liebe Mutter?“ forschte er.

„Was sie wollte? Geld! Eine Hypothek aufs Haus!“

„Lieber Gott, so weit ist’s?“ fragte er, ehrlich betrübt.

„Schon lauge! Ich gab ihr ja vor zwei Jahren schon dreitausend Thaler auf das Haus. Sie hat eine wahre Angst, daß man im Publikum etwas merkt von ihrer Lage. Heute kommt sie plötzlich wieder zu mir um ein erneutes Darlehn. Es ist ein Elend! Sie besitzt nicht mehr soviel, um die Kosten des mehr als einfachen Haushalts zu decken; sie spart an allen Enden und Kanten, ja sie hungern beinahe. Das gute Dienstmädchen ist abgeschafft und Fräulein Julia muß die Hände rühren. Aber das ist’s eben, wenn sie die nicht hätt’, so könnte sie an meinem Tische essen, ich würd’s ja gern geben. Aber die ‚Unnütz‘ ist einmal da und muß gehalten werden wie eine Prinzeß’.“

Der junge Doktor lachte auf. „Spülen denn heutzutage Prinzessinnen die Wäsche am Rhein?“

„Nun, lach’ nur nicht zu früh. Eben hat mir Riekchen gesagt, daß das Fräulein von jetzt ab die Kasinofeste besuchen würd’.“

„Warum denn nicht?“

„Lieber Gott, was das kostet! Schon der Anzug –“

„Lassen wir das. – Kannst Du der Tante nicht helfen?“

„Freilich! Ich hab’ ihr gesagt, ich wolle das Haus kaufen; für einen mäßigen Preis natürlich. Doch was meinst Du, was sie haben will – rein lächerlich! Hab’ ihr vorgestellt, sie bekomme freie Wohnung, Gartenbenutzung – aber sie besteht auf der Summe. Dabei wär’s schrecklich, wenn’s in andere Hände käm’,“ fuhr die alte Dame seufzend fort, „es liegt so gut für Deine Zwecke – hier herum die neue Villenstadt mit vornehmem Publiknm. Es wär’ nur ein Fall erträglich, wenn nebenan der Herr Krautner es kaufte.“

Sie machte eine Pause. „Heirathen wirst Du müssen, Fritz; ein Unverheiratheter Arzt ist ein Unding. Also ’ne Frau wär’ vor der Hand das Nöthigste für Dich.“

Jetzt lachte der hübsche große Mann laut auf. „Mutter, weißt Du, was das Nöthigste ist?“ rief er, „ein Frühstück!“

Die alte Dame kam erst jetzt zu dem richtigen Bewußtseln, daß ihr Sohn, den sie seit zwei Jahren nicht gesehen hatte, sie überrascht habe und da sei, wirklich und wahrhaftig. Sie lief ganz behende hin und her und trug herbei, was sie in Küche und Keller hatte, und währenddem entschuldigte sie sich, daß leider Gottes seine Stuben noch nicht in Ordnung seien. Und als sie endlich dasaß und ihn mit bestem Appetit speisen sah, da sagte sie noch einmal. „S’ist wirklich nöthig, Fritz, daß Du Dich nach einer Frau umthust; welch anständiger Familienvater wird denn Dich jungen Luftikus zu seiner Frau oder gar zu seinen Töchtern rufen? Uebrigens, heut’ nachmittag könnten wir ja – –“

„Nun, was könnten wir denn da?“ fragte er belustigt.

„Besuche machen, bei Eisemanns und bei Krautners etwa –“

„I, hat denn das solche Eile?“

„Nun, wenn man Nachbarschaft ist und immer über den Zaun hinüber redet, so abends – und das Thereschen sitzt doch auch öfters ’mal bei uns in der Laub’ –“

„So? Das Thereschen? Wer ist denn das?“

„Herrn Krautners Tochter; sie halten da ein bißchen Freundschaft miteinander, Julchen und das Thereschen, sind auch in einem Alter. Ich würd’s nicht leiden an Riekchens Stell’, da guckt das Mädchen nur ab, wie’s die reichen Leute haben, aber – was geht’s mich an! Sag’ mal, weißt Du wirklich nichts vom Frieder?“

„Mutter,“ antwortete der junge Mann, „frage mich nicht nach ihm; durchs Reden wird’s nicht besser. Mich dauern nur die beiden da droben.“

„Erzähl’ doch! Erzähl’!“ rief die Mutter, aber er hörte es schon nicht mehr. Er wollte sorgen, daß sein Koffer käme, rief er zurück. –

Wenn der heimgekehrte Sohn geglaubt hatte, es werde ihm zu Ehren feierlich der übliche Kalbsbraten mittags aufgesetzt werden, so hatte er seine Mutter noch nicht ganz genau gekannt. Es gab weiter nichts als das an Scheuer- und Waschtagen übliche Gericht, „und damit holla!“ wie Frau Räthin sagte. Nun, er war kein Schlemmer und aß auch die süß-sauren Leberknödel. Aber machte es das Scheuerparfüm oder die Thatsache, daß er erst gegen Abend in seine noch nassen Zimmer konnte, um sie einzurichten – er befand sich im Zustand größter Ungemüthlichkeit.

In der Wohnstube nickte die Mutter im Nachmittagsschlummer, und von droben hörte man eine wie im Schlafe gedrehte Kaffeemühle. Er trat auf die Schwelle seines künftigen Wohnzimmers. Wie kahl das Ganze war! Nun, wenn nur erst seine Bücher und Instrumente ausgepackt sind, dann – aber, großer Gott, wo sollte er sie denn hinthun? Es war nicht einmal ein Schrank für sie vorhanden! Plötzlich fiel ihm ein, daß auf dem Boden noch die Regale aus des seligen Großvaters Amtsstube sein müßten und behaglich rauchend erstieg er die Treppen, schlich leise über den Flur, damit der Nachmittagsschlummer der bekümmerten Tante nicht gestört werde, und erklomm die steile Bodentreppe.

Solch heimliche, mit allerhand Gerümpel vollgestellte Dachböden, solch festes Balkenwerk und solch geheimnißvolles Dämmerlicht, in dem die Spinnen weben und alte feudale Mäusegenerationen ein Leben unter beständiger Angst vor der Hauskatze führen, giebt es gar nicht mehr in den neumodischen Häusern, wo jeder Winkel zum Aufenthalt für Menschen umgeschaffen ist. Der junge Arzt hatte immer eine Vorliebe für den Boden des Hauses gehabt von den Kinderspielen her, wo sie sich hier versteckten, im heimlichsten Winkel Karten spielten und die ersten Rauchversuche anstellten. Es wurde ihm erst hier oben heimathlich zu Muthe, und wahrhaftig, da hing noch das Seil, in dem er Mamsell Unnütz geschaukelt hatte, und dort stand das alte Spinnrad im Winkel der Esse, dessen zerbrochenes Rad zu drehen des kleinen Mädchens stilles Entzücken gewesen war.

Er machte sich eifrig daran, allerhand Kasten, Stühle und zerbrochenes Gerümpel aus dem Wege zu räumen, um an die gesuchten Regale zu gelangen, die dort hinten hervorsahen, und dabei sprach er leise vor sich hin. „Schön ist anders, aber für den Anfang – später, wenn ich heirathen muß, wie die Mutter sagt, werden wohl neue Sachen kommen –“

In diesem Augenblick stutzte er; die Thür der gegenüberliegenden Bodenkammer hatte einen leisen knarrenden Ton hören lassen, und sich rasch umwendend, sah er, wie sich diese Thür eben ganz langsam schloß.

„Nun, spukt’s hier denn wirklich?“ rief er und war mit zwei Sprüngen drüben und rüttelte an dem Schlosse – ein Ruck [651] und die kleine Hand, die von innen so kräftig zugehalten hatte, gab nach und Fritz stand vor Mamsell Unnütz.

„Also Du?“ sagte er verwundert. „Versteckst Du Dich hier immer noch?“

„O bitte, geh!“ flehte sie verlegen. Aber er ging nicht.

„Ich werde doch sehen, was Du hier oben treibst,“ sagte er, über die Schwelle tretend. Dann verstummte er –

In einer Ecke, just unter dem blinzelnden verschlafenen Dachfenster, dessen altersblindes Glas in allen Regenbogenfarben schillerte, stand ein invalider Lehnstuhl mit mottenzerfressenem Polster vor einem Tische, dessen Platte sämmtliche Geräthe der Aquarellmalerei trug. Eine Menge Lederkästchen höchst wahrscheinlich für Briefmarken bestimmt, lag in einem Körbchen, und ein halbes Dutzend derselben stand fertig gemalt zum Trocknen aufmarschiert wie ein Zug Soldaten. Er nahm eins der Kästchen in die Hand und betrachtete es. Die fliegende Taube, um den Hals am blauen Bändchen einen winzigen Brief tragend, schien soeben erst mit wenigen kecken Strichen hingemalt; recht gut der Natur abgelauscht war die Flügelbewegung des Thierchens und trotz des sehr verbrauchten Musters nett und originell, wenn sich auch eine noch ungeübte Hand verrieth.

Er sah von der Taube zu dem Mädchett hinüber. Sie stand ungeduldig und blaß vor ihm, und ihre Zähne bissen die Unterlippe.

„Hab’ keine Ahnung gehabt, Julia, daß Du malst,“ sprach er, „aber, um Gotteswillen, wie kamst Du auf diese einförmige Beschäftigung? Für wen? Weshalb brütest Du schockweise Tauben aus? Weiß es Tante Riekchen?“

„Niemand! Auch für Dich ist das nicht – bitte, vergiß es!“

„Aber Unnütz, sei doch nicht so unfreundlich,“ bat er. „Ich dächte, Du wüßtest von früher her, daß wir gute Kameraden sind. Habe ich Dich je verrathen? Im Grunde freue ich mich ja herzlich, daß Du auch etwas anderes treibst als Wäschespülen; nur diese“ – er deutete auf die Kästchen – „Massenfabrikation ist mir unverständlich. Sag’, Kind, treibst Du Schacher mit Deiner Liebhaberei? Taschengeld – wie? Und hast Du Unterricht gehabt? Du mußt doch auch anderes gemalt haben? Zeig’ es mir, bitte!“ Und er ergriff eine alte zerlederte Mappe, aus welcher Papier hervorlugte, Papier, wie man es zu Aquarellen benutzt.

„Laß das liegen!“ herrschte sie ihn an mit zornigem Blicke, und ihr Fuß trat den Boden. „Es ist nur Spielerei,“ setzte sie hinzu, „unnütz wie ich selbst. Ich hab’ einmal der Tante solch ein Bildchen zu Weihnacht geschenkt und – bittere Worte dafür bekommen. Unterricht? Wo sollte ich Unterricht nehmen? Ich würde doch nichts lernen. Das da“ – sie deutet verächtlich auf die Lederkästchen – „das, nun das thue ich – weil – für mein ganz besonderes Vergnügen,“ schloß sie, verschränkte die Arme ineinander und glich in diesem Augenblick einer der allerstolzesten Römerinnen, die ihren Sklaven zu entlassen gedenken, aber nicht eben in Gnaden.

„Ich will Dir etwas sagen, Julia,“ sprach er gelassen, „Du malst, um Geld zu verdienen. Aber für wen? Für wen?“

„Für wen sonst als für mich, angenommen Du hättest recht.“

„Ich fürchte, Du – –“

„O bitte, fürchte nichts!“ sagte sie mit funkelnden Augen. „Uebrigens muß ich jetzt der Waschfrau ihr Vesperbrot geben.“

„Schön! Ich gehe mit; verzeihe, daß ich Dich belästigte.“ Es mochte etwas in seiner Stimme liegen, das sie weich machte.

„Sei nicht böse, Fritz,“ bat sie plötzlich und hielt ihm die Rechte hin mit abgewandtem Gesicht.

Er nahm sie mitleidig in seine beiden Hände. „Arme kleine Mamsell Unnütz!“ Es war derselbe innige Ton, mit dem er einst vor Jahren zu dem Kinde gesprochen. „Weine nur nicht, Unnütz, iß lieber!“ Und sie legte die freie Hand über die Augen, um die glühende Röthe zu verbergen.

„Julia!“ sprach er leise und zog sie an sich. Und der schöne dunkle Mädchenkopf lag plötzlich an seiner Brust. „Kind, Du hast’s wohl nicht leicht gehabt all die Jahre her? Ader nun bin ich da, und Du mußt mir alles sagen, hörst Du, alles was Dich drückt. Ich will nicht, daß Du traurig bist in Deinen schönsten Frühlingstagen. Du hast nun wieder einen wie damals, eh’ ich nach Göttingen ging, einem dem Du alles sagen und klagen kannst.“

Sie antwortete nicht, sie litt es nur, daß er ihr das Haar streichelte. Da ward auch er stumm und ließ ihren Kopf ruhen an seiner Brust. Und es war so still hier oben, so totenstill, nur der Holzwurm tickte in dem alten Balkenwerk und Fritz Roettgers Herz klopfte so laut, daß er meinte, man müsse das Pochen hören. Langsam hob er dann das Gesicht des Mädchens und sah in die schönen, halb verschleierten heißen Augen. Und zum zweiten Male heute küßte er ihren Mund, aber leidenschaftlicher als vorhin und länger, und diesmal sträubte sie sich nicht. Ihre Arme legten sich weich und leise um seinen Hals, und ein Ton wie ein erstickter Jubelschrei zitterte durch den niedrigen Raum.

Im nächsten Augenblick schon war sie allein; sie kniete vor den alten Lehnstnhl, als sei er ein Dankaltar, die Hände gefaltet, das schöne stolze Gesicht in heller Entzückung nach oben gerichtet. ,O Gott,“ sagte sie leidenschaftlich, „ich danke Dir, nun ist kein Schatten mehr für mich in der Welt.“

Und druntett stand er und sah etwas niedergeschlagen aus. „Dummheiten!“ murmelte er, „alter Schafskopf, der ich bin! – Aber zum Henker, ich darf doch schließlich meine sogenannte Cousine küssen? Hm – wollte doch, es wär’ unterblieben. Na, er bildet sich hoffentlich nichts ein, der Unnütz – großer Gott, das fehlte noch!“

„Fritz!“ rief die schrille Stimme der Mutter, „ich wär’ soweit – wir wollen zu Krautners gehen.“

Er seufzte und nahm den Hut vom Nagel. „Armer kleiner Unnütz!“ murmelte er noch einmal. – –

Tante Riekchen kam von Doktors gegen Abend zurück. Sie schlich förmlich: der Sorgendruck, der auf ihr lag, lähmte auch ihren Gang. Dabei war die ganze Luft wie mit Goldstaub durchsetzt, und die alten Giebelhäuser des Städtchens, die Brunnen und die Bäume der Gärten erschienen purpurn überhaucht von der untergehenden Sonne. Sie sah es nicht, sie hatte für nichts mehr Sinn, als dafür, wie sie Geld herbeischaffen könnte. Plötzlich, dicht vor ihr, kam aus der kleinen rundbogigen Thür eines schmalen Häuschens eine Mädchengestalt und schritt rasch vor ihr her. Welch ein elastischer Gang und welch biegsam schlanke Figur, trotz des schlecht gearbeiteten Kleides! Was hatte sie nur, die Julia? Ihre Schritte tanzten förmlich und all die Leute sahen sich nach ihr um und gafften ihr unter den runden Strohhut.

„Julchen!“ rief die alte Dame, da wandte sich das Mädchen rasch um, und Fräulein Riekchen konnte in ein junges Menschenantlitz blicken, aus dessen schönen Zügen ein inneres großes Glück hervorleuchtete. Die bedrückte Frau verstand es nicht, sie sah nur diesen Schnuheitszauber, und der kränkte sie noch immer in der Erinnerung an vergangene Zeiten. „Geh doch anständig!“ tadelte sie. Das Mädchen richtete den Schritt nach ihr. „Wo warst Du, Julia?“

„Bei der Schneiderin, wie Du bestimmtest, Tante. Denk’ Dir, sie sagt, es könne ein ganz lieb’ Kleidchen werden, wenn ich noch ein paar rothe Schleifen dazu hätt’.“

Die Tante antwortete nicht. „Komm heute abend zu mir in die Schlafstube, Du sollst etwas berechnen!“ erwiderte sie endlich, und dann gingen sie zusammen weiter.

Vor der Hofthür trafen die von „unten“ und von „oben“ zusammen. „Nun,“ fragte Frau Rath ihre Schwester, „hast Du Geld bekommen? Ich wett’, der Doktor hat Dir’s noch einmal gegeben – gelt? Na, hast eben Glück, Riekchen.“

Oben saßen dann Tante und Nichte bis spät in den Maiabend hinein und rechneten. Vor den Augen des jungen Mädchens verwirrten sich die Zahlen, sie brachte alles falsch heraus, und Tante Riekchen ward ungeduldig und von Minute zu Minute blasser.

„Dreitausend Mark Zinsen zu bezahlen, und nur viertausend fünfhundert Einkommen,“ murmelte sie; „tausend davon bekommt Frieder als Zulage – –“ Und plötzlich löschte sie die Lampe aus und legte sich in den Sessel zurück.

Ein Weilchen schien es ganz dunkel, dann aber kam das Mondlicht zur Geltung, das durch die Fenster quoll, und von draußen klang das Schlagen der Nachtigallen und fernes Singen in das Stübchen. „Julia!“ Schrill schallte es in diesen Frieden.

„Tante?“

„Es wird mir schwer, Dir’s zu sagen, aber – ich kann Dich nicht behalten – Du mußt fort – Dir allein helfen. Es langt kaum noch für mich.“

Keine Antwort.

„Julia, hörst Du nicht? Komm her!“

Da kam sie herüber und die alte Dame sah in ein starres Antlitz. „Hast Du mich verstanden, Kind?“

„Nein!“ Es war wie ein Hauch.

„Nun, so will ich deutlicher sprechen. Frieder hat mehr verbraucht, als ich hätt’ geben können. – Es ist jetzt alles so anders in der Welt – ich kenne mich auch nicht aus in dem Offiziersstand [652] und wußt’ nicht, was es auf sich hatte, als er vor andert halb Jahren nach Berlin kommandiert wurde. Nur soviel weiß ich, daß ich kaum genug für mich zum Sattessen behalte und daß ich Dich nicht mithungern lassen darf. Du verstehst ja einiges von der Wirthschaft, und wenn Du auch nicht fertig bist, so lernst Du noch dies und das; Du mußt eben anfänglich vorlieb nehmen mit wenig Gehalt. Ich will in die Zeitung ein Stellengesuch setzen lassen, zu Johanni wird sich wohl etwas finden. Ich muß dann sehen, wie ich durchkomme.“ Noch immer kein Laut. „Nun, Julia?“

Da lag das Mädchen plötzlich vor ihr auf den Knien. „Laß mich mithungern, Tante!“ klang es halb erstickt. „O, ich bitte Dich! Ich bitte Dich, so sehr ich kann, schicke mich nicht fort, nur jetzt nicht fort! Ich will arbeiten Tag und Nacht, ich kann ja auch hier Geld verdienen – Du glaubst es nicht? O ja, ich hab’ es schon gethan, ich wollte dafür – – O Tante, Tante, laß mich hier, ich kann nicht fort!^

„Du machst mir die Last schwer,“ murmelte das alte Fräulein.

„Tante, wir könnten hier oben Zimmer vermiethen – ich will arbeiten wie eine Magd, ich will auch nicht mit zu Bällen und Vergnügung, ich will ganz still im Garten sitzen, ach, laß mich nur hier!“ Und als die alte Dame sich nicht rührte, fuhr sie fort, um ihre karge liebeleere Heimath zu kämpfen, in der sie alle Jahre ihres jungen Lebens nur Zurücksetzung und Härte kennengelernt hatte; fuhr fort zu flehen, weil es sie schlimmer als der Tod dünkte, seine Nähe zu meiden, die für sie die Sonne ihres Lebens war seit jenem Abend, an dem sie gestoßen und gescholten, hungernd und allein in ihrem Stübchen saß, und er sie tröstete. „Tante, liebe Tante!" Die schönen flammenden Augen sahen mit hinreißend bittendem Ausdruck zu der Frau empor, die das Schicksal ihres Lebens in der Hand hielt.

„Wir wollen sehen – steh’ auf!“

Das war alles, was ihr als Trost gewährt wurde, aber es dünkte dem Mädchen schon unendlich viel. Sie sprang empor. „Ich danke Dir, Tante, Du sollst es nie bereuen!“

Dann war sie verschwunden wie der Mondstrahl, der vorhin noch silberweiß auf der Diele lag.

Die Einsame am Fenster sah die dunkle Wolke an, die vor den Mond getreten war, und wieder wandte sich ihr Herz von dem Kinde, in Erinnerung an seine Mutter. So hatte sie wohl auch flehen können? Welch ein Mangel an weiblichem Stolz! Wenn ihr, dem Riekchen Trautmann, einer gesagt hätte „Geh!“ – nicht ein Wort hätte sie verloren. Aber woher sollte Edelsinn kommen bei der Tochter der Frau, die sich dem Gatten angeboten! –

Julia aber flog den Gartenweg hinunter. Was sie eigentlich wollte, wußte sie selbst nicht; ihre zitternden Nerven suchten Beruhigung. Sie schlüpfte aus dem Pförtchen zum Strome hinunter, und dort stand sie, die Hände auf das klopfende Herz gedrückt. An ihren Augen zogen die dunklen Jahre der Kindheit vorüber, in denen seine Freundlichkeit der einzige leuchtende Stern gewesen. Und nun war dieser Stern zur Sonne geworden, zur strahlenden goldenen Sonne, und die Nacht hatte sich in Tag verwandelt, in welch glückseligen Tag!

„Guten Abend, Julchen!“ rief eine helle Stimme hinter ihr.

Sie schrak empor und wandte sich um.

„Was stehst Du da und schaust ins Wasser wie eine, die sich das Leben nehmen will?"

„Guten Abend, Thereschen!“ erwiderte das Mädchen mit einem leisen Seufzer, und an die Mauer des Nachbargartens tretend, reichte sie die Hand hinauf zu der lichten Frauengestalt, die sich im Mondschein zierlich und leicht wie eine Elfe aus dem rebenumwachsenen Rahmen bog.

„Wie geht’s Dir, Kleine?“ fragte Therese weiter; „ich gratulier’ Dir auch schön zum Geburtstag! Wär’ gern hinübergekommen, aber früh sah ich Dich an der Wäsche schaffen, und nachmittags kam Deine Tante auf Besuch mit dem Herrn Doktor, und Du weißt ja wie der Vater ist – allemal glückselig, wenn er eine verständnißvolle Seele findet, die er in den Keller schleppen kann. Sie sind bei uns geblieben zum Abendessen und eben erst wieder heimgegangen.“ Das zarte Gesicht, von goldflimmerndem Haar umgeben, lächelte schelmisch zu der jungen Nachbarin hinunter

„Hör’, Julchen, ich glaub’ Euer Doktor singt da – das macht Vaters Rauenthaler.“

Und wirklich scholl des Doktors tiefe Stimme durch den Garten:

„Nur am Rheine will ich leben,
Nur am Rhein geboren sein,
Wo die Berge tragen Reben
Und die Reben goldnen Wein!"

Die Mädchen lauschten mäuschenstill. Der Sänger jenseit der Mauer kam näher, nun war er aus dem Garten getreten, die Treppe zum Wasser hinabgestiegen und nun koppelte er den Nachen los und ruderte sich hinaus in den breiten Silberstreifen, der auf dem Wasser zitterte, wie er es als Knabe unzählige Male gethan hatte.

„Gute Nacht!“ sagte Julia leise zu der Freundin und schlüpfte in den Garten. Diese aber achtete nicht darauf; sie winkte mit einem Tuche zum Strome hinüber und rief: „Weiter singen, weiter singen, Herr Doktor! Aber nehmen Sie sich in acht vor den Nixen!“

Und als Julia sich umwandte, da schien ihr das Thereschen selbst eine Nixe zu sein in ihrem schimmernden Blondhaar und dem weißen duftigen Gewand; aus dem Nachen aber kam keine Antwort, und das Mädchen lächelte selig vor sich hin. und wenn alle blondhaarigen Nixen des ganzen Stromes kämen, sie fürchtete sie nicht, sie glaubte und liebte.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 22, S. 677–687

[677] In der Nacht nach der Ankunft Fritz Roettgers wurden in dem alten Hause an den Frieder zwei Briefe geschrieben. Tante Riekchens Brief lautete:

 „Mein Herzensbub’!

Anbei schicke ich Dir das gewünschte Geld. Es thut mir leid, daß Du so viele Ausgaben hast; es ist ein kostspielig Ding mit dem bunten Rocke, und gar in Berlin. Aber die Zeit dort wird herumgehen, und in Deiner Garnison kannst Du dann wieder einfacher leben, nicht wahr, Frieder? – Ich hatte einen kleinen Streit mit Tante Minna dieses Geldes wegen; sie meint, Du gäbest mehr aus, als Du müßtest. Sie weiß nichts von den Ansprüchen, die an einen Offizier gemacht werden; wir hatten nie einen Militär in der Familie. Ich traue Dir und glaube, daß Du, Deiner alten Tante zu lieb, keine Luxusausgaben machst. [678] Du weißt, wie das Geld im Werthe gesunken ist, und weißt auch, daß ich für Deine Schwester mit sorgen muß.

Glückselig bin ich, daß Du zu Pfingsten kommst, es wird für mich der Sonnenschein der Festtage werden. Fritz ist hier; er sagt, er habe Dich selten oder gar nicht gesehen in Berlin. Ich bitte Dich innig, sei verträglich mit ihm, Ihr seid doch jetzt keine Kinder mehr. Behüte Dich Gott, Herzensliebling! Immer Deine Dich wie eine Mutter liebenbe Tante
Friederike Trautmann.“ 

Und Julia schrieb auch:

„Lieber Frieder! Ich schicke Dir acht Thaler, die ich mir erspart habe. Bitte, bitte, schreibe nun aber Tante nicht so bald wieder um Geld; sie hat, glaube ich, ernstliche Sorgen. Es that mir recht weh, in Deinem heutigen Briefe an mich zu lesen, daß Du gar nicht auskommst. Wärst Du doch. nach Tantes Wunsch, lieber Ingenieur oder Beamter geworden als Offizier! – Aber da ist nun nichts zu ändern. Die Tante sieht recht elend aus. Sag’ ihr nicht, daß ich Dir Geld schickte, ich habe es mir heimlich verdient! Ich wollte so gern Malstunden nehmen dafür, aber so ist’s auch gut verwendet. Ich danke Dir auch für Deinen Glückwunsch und bin wie immer
Deine treue Schwester Julia.“ 

Und diese beiden Schreiben brachte in Berlin ein Offiziersbursche seinem Herrn eines Sonntagsmorgens gegen zehn Uhr ans Bett, nebst einer Geldanweisung. Das verdrießliche Gesicht des hübschen jungen Lieutenants ward ein wenig heiterer, als er die Goldstücke klimpern hörte, die der Briefträger im Nebenzimmer, einem eleganten kleinen Salon, auf den Tisch zählte, der noch die Reste eines feinen Abendessens trug.

„Na, Gott sei Dank! Wenig genug ist’s freilich!“ murmelte er. Die Briefe ließ er vorläufig liegen, sie interessierten ihn beide nicht. Er haßte überhaupt sogenannte Familienbriefe. Die Zärtlichkeiten der alten Tante waren ihm ungemüthlich, und seine Schwester – – großer Gott, dieser dicke Brief! Was mochte sie wollen? Er gedachte dieser Schwester immer mit einem Gemisch von Mitleid und Furcht. Mitleid, weil sie eine so freudlose Jugend verlebt hatte, und Furcht, weil sie ihm, wenn sich nicht zufällig ein Mann für sie fand, eines schönen Tages zur Last fallen konnte. Wozu dieses Mädel überhaupt in die Welt kam? So unnütz wie möglich war ihre Existenz von vorn herein!

Er erinnerte sich ganz deutlich an den Tag, an dem die Kleine geboren wurde, und daß es an eben diesem Tage noch knapper als gewöhnlich im Vaterhaus zuging. Und jetzt, jetzt war die „Alte“ daheim doch auch nur so verdammt geizig, weil eben diese Schwester versorgt sein wollte! Na, zu Pfingsten mußte er also heim, es half nichts, ewig konnte er sich um den Besuch nicht drücken. Uebrigens besaß der Gedanke nichts Allzuschreckliches für ihn, denn ein Pfingsten am Rhein hat seine Reize, und die Weiber konnten doch schließlich nicht verlangen, daß er den ganzen Tag bei ihnen im Garten sitzen sollte. Bis zur Dampferstation waren es vom Hause aus nur wenige hundert Schritte, und wenn man erst da oben auf dem Verdeck stand, dann adieu Langeweile!

so überlegend, verzehrte er sein Frühstück; dann schrieb er an einen Kameraden, daß er die Einladung zu dem fidelen kleinen Souper heute abend nach dem Theater anzunehmen gedenke; beauftragte ferner den Burschen, eine bestimmte Sorte Chokoladebonbons, die Lieblingsnäscherei einer bekannten Dame, sowie einen Strauß rosa Rosen mit Maiglöckchen vermischt, die Lieblingsblumen einer anderen bekannten Dame, zu besorgen, zog sich eine eben vom Schneider gekommene moderne Civilkleidung an und begab sich in ein vornehmes Restaurant zum Diner, um ebenso vorzüglich als theuer zu speisen.

Tante Riekchen aber schloß am Pfingstheiligabend unter Thränen der Freude ihren „lieben Bub’“ in die Arme und schob seine matten Augen und seine blasse Gesichtsfarbe auf die viele Arbeit, die sein Kommando mit sich brachte, und auf die ungesunde Berliner Luft. Sie hatte seine Lieblingsgerichte bereitet und die letzten Flaschen Markobrunner aus dem Keller heraufgeholt, und Julia hatte den Tisch im Garten drunten gedeckt und einen duftenden Pfingstfliederstrauß darauf gestellt.

Sie war so glücklich! Der Bruder hatte sie erstaunt angesehen, als sie ihm entgegenkam mit leicht gerötheten Wangen und den seltsamen Augen, die so glänzend und so sammetbraun unter den Wimpern hervorblickten; mit den Purpurlippen hinter denen die prächtigen Zähne schimmerten. Er hatte nie gewußt, daß sie solche Perlenzähne besaß, er hatte sie aber früher auch nie lächeln sehen, und sie lächelte jetzt, wie glückliche Menschen thun in Erinnerung an etwas Süßes, Schönes, Wundervolles.

„Grüß Gott, Frieder!“ Es klang so frisch; er begriff nicht, daß dieses Mädchen die kleine scheue vielgescholtene Mamsell Unnütz sei, die er heimlich gestoßen und gepufft und der er kein gutes Wort gegönnt hatte all sein Lebtag.

Sie trng es ihm jedenfalls nicht nach, sie war wie eine echte treue Schwester für seine Behaglichkeit besorgt – war sie doch so glücklich, und glückliche Menschen können nicht anders als gut sein. Und mit wie wenigem war sie glücklich! Wie arm waren doch eigentlich ihre Freuden! Es glaubt gar keiner, welch ein genügsames Ding eine Mädchenliebe ist. Wenn sie in aller Morgenfrühe aufstand, um die Zimmer zu ordnen, war es so köstlich, über das Treppengeländer zu lauschen, ob er schon durch den hallenden Flur nach dem Garten schritt, zum Rhein hinunter. Es war so schön, ihm ein paar Stunden später im Garten zu begegnen und einen freundlich ernsten Gruß von ihm zu erhalten. Nicht eiumal die Hand reichten sie sich, wozu auch? Julia verstand ihn; er war noch ein armer Doktor ohne Praxis, wie hätt’ er da um sie werben können? Er hatte ja einmal ganz richtig zu seiner Mutter gesagt, als die beiden in der Laube saßen und sie, die Julia, vorbeiging, um nach den Gemüsebeeten zu sehen: „Du wirst doch wohl einsehen, Mutter, daß ich vor allen Dingen hier erst festen Fuß fassen muß in meinem Beruf. Laß mich vorläufig mit allem anderen in Ruh’; es kommt jedes zu seiner Zeit, auch das Heirathen.“

Und nun gar die Tante! In ihrem ganzen Leben war die gestrenge Frau noch nicht so gnädig gegen Mamsell Unnütz gewesen als in diesem herrlichen Frühjahr. Sie rief abends unter dem Fenster nach dem Julchen, damit sie in die Laube komme; und wie flog dann das Mädchen die Treppe hinunter mit ihrem Arbeitskorb. Es war sogar einmal geschehen, daß die Frau Rath dem vielgeplagten Kinde den Berg zu stopfender Strümpfe abgenommen hatte, damit die Jugend nach der Au hinüberrudern konnte, der Doktor, Therese und Julia. Und wie wundervoll war die Fahrt gewesen! Der Doktor hatte gesungen – Thereschen ließ nicht nach, ihn zu bitten – allerhand Trauriges und Uebermüthiges durcheinander, und schließlich ein Lied, darin es hieß:

„Wo ein Röschen steht,
Wo ein Vorhang weht,
Wo am Ufer Schiffe liegen,
Wo zwei Augen braun
Uebern Strom hinschau’n,
O, da möcht’ ich fliegen, fliegen!"

Und vor ihrem Fenster drüben stand ein Rosenstöckchen, und der leichte Vorhang pflegte lustig hinauszuflattern in die Lenzluft, und waren nicht ihre Augen braun? Sie sann vor sich hin und ließ die Wellen durch ihre Finger gleiten und sah die leuchtenden blauen Mädchenaugen nicht, die den Sänger anblickten, lange und lächelnd.

Thereschen Krautner war eine hübsche und sehr elegante junge Dame. Man merkte den gediegenen Reichthum ihres Vaters an jedem Fältchen ihrer Kleidung. Sie war voll und doch zierlich gewachsen, einen halben Kopf kleiner als Julia, hatte kleine, sehr reizend beschuhte Füße und rosige runde Händchen, die in Handschuhen mit zahllosen Knöpfen steckten. Ihre Toilette fertigte ein „erster“ Schneider in Frankfurt; sie besaß ein „Boudoir“ mit seidenbezogenen Wänden und den zierlichsten Möbeln, einen Papagei und einen Lieblingshund und schaltete in dem schönen Landhaus ihres Papas als unumschränkte Herrin. Kurz und gut, Therese war ein verwöhntes Kind, deren einziger Kummer darin bestand, daß sich Papa noch gar nicht die Manieren des ehemaligen Maurergesellen abgewöhnen konnte, der vor vierzig Jahren barfuß und mit dem Ränzel auf dem verstaubten Kittel in ein thüringer Städtchen eingewandert und dort mit der Zeit Meister und als solcher Bauunternehmer geworden war, und zwar mit so großem Glücke, daß ihm die Goldstücke nur so ins Haus regneten. „Das Gold liegt an der Straße, das ist bei mir wahr geworden,“ pflegte er zu sagen, „ich hab’s dem Nest auch nicht angesehen, als ich einzog dort, daß es sich nachmals zu einem großartigen Badeort auswachsen würde. Und dort ist kein Häuschen und kein Haus, das ich nicht gebaut hätt’.“

[679] Nun hatte er sich in der alten Heimath seinen Ruhesitz hergerichtet in Gestalt einer herrlicheu Villa und saß abends in der „Traube“ am braunen Stammtisch, an der nämlichen Stelle, wo er als Lehrbub’ die gröblichste Ohrfeige seines Meisters bekommen hatte beim Steinezureichen, denn diese Gaststube wurde damals angebaut. Und wo er einst Zeter geschrien, da ertönte jetzt seine gewichtige Stimme als Stadtrath und Ehrenbürger. Er war sehr mit sich selbst zufrieden, der Herr Krautner, und konnte es ja schließlich auch sein, und daneben war er rund und gemüthlich, that gern Gutes und verzog seit dem Tode der Frau die einzige Tochter über die Maßen. Er pflegte auch zu erzählen, daß sein „Reschen“ heirathen dürfe, wen sie wolle, und wenn’s der Aermste sei – nur keinen Offizier, nimmermehr! „Eher hing’ ich das Mädchen auf,“ schloß er gewöhnlich.

Das junge Mädchen hatte nun vorläufig gar keine Gelegenheit, sich in zweierlei Tuch zu verlieben, denn in Andersheim gab es nichts Militärisches außer dem alten Steuerrath, der sich Lieutenant a. D. auf seiner Visitenkarte nannte und zu Königs Geburtstag in einer vorsintfluthlichen Uniform und einem Helme erschien, der so hoch und spitz war wie ein Kirchthurm. Thereschen wurde zwar in Ermanglung dieser Gefahr umworben von Assessoren, Lehrern, Kaufleuten, verhielt sich aber vor der Hand sehr zurückhaltend und meinte, es habe durchaus keine Eile mit dem „unter die Haube kommen“, sie wolle erst noch ihre Jugend genießen.

„Und das machst Du recht!“ pflegte der Papa mit schallendem Lachen zu bekräftigen.

Nun war also der Abend vor Pfingsten ins Land gekommen und unter dem Nußbaum hatte Julia den Tisch gedeckt. Es war ihr in ihrer Glückseligkeit gelungen, die Tanten zusammenzuschmeicheln, so daß nach langen Jahren die Bewohner des Hauses wieder an einem Tische vereinigt saßen. Die jungen Männer waren soviel als möglich auseinander gerückt – sehr gemüthlich schien es sich überhaupt vor der Hand nicht anzulassen, dies Beisammensein. Der elegante Offizier im hellgrauen Frühjahrscivil, mit tadellos gepflegtem Haupt- und Barthaar und den unglaublich langen Nägeln an den seinen weißen Händen, stach gewaltig ab gegen den breitschulterigen jungen Arzt, der eine nette leichte Hausjoppe trug und den alten Strohhut, den die Frau Rath noch von früheren Ferien her aufgehoben, der Hitze wegen recht weit auf den Hinterkopf geschoben hatte. Der Fritze war so recht der lustige Rheinländer, obgleich diese fröhliche Art, das Leben zu nehmen und zu genießen, nur wie ein Schleier über dem Ernste lag, der doch den Kern seines Charakters ausmachte. Die Abneigung der beiden Männer aber war die alte geblieben.

Das Gespräch kam auf Politik. Die Räthin hörte sich gern darin und prophezeite von Jahr zu Jahr den unvermeidlichen großen Krieg. „Heuer kommt’s, paßt auf, und dann wird’s schrecklich!“

Frieder lächelte geringschätzig und drehte den Schnurrbart über eine Bemerkung des Doktors, und ehe man sich’s versah, war zwischen den beiden jungen Leuten eine höchst gereizte Unterhaltung im Gange. Der Doktor schwieg endlich und verlangte scherzend noch einmal von dem ausgezeichneten Maifisch, mit dessen Gräten er sich anscheinend so sehr beschäftigen mußte, daß er nicht mehr in der Lage war, zu reden. Dafür nahm die Frau Rath die eben beiseite gelegte Streitaxt auf, und der nervös auf seinem Teller herumstochernde Lieutenant setzte mit ihr das Gefecht fort, nur noch spitziger, denn ihn ärgerte der behaglich essende Doktor, dem die Meinung des alten Schulkameraden außerordentlich gleichgültig schien.

„Ich glaube, meine Gnädige,“ schnarrte er eben – er nannte die Räthin, seitdem er Offizier war, mit Vorliebe so – „ich glaube, Gnädige wagen sich da auf ein Gebiet, das so ganz zu beherrschen Sie doch nicht – –“

„Na! Jetzt schlägt’s dreizehn!“ rief die geärgerte Frau. „Will mir der Kiekindiewelt etwa sagen, daß ich nicht mitsprechen kann? Deine neugebackene Weisheit imponiert mir noch lange nicht, mein Sohn und die Geschichte vom Ei, das klüger sein will als die Henne, gilt nicht bei uns – hast’s verstanden?“

„Mutter!“. rief der Sohn beschwichtigend, als sie noch weiter reden wollte. Aber da verstummte sie auch schon und ihr zornrothes Antlitz lächelte zuckersüß; durch den Weg daher kam nachbarlicher Besuch, der Herr Stadtrath Krautner und hinter ihm sein Töchterchen. Im Nu waren die Gemüther beruhigt unter dem behaglichen Lachen des alten Herrn und dem glockenreinen „Guten Abend!“ des hübschen Mädchens. Man räumte die Teller ab und trug den Nachtisch auf. Die Räthin aber hakte das Schlüsselbund vom Gürtel und schickte ihren Sohn in den Weinkeller, damit der Herr Nachbar die Extrasorte, von der sie geredet – „Sie wissen schon, Herr Stadtrath“ – proben könne; es sei der Lieblingswein ihres seligen Mannes gewesen.

Julia kam eben mit ein paar Windlichtern die Treppe im Hause herab, als Fritz wieder aus dem Keller emporstieg. Einen Augenblick stockte ihr Fuß; sie sah sich nach ihm um, aber er nickte ihr nur flüchtig zu und öffnete die Thür zur Küche. In dem röthlichen Scheine des Lichtes meinte sie, er sehe verdrießlich aus. Ob er sich geärgert hatte über den Frieder? Es war ihr ein unerträglicher Gedanke. Sie wartete, bis er mit den Flaschen wieder aus der Küche zurückkam.

„Fritz,“ forschte sie stockend, „bist Du bös auf den Frieder?“

Er sah zerstreut empor und seine Hand berührte leicht ihre Schulter. „Nein, mein lieb Kind!“ Dann verschwand er auch schon in der Gartenthür.

Gedankenvoll und enttäuscht ging sie ihm nach. Wenn er doch einen Augenblick für sie übrig gehabt hätte; er war ja freundlich gewesen aber so – so flüchtig, so zerstreut. Sie kam zum Tische und stellte die Lichter darauf; ihr Stuhl war von Thereschen besetzt. Sie blickte nach dem anderen Ende des Tisches, wo vorhin der junge Arzt gesessen – dort hatte sich der Herr Stadtrath niedergelassen. Fritz saß oben neben Thereschen und auf ihrer anderen Seite der Frieder. Es dachte niemand daran, ihr einen Stuhl zu holen, sie mußte es selbst thun. Als sie aber zu dem entfernten Gartenplatz kam, von wo sie ihn herbeitragen wollte, setzte sie sich dorthin und blickte zu der Gruppe unter der Kastanie hinüber. unverwandt, mit sehnsüchtigen Augen. „Ob er Dich nicht vermissen wird?“ fragte sie sich, und ihre brennenden Augen hingen an ihm, der den Rauch einer Cigarre in diskreten kleinen Wölkchen vor sich hinblies, ohne sich an dem sehr belebten Gespräch zu betheiligen, das seine Nachbarin mit dem Lieutenant führte.

Er müsse es fühlen, wie sie ihn anschaue, sagte sie sich, aber ihre Blicke schienen die geheimnißvolle Macht nicht zu haben. Das laute Lachen des alten Herrn scholl in regelmäßigen Pausen zu ihr herüber. Dann stand Tante Riekchen auf und ging langsam dem Hause zu. Der Platz neben ihm ward frei, doch Julia rührte sich nicht; sie fühlte sich so müde, sie hätte weinen können. Dann klopfte ihr Herz stürmisch – er erhob sich und kam den Weg unter den Weinlauben daher, just auf ihren Platz zu. Athemlos wartete sie. „Ein Wort nur, ein gutes Wort!“ flüsterten ihre Lippen; aber kurz vor ihr wandte er sich um, ohne sie erblickt zu haben, und schritt dem Rheine zu. Da blieb er an der Mauer stehen und sah auf den dunklen Fluß; gegen die Strömung arbeitete sich eben ein Schleppdampfer, dessen Gefolge von Lastkähnen nach der Zahl der hellen Laternchen zu berechnen war. Der Doktor ging nicht wieder zurück an den Tisch; erst als die Räthin ihre Stimme erschallen ließ: „Fritz, Fritz, die Herrschaften wollen heim!“ wandte er sich um, und just in der Nähe von Julias Platz trafen sich er und Thereschen Krautner.

„Wo steckten Sie denn?“ rief das junge Mädchen.

„Haben Sie mich vermißt?“ fragte er leise und bog sich zu ihr hinunter.

Sie schwieg wie verlegen.

„Gute Nacht, Fräulein Therese,“ sagte er nur, und ihre Hände ruhten einen Augenblick ineinander; als dann der Lieutenant hinzutrat, zog er förmlich den Hut und wandte sich aufs neue schweigend in die dunklen Gänge.

Und Julia that ihre Pflicht; sie setzte dse Teller zusammen und die Gläser und faltete das Tischtuch. Sie hörte, wie die Räthin, die von dem Geleit der Gäste zurückkehrte, ärgerlich nach ihrem Sohne rief.

„Wenn Du nicht schon so ein alter Mensch wärst, müßt’ ich Dich wirklich schelten! Was hast Du davonzulaufen? Wahr ist’s doch, daß die Soldaten Euch Gelehrten über sind in so Sachen!“

„In was für Sachen?“

„Na, verstelle Du Dich und noch einer!“ sprach sie leiser. „Uebrigens brauchst Du keine Bang’ zu haben, so ein –“

[682] Julia wandte sich weg, so hörte sie die schmeichelhafte Bezeichnung nicht mehr, welche Frau Rath ihrem Bruder spendete.

Und sie schlief doch ein, die kleine Mamsell Unnnütz, trotzdem ihr das Herz schwer war von einem bangen Gefühl. Aber sie holte ihr altes Beruhigungsmittel hervor – sie drückte das dunkle Köpfchen in das Kissen und durchlebte mit geschlossenen Augen noch einmal die seligen Minuten dort oben in ihrem Dachkämmerchen. Ach, Fritz war ja sicher nur in den Garten hineingewandert, weil sie nicht mehr am Tische saß – sicher – ganz bestimmt! und mit dieser seligen Ueberzeugung schlief sie den tiefen traumlosen Schlummer arbeitsmüder junger Menschen.


Der Herr Lieutenant dachte gar nicht daran, den Pfingstausflug zu unternehmen, von dem er gesprochen hatte, und Mamsell Unnütz, die eigentlich mit Genehmigung der Tante am ersten Feiertag nur ein ganz einfaches Gericht bereiten wollte, mußte nun ihren Kirchgang aufgeben und am Kochherd stehen, denn nach Tante Riekchens Begriffen war ein auf Pfingsturlaub gekommener königlich preußischer Lieutenant unmöglich mit einem Eierkuchen abzuspeisen.

Julia fügte sich ohne Seufzen, es konnten nicht alle Leute feiern. Der Fritz war ja auch auf Berufswegen fort, er hatte schon vier Patienten! Wie eifrig horchte das junge Mädchen auf die neue Klingel im Hausflur, die extra für den jungen Arzt angebracht war und, so recht eine Unheilsbotin, einen grellen schrillen Ton hatte. Auch heute war er schon früh weggegangen, und Julia hatte erfahren, daß der Onkel Doktor ihn zu einer Konsultation in seinem Wagen über Land mitgenommen habe.

Der Bruder zog sich gegen Mittag die Uniform an und ging säbelklappernd die Treppe hinunter durch den Flur, um einen Besuch bei Krautners zu machen. Er kam freilich sehr bald zurück, denn Papa Krautner saß bereits bei Tisch, obgleich die Glocke eben erst Zwölf schlug; und daß der beim Essen nicht gestört werden dürfe, hatte das Stubenmädchen bestimmt versichert. Der Herr Lieutenant war nun drauf und dran, Julias Kalbsbraten im Stich zu lassen und das nächste beste Schiff nach Rüdesheim zu besteigen, damit er die hiesige Langweiligkeit besser überstehe. Da kam er von ungefähr auf eine andere Idee. Er trat in die kleine saubere Küche, wo die Schwester herumhantierte, und fragte, was sie nun den ganzen heutigen Tag anfangen wolle.

„Ich sitze im Garten mit meinen Büchern,“ war die Antwort.

„Mit Deinen Büchern?“

„Ja, ich lese so gern.“

„Aber das ist ja schrecklich langweilig! Giebt es denn kein einziges junges Mädchen, mit dem Du verkehren kannst?“ fragte er.

„Doch, Thereschen kommt mitunter; es kann sogar sein, daß sie mich heute besucht. Sie liebt den Pfingsttrubel auch nicht, und Sonntags ist sie fast immer hier.“

„Da hat sie recht, ich mach’ mich auch nicht gern populär,“ gab er zu. „Wie wär’s denn, Julchen, wenn wir uns ganz in die Einsamkeit flüchteten und ich ruderte Euch hinüber auf die Au?“

„Das wäre schön von Dir!“ sagte die Schwester, „drüben ist sicher niemand!“

„Wir machen uns gegen Abend eine Bowle, und Du sorgst für das Essen,“ schlug er vor.

Sie nickte. „Vergiß nicht, den Fritz aufzufordern, Frieder,“ bat sie und sah nach der anderen Seite, denn sie fühlte, sie war roth geworden.

Er schien es nicht zu hören und beeilte sich, aus der dunstigen Küche zu kommen; in seiner Stube warf er sich auf das Sofa und spann goldene Zukunftsfäden.

Am Nachmittag ruderte er die beiden jungen Mädchen nach der Au hinüber. Die ganze Luft war voll Fliederduft, die Schiffe trugen bunte Wimpel und der Strom war belebt von Nachen mit festlich gekleideten Menschen. Auf der Au war es desto einsamer, da stand kein Wirthshaus.

Der junge Offizier kettete das Boot an einen überhängenden Baum, und die drei schlugen einen grasbewachsenen Pfad ein, der an die westliche Spitze der Insel führte, wo, wie der Lieutenant behauptete, der herrlichste Platz für die Hängematte des Fräulein Therese und die schönste Aussicht sei. Julia folgte; ihr ernstes blasses Gesicht trug einen Anflug von Enttäuschung – Fritz war nicht mitgefahren, war überhaupt noch gar nicht heimgekommen. Sie achtete weder auf die ungewohnte Redseligkeit ihres Bruders, der einen wilden Apfelbaum seiner Blüthen beraubte zu einem Strauße für Fräulein Therese, noch verstand sie, was er ihr sagte.

Das Plätzchen, welches er ausgesucht hatte, war aber in der That wunderschön, und als Thereschen in der niedrigen Hängematte schaukelte und ihr weißes Kleid wie eine Wolke um sie schwebte, als sich der Lieutenant auf ein Tuch zu ihrer Seite gelagert hatte, nahm Julia ihr Buch und vertiefte sich mit soviel Eifer darein, daß sie bald von der Außenwelt nichts mehr sah. Das Plaudern und Lachen der beiden, das leise Rauschen des Wassers, das in ihr Ohr drang, stimmte gar so gut mit der Erzählung von der schönen blonden Frau auf ihrer Burg Schwarz Wasserstolz inmitten des Rheins und mit der heimlichen Liebe zu dem Sänger Hadlaub in Gottfried Kellers reizender Novelle, daß sie gar nicht bemerkte, wie die Zeit verflog und das Gespräch der beiden jungen Leute leiser, immer leiser wurde, wie endlich Pausen entstanden, lange Pausen, nur unterbrochen durch fernen Gesang oder einen nahen Seufzer und das Plätschern des Wassers gegen den Uferrand.

Und die Sonnenstrahlen streuten Funken durch das Geäst der alten Rüstern, tiefgoldene Funken, denn es wollte Abend werden. Dann flammte das Abendroth da drüben empor, der herrliche stolze Strom färbte sich purpurn, und plötzlich glühte dieser Purpurschein auch auf den Wangen des blonden Mädchens, das sich in der Hängematte aufgerichtet hatte und den Kopf halb abgewendet von dem Manne zu ihren Füßen, doch die Hand in der seinen ließ, die er wieder und wieder küßte.

„Aber so rasch – – ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll –“ sagte sie stockend; und dennoch zuckte um den hübschen Mund ein Lächeln beglückten Stolzes.

„Wenn man so mächtig empfindet wie ich, giebt es kein Zögern. Ich liebe rasche Entschlüsse und weiß auch sofort ganz, was ich will, was ich muß. Ich weiß, daß ich Sie liebe, Therese, wußte es in der ersten Sekunde, als unsere Blicke sich trafen.“

Sie riß erschreckt die Hand aus der seinen, Julia war aufgestanden und an ihnen vorüber dem Ufer zugegangen. „Dort kommt er!“ sagte sie wie für sich und schaute dem Nachen entgegen, der über das leuchtende Wasser daherschoß.

Die beiden jungen Leute hinter ihrem Rücken sahen sich an; Therese legte den schlanken Finger auf die Lippen, und noch einmal haschte er nach ihrer Hand und fühlte einen leisen Druck derselben, dann war auch er aufgesprungen.

„Guten Abend!“ tönte es gleichmüthig dem jungen Arzte entgegen, „kommst grad’ recht, um die Bowle zu mischen. Julia, packe doch den Eßkorb aus!“

„Endlich!“ rief der Doktor fröhlich. „Just als ich vor einer Stunde fort wollte – die Mntter sagte mir, daß die Herrschaften hier seien – kam noch so ein Unglücksrabe mit blutig verhauenem Kopf, und ich mußte flicken. Grüß’ Gott, Fräulein Therese!“ Und er lagerte sich neben dem Mädchen und warf den Hut auf den nächsten blühenden Strauch. „Ist es nicht ein wahrer Prachtsabend?“ setzte er hinzu.

Und dann sah er zu Therese empor, die in der rosigen Beleuchtung so frisch erschien wie die Apfelblüthe, die sie im Gürtel trug.

„Haare haben Sie wie die Lurley selbst,“ sagte er in aufrichtiger Bewunderung, „fehlt nur noch der goldene Kamm. – Julia, Du braust doch die Bowle? So ist’s recht; ich bin auch zu müde und hatte nicht Feiertag wie Ihr.“

Sie waren alle sehr fröhlich bei dem kleinen Picknick, fröhlich, wie es zumal am Rheine junge Menschen sein können, die goldenen Wein in den Gläsern haben und heimliche Liebe im Herzen. Theresens silbernes Lachen flog alle Augenblicke mit dem warmen Westwind über den Strom hinweg, und der Doktor sekundierte ihr. Der Lieutenant lachte nur hie und da, dann that er wieder einen Seufzer und ließ die blonde Lurley leben und citierte Verse: „An den Rhein, an den Rhein, zieh’ nicht an den Rhein, mein Sohn, ich rathe Dir gut!“ und seufzte abermals. [683] Nur Julia war still. Sie kauerte auf einem Baumstamm und schaute in das verglimmende Roth des Himmels. sie hatte die Hände um ein Knie geschlungen, ihr schönes Profil hob sich scharf ab von dem hellen Hintergrund. Aber obgleich sie nicht theilnahm an der lauten Fröhlichkeit der andern, war sie doch vielleicht die Glücklichste von allen, denn ihr Vertrauen war so unerschütterlich wie ihre Liebe.

Am anderen Morgen vor Thau und Tag kam der junge Offizier schon aus dem Garten. Julia traute ihren Augen nicht. Und gleich darauf pfif er so lustig in seiner Stube, daß über ihr ernstes Gesicht ein Zug der Verwunderung glitt. Und abermals verzichtete er auf die Rheinfahrt, abermals steckte er sich in die Uniform und schritt mit demselben Säbelrasseln über den Hof wie gestern. Frau Rath, die just aus der Kirche kam, blieb in der Gasse stehen und sah ihm nach, bis er hinter der schmiedeeisernen Thür des Krautnerschen Grundstücks verschwand.

Der resoluten Frau wurde auf einmal bänglich zu Muthe. Herr Gott, wenn der etwa gar – – Aber nein, so mit Sturm konnte er doch die Burg da drüben nicht nehmen! Zuzutrauen war’s ihm zwar, eine gewisse edle Dreistigkeit hatte er stets besessen – allein das Thereschen wird doch nicht? Freilich, die Mädchen heutzutage! Ein hübscher Mensch war er doch, obwohl nach ihrer Meinung gar nicht zu vergleichen mit Fritz. „Herr des Himmels, nun da wär’ ich doch neugierig!“ Mit diesen Worten setzte sich die Räthin an ihr Fenster und wartete auf die Rückkehr des Offiziers. Sie mußte lange warten, und als er endlich kam, da wurde sie nicht recht klug aus seinem Gehaben. Er klirrte womöglich noch toller als vorher mit dem Säbel, und sein sooft bleiches Gesicht war geröthet – aber ob vor Glück oder Enttäuschung, das konnte sie nicht ergründen.

Es dauerte nicht lange, da erscholl droben seine Kommandostimme: „Julia! Julia!“

Das junge Mädchen, das bei der verdrießlichen Tante gewesen war, um mit ihr die betrübende Thatsache festzustellen, daß für die jetzige opulente Wirthschaft das Monatsgeld nicht reichen werde, und dabei manchen kleinen Hieb geduldig aufgefangen hatte, stürzte erschreckt in die Stube des Bruders.

„Hier bin ich, Frieder – um Gotteswillen, was giebt’s?“

Er hatte die Uniform aufgerissen und lief im Zimmer umher. „Kannst Du reinen Mund halten?“ fragte er endlich.

„Ich verstehe Dich nicht. Wenn Du mir etwas anvertrauen willst, so rede ich selbstverständlich nicht davon.“

„Du mußt mir helfen!“ forderte er, „hörst Du?“

„Immer, wenn’s in meiner Macht steht, Frieder.“

„Es hat eine ganz verdammte Geschichte gegeben,“ fuhr er leiser sprechend fort. „Therese und ich – –“

„Thereschen und – Du?“

„Ja, Therese und ich haben uns heute früh verlobt. Reiß’ doch die Augen nicht so auf – Du glaubst nicht, wie thöricht Du dann aussiehst. Ist’s denn etwas nie Dagewesenes, daß sich ein junger Lieutenant und ein hübsches Mädchen verloben?“

„O Gott!“ stammelte das Mädchen, „wie mich das freut!“

„Ja, hat sich was! Als ich vorhin zu dem alten Philister komme und ihn um seine Einwilligung bitte, da bedankt er sich für die Ehre, und – und – nun, kurz und gut – einen Korb, aber keinen feinen! So einen!“ Und er fuhr mit der Hand in der Luft umher, damit den Umfang dieses Korbes andeutend.

„Und Thereschen?“ fragte sie.

„Habe ich gar nicht erblickt. Ich versicherte dem alten“ – er gebrauchte eine ziemlich respektwidrige Bezeichnung, die einem Thiere mit langen Ohren zukommt – „daß Therese nicht von mir lassen würde; da erklärte er gemüthlich lächelnd und immer die Hände mit dem Siegelring am rechten Zeigefinger auf dem Magen, daß ich mich nicht ängstigen solle, die habe ‚Ordre parieren‘ gelernt und werde ‚Raison‘ annehmen. Ein furchtbarer Mensch, und sein Deutsch! Da muß sich unsereins – es ist zum Radschlagen!“

„Arme Therese! Und sie hat Dich lieb?“

„Solche Frage! Und ob! Jetzt aber will ich ihr Nachricht schicken, einen Trost, verstehst Du? Du mußt hinüber; der Alte schläft nach Tisch. Sag’, ich müsse sie noch einmal sprechen und ich bliebe ihr treu bis in alle Ewigkeit, und ihr Vater müsse sich erweichen lassen, sie sei ja doch sein Liebling, sein einziges Kind.“

Der junge Offizier setzte sich wie erschöpft in eine Sofaecke, alle Qualen der Enttäuschung zuckten in seinem bleichen Gesicht. Er schlug plötzlich hart mit der Faust auf den Tisch. „Und alles wäre gnt gewesen, alles!“ mnrmelte er.

„Ich will es Therese bestellen; Ihr thut mir leid,“ sprach Julia mitleidig. „Ich denke auch, wenn Ihr so recht zusammenhaltet, muß der Väter endlich nachgeben, er hat doch das Reschen sehr lieb – –“

Das war ein recht böser Tag. Bei Tische begann Tante Riekchen plötzlich, ohne sich vor Julia zu scheuen, die sie sonst allen Unterredungen mit dem Bruder fernhielt, mit fast heiserer Stimme dem Pflegesohn mitzutheilen, daß sie leider nicht mehr in der Lage sei, ihm ganz soviel Zulage zu geben wie bisher. Sie brachte es mit gesenkten Augen hervor, als schäme sie sich, ihre gedrückte Lage einzugestehen.

Er lachte laut und hart auf und trank sein Weinglas mit einem Zuge leer. „Gesegnete Mahlzeit!“ rief er dann, warf die geballte Serviette auf den Tisch und die Thür hinter sich zu.

Riekchen Trautmann wischte sich eine Thräne aus den Augen.

„Tante!“ sagte Mamsell Unnütz, die Hand leise und scheu auf die durchsichtige zitternde Rechte des alten Fräuleins legend, „Tante, sei nicht traurig, wir werden es schon machen, daß alles in die Reihe kommt – wir verkaufen das Haus, gelt? Und dann bist Du ganz reich, und wir miethen ein kleines neues Quartier mit der Aussicht auf den Rhein, und da mache ich es Dir so traut, so traut, daß Du dies alte große Haus, das Dir nur eine Last ist, gar nimmer vermißt.“

Aber ihre Hand wurde jäh fortgeschleudert. „Wie kannst Du auch wissen, was eigene Scholle bedeutet? Keine Spur von Pietät ist in Dir, sonst würdest Du nicht reden, als sei ein Hausverkauf dasselbe wie ein Butterbrot streichen!“

Julia sah sie traurig an. „Ach, wenn Du eine Ahnung hättest, wie ich dies alte Haus liebe“ – wollte sie sagen. Aber sie schwieg, sie schwiegen beide.

Als das junge Mädchen mit den Tellern hinausgegangen war, schlug die Zurückbleibende die Hände vor die Augen, und die Thränen quollen ihr durch die Finger. Sie hätte hinter dem Kinde herlaufen und ihrer Härte wegen um Verzeihung bitten mögen und brachte es doch nicht über sich. Julia aber schlüpfte bald danach durch die Gartenpforte vom Rhein aus in das Krautnersche Grundstück. Ungesehen kam sie in das Haus und durch den Gartensaal, der mit fast allzugroßem Reichthum an ostindischen Matten, Bambusmöbelm und japanischen Fächern ausgestattet war, in das Boudoir der Freundin. Die Jalousien der breiten Fenster waren heruntergelassen; es herrschte ein gedämpftes Licht in dem Raume und ein ganz betäubender Duft von Eau de Cologne und irgend einem süßen exotischen Parfüm, welches das junge Mädchen für ihren Toilettetisch liebte.

Die hellblauen rosageblümten Möbel mit den verschnörkelten Goldgestellchen waren unordentlich durcheinander geschoben; vor dem Kamin lagen die Scherben einer Porzellanstatuette und auf einem Ruhebett kauerte, einen zerbrochenen Fächer bewegend, im reizenden aber ganz zerknitterten weißen Anzug, mit trockenen trotzigen Augen, das Opfer ihres grausamen Vaters, Therese Krautner. Als sie der Freundin ansichtig wurde, die fast feierlich ernst an ihr Lager trat, warf sie den Kopf nach der anderen Seite und begann zu weinen.

„Armes Reschen!“ Und das blasse Mädchenantlitz bog sich über die Verzweifelte, „ach, muß das herb sein! Aber fasse Muth, Frieder läßt Dich grüßen und er bleibt Dir treu. Er schickt mich eben zu Dir, Du solltest nicht verzagen. Treue Liebe kann alles bezwingen, und der hartherzigen Väter hat es mehr gegeben, Reschen.“

„Ei – ei – ei!“ scholl es hinter ihr, „hartherzig sagen Sie, kleines Fräuleinchen?“ Und Herr Stadtrath Krautner, der unbemerkt eingetreten war, stand, die Hände auf dem rundlichen Bäuchlein gekreuzt, das rothe Vollmondgesicht zum behaglichen Lachen verzogen, hinter dem erschreckten Mädchen. „Bin durchaus kein hartherziger Rabenvater,“ sprach er weiter und strich Julia mit dem Rücken der Hand über die Wange, „bin man bloß ein erfahrener Mann, der sein verblendetes Kibd nicht mit gleichen Füßen ins Unglück springen läßt. Ja, ja ins Unglück, [684] lieb Herzchen! Aber das versteht Ihr nicht, weil Ihr allesammt grad im allerthörichtsten Lebensalter steht.“

„Lieber Herr Krautners“ – Julia hatte beide Hände erhoben – „wenn sie sich aber doch so lieben, so sehr lieben –“

„J – glauben die beiden ja selbst nicht,“ lachte er, „und der stirbt nicht dran, und die stirbt nicht dran, ich kenn’ sie besser. Und nun, Reschen, bitt’ ich mir aus, daß das Geflenn’ aufhört – hast’s verstanden!“

Das junge Mädchen hatte sich emporgerichtet. „Daß Du es nur weißt, Papa,“ rief sie mit zornigen Augen, „ich lasse nicht von ihm – nie, nie!“

„Nun, darüber reden wir schon noch,“ war die Erwiderung.

„Und wenn Du denkst, ich werd’ ihn mit der Zeit vergessen, so – –“

„Ja, das denk’ ich, Töchterchen!“

„So irrst Du Dich, und hier, in Gegenwart von Julia, sag’ ich’s Dir, hast Du nicht von heut’ ab in einem Jahre diese Verlobung zugegeben, so – –“

„Nehme ich einen andern!“ vollendete er.

„Wollen sehen,“ sagte sie.

„Ja, wollen sehen, hast recht. Und nun kannst Du Dir alles wünschen, was Dein Herz begehrt, bloß nicht zweierlei Tuch; ich spaße nicht, hab’s mal geschworen – warume? kann Dir gleich sein. Also, kein zweierlei Tuch im allgemeinen und dieses da im besonderen nicht! Nichts für ungut, kleines Fräuleinchen,“ wandte er sich an Julia, „aber sagen Sie selber – kommt mir da ein wildfremder Mensch hereingeschneit und will nicht mehr als alles, und das heißt viel, verstehen Sie? Es könnt’ manchem passen, o ja, aber wenn die da eine so Dumme ist, die sich in einer Viertelstund’ verblenden läßt – ich bin’s nicht. Klaren Kopf! heißt’s bei mir. Alois Krautner hat immer ’nen klaren Kopf, sonst hätt’ er’s nie soweit gebracht. Gehorsamster Diener!“

„Du hast eben nie geliebt,“ sagte sein Töchterlein mit verächtlich zuckender Lippe.

„Ich? Alle Wetter! Und ob! Aber mit Verstand, Du Naseweis! Und sauer hab’ ich mir’s werden lassen, ehe ich vor ihren Vater getreten bin und gesagt habe: „Gieb’ mir Deine Hanne und Deinen Segen, ich kann einen Hausstand gründen, ich kann ein Weib ernähren und noch mehr dazu.“ Da liegt der Hase im Pfeffer, merkst was? Und nun ist’s das letzte Wort gewesen, damit basta und nix für ungut!“

Er ging, machte die Thür zu, und von draußen herein erklang sein Pfeifen. Es war der Alte Dessauer, den er immer nur pfiff, wenn ihn etwas schwer erregte. Sogar als sein vergöttertes liebes Hannchen starb, war er mit herabrollenden dicken Thränen im Zimmer auf- und abgegangen und hatte sein: „So leben wir“ gepfiffen.

„Da siehst Du es, wie traurig mein Leben ist,“ sagte das hübsche Mädchen bitter und strich die wirren Blondhaare aus dem heißen Gesicht. „Verständniß, ein feineres Empfinden ist gar nicht vorhanden. Und weißt Du, Julia, als ich versuchte, ihn zu rühren, ihm erzählte, wir hätten uns unser künftiges Leben schon so schön ausgemalt, wir wollten uns in die Nähe versetzen lassen; seine herrliche Heimath, sein Rom, hätte er mir zeigen wollen auf der Hochzeitsreise, da lachte er, als hätt’ ich den köstlichsten Witz gemacht, und meinte, das sei für zwei Tage der Bekanntschaft alles mögliche! Und ob wir uns auch schon einen Bädeker gekauft hätten? Und er und Mama hätten vor Zeiten in einem Ding von Hotel gewohnt in Rom, wo sie sich äußerst wohl befunden haben würden, wenn sie einen Ofen und recht viel Insektenpulver gehabt hätten. O Gott, wie kann man das Heiligste so herabziehen! Aber Du, Julchen, Du mußt uns helfen!“ rief sie aufspringend. „Bleibt Vater so halsstarrig, dann laufen wir davon – ja bei Gott! Sag’s dem – dem Lieutenant Adami – ich –“ Sie stockte plötzlich, es kam ihr wohl etwas stark vor, dem Lieutenant den Vorschlag machen zu wollen. „Wenigstens,“ fuhr sie kleinlaut fort und zupfte an ihrem Taschentuch, „wenigstens mußt Du unsere Briefe vermitteln, uns helfen, daß wir uns sehen können, lieb Julchen!“

Julia antwortete nicht; sie sah starr vor sich hin, eine kleine düstere Falte zwischen den schön geschwungenen Brauen.

„Hörst Du?“ rief Therese ungeduldig, „Du sollst uns helfen! Heut’ abend noch will ich ihn sprechen! Du hast Dein Bodenstübchen, Dein Atelier, niemand wird uns dort suchen und Du mußt zu Deiner Tante sagen, es sei – –“

„Nein!“ kam es kurz und hart von Julias Lippen.

„Deinen eigenen Bruder willst Du nicht unterstützen? Mich nicht, Deine einzige Freundin?“ rief Therese, die sich vor dem Spiegel die Stirnhärchen ordnete und ein Tuch, in kaltes Wasser getaucht, gegen die Augen drückte.

„Nein, Therese, eben weil er mein Bruder ist. Ich will nicht dazu helfen, daß es aussieht, als wolle er Dich aus reinem Eigennutz, und – ich denke, Ihr helft Euch allein. Echte Liebe kommt schon zum Ziele.“

„Bist Du ein albernes Ding!“ fuhr das blonde Mädchen zornig heraus. „Wie soll ich mir allein helfen? Kennst Du meinen Vater noch nicht? Kein Brief kommt anders in das Haus als in verschlossener Postmappe, und bewachen wird er mich von Stunde an auf Schritt und Tritt, und –“

„Mit dem Heimlichthun und dem Schreiben hinter seinem Rücken werdet Ihr Euch allerdings nicht helfen. So meinte ich es nicht,“ antwortete Julia. „Zeig’s dem Vater, daß Deine Liebe stark und treu ist, er wird sich dann doch erweichen lassen; und am Ende, wenn Dich der Frieder gerade so stark und ehrlich liebt, wird er Dir zulieb auch etwas anderes werden als Offizier, er ist doch noch jung – wenn’s eben nur das ist, daß Dich Dein Vater keinem Offizier geben will. Darin würde ich meinem Bruder zureden.“

„Sehr gütig!“ klang es gereizt und enttäuscht zurück. „Aber ich meine, er ist just zum Offizier geschaffen, und meinetwegen soll er nicht umsatteln.“

„Auf den Stand kommt’s doch nicht an, wenn Ihr Euch so gern haben wollt!“ rief Julia entrüstet. „Liebst Du den Rock oder den Menschen?“

Therese antwortete nicht.

„Wenn er nun, zum Beispiel, Landwirth werden könnte?“ drängte Julia.

„Bitte,“ stieß Therese ärgerlich hervor, „spar’ Deine Rathschläge, die von sehr großem Mangel an Lebensklugheit zeugen. Geh’ lieber zu ihm und sage, daß ich ihn noch einmal sprechen will, das kann kein Mensch mir verwehren. Oder nein, laß es – Du machst ja ein Gesicht, als ob ich Dich zum Stehlen verführen wollte. Nicht einmal dazu bist Du zu gebrauchen! – – Gott im Himmel, ich verlange jetzt nur noch eins von Dir, bekümmere Dich nicht um die ganze Geschichte, gieb mir die Hand darauf, ich werde mir allein helfen – so. Sag’ dreimal ‚Wahrhaftig‘ darauf, daß Du keiner Seele gegenüber mich verrathen willst.“

Julia hatte die Hand gegeben, aber sie blieb stumm. Und Therese achtete nicht mehr auf das ernste Gesicht der Freundin. Sie saß am Tische und schrieb mit fliegender Eile ein paar Worte auf einen blaßlila Bogen mit goldenem Monogramm. „Leb’ wohl!“ murmelte Julia und ging betrübt durch den Garten zurück nach dem heimathlichen Grundstück.

Unter den Nußbäumen stand der Bruder; er sah noch blasser und nervöser aus als sonst. „Nun?“ fragte er ungeduldig, „Du bist eine Ewigkeit geblieben, wie auf der Folter ist mir’s vorgekommen. Was sagte sie?“

„Sie will Dir treu bleiben, Frieder – aber –“

„Aber?“

„Aber der Vater will’s nie zugeben.“

Er athmete auf. „Wenn sie nur will –“ sagte er leise.

Er dankte der Schwester nicht einmal; eilig schritt er nach seiner Stube hinauf und schrieb an Moses Aronsohn in Berlin, daß besagter Herr sich noch ein Weilchen gedulden möge; er habe eine reiche Partie so gut wie sicher, es sei nur noch der Widerstand des Vaters zu überwinden. Wenn aber Herr Aronsohn die Klage beim Regiment einreiche, so sei diese Heirath in Frage gestellt und er bekomme dann nichts, da seine Tante ihr Vermögen verloren habe. Ergebenst u. s. w. Er trug den Brief selbst zur Post und kehrte mit leichterem Herzen zurück, als er es seit Monaten gehabt. Und in der Nähe des Hauses ging langsam ein hübsches Dienstmädchen an ihm vorüber und schob ihm ein kleines blaßlila Couvert in die Hand. Seine Augen leuchteten auf, und kaum war er in seinem Zimmer angelangt, als er hastig den Umschlag erbrach. Therese bat ihn in das [686] alte Gartenhäuschen ihres Grundstücks zu kommen „in der neunten Stunde, wenn Papa in der ‚Traube‘ sitzt.“

Als Julia schon am Einschlafen war, so gegen elf Uhr, wurde sie durch ein Klirren an ihrem Fenster emporgeschreckt. Sie kannte des Bruders Gewohnheit von früher her, Kies an die Scheiben zu werfen, wenn er das Haus verschlossen fand. Sie kleidete sich rasch an und huschte die Treppe hinunter, um die Hausthür zu öffnen, in der stets der Schlüssel von innen stecken blieb – die Räthin wollte es so, weil dann die Dietriche der Diebe machtlos seien. Ueber die Schwelle trat Frieder.

„Ihr geht wahrhaftig mit den Hühnern zu Bett,“ scherzte er und schritt ganz leise, eine lustige Melodie summend, die Treppe hinan. „Gute Nacht!“ flüsterte er vergnügt droben im finsteren Flur und hielt die Schwester am Aermel fest. „Die Therese ist ein süßer Schatz, sag ich Dir; und Mädel, wenn die Hochzeit ist, schenke ich Dir ein Staatskleid, verstehst Du? Und nun sei gut und lieb zu meiner kleinen Braut und spiele Dich nicht als moralischen Richter über uns auf. Wenn Du erst einmal selbst einen liebst, wird Dir’s einleuchten, daß man vor solch altem Philister nicht gleich ‚kusch‘! macht und daß so was Heimliches auch sein Schönes hat. Aber ich glaube, Du Eiszapfen kannst Dir gar keine Vorstellung machen vom ‚Gernchaben‘. Gute Nacht und – Verschwiegenheit! Verstanden? Sonst geht die Sache in die Brüche.“

„Gute Nacht!“ sagte sie, und in ihrem Abendgebet hatte sie noch etwas mehr vom lieben Gott zu verlangen als sonst; daß er helfen möge, die beiden zusammenzuführen, daß er ihnen Kraft gebe, alle die Schwierigkeiten zu überwinden, und den Sinn des Vaters zur Nachgiebigkeit lenke.


Das Gesicht der Räthin hatte nie so von innerer Befriedigung geleuchtet wie in diesem unfreundlichen Spätherbst; während sie sonst dem Winter seufzend entgegenblickte, freute sie sich heuer über jedes welke Blatt, das der Sturm von den Bäumen nahm. Denn diesen ewigen Regengüssen und Stürmen verdankte sie theilweise den Sonnenschein in ihrem Gemüth.

Die ältesten Leute im Städtchen konnten sich kaum auf einen so unfreundlichen Herbst besinnen, Grippe und Gicht standen in Blüthe, und Kinderkrankheiten traten epidemisch auf; die Schelle des jungen Herrn Doktors ward den ganzen Tag gezogen, und mit wichtiger Miene notierte Frau Minna die Namen der Hilfesuchenden auf der Schiefertafel an der Stubenthür des Sohnes.

Als hätte sie die größte Glückseligkeit zu verkünden, so strahlend trat sie dann ihrem Fritz entgegen, der naßgeregnet und müde heimkam, um ihm zu verkünden, daß er sich beeilen müsse, denn Fabrikbesitzer Lindemann habe wahrscheinlich einen Schlaganfall, und die Kinder des Gymnasiallehrers seien nun glücklich auch samt und sonders mit allen Zeichen des Scharlachs ins Bett gesteckt worden, und Schuster Märtes alte Mutter stöhne unter ihrem Herzkrampf.

„Es geht nicht mehr so,“ erklärte der junge Arzt eines Tages, als infolge der Erkrankung des Doktor Kortum die Anforderungen wuchsen und wuchsen. „Es geht nicht mehr, ich kann’s nicht schaffen, die ganze Praxis des Onkels Kortum mit zu versehen, wenn ich um jedes geschwollene Gesicht, um jeden Bonbonhusten elne Krankenvisite machen muß. Ich will mir Sprechstunden einrichten, die Leichtkranken müssen zu mir kommen.“

„Das wird gut sein,“ gab die Mutter zu. „Ja, Fritz, das hättest Du selbst nicht gedacht, daß Du in solcher Schnelligkeit der beliebteste Arzt hier werden würdest!“

„Nun, das ist der Reiz des Neuen,“ antwortete er ausweichend und ging in sein Zimmer, um eine Anzeige für das Wochenblatt zu verfassen„ die den Bewohnern von Andersheim mittheilen sollte, daß Doktor Roettgers Sprechstunden von acht bis neun früh und von drei bis vier nachmittags stattfinden, Sonntags und Mittwochs neun bis zehn Uhr unentgeltlich für mittellose Kranke.

Nun saß die Räthin jeden Morgen und jeden Nachmittag hinter den Gardinen ihrer Wohnstube am Fenster und zählte die, die „mühselig und beladen“ zu ihrem Fritz kamen.

Und wahrhaftig, eine noble Kundschaft schritt über den alten Hof in die geöffnete Hausthür, um sich Rath zu holen, sogar aus den allerersten Familien, Mütter mit ihren jungen Töchtern und die jungen reichen Fabrikantenfrauen mit ihren Kindern, denn Fritz hatte den Ruf eines tüchtigen Kinderarztes im Umsehen errungen; und selbst die schöne räthselhafte Witwe, die aus Rußland sein sollte und in ihren schwarzen Kreppschleier förmlich eingewickelt schien, kam eines Tages, und die Räthin erschrak beinahe vor der Schönheit dieses marmorblassen Gesichtes. „Gott behüte ihn,“ sagte sie für sich, „daß er sich nicht in so etwas verliebt, das nichts hat und nichts ist!“

Am liebsten hätte sie sich drüben ins Wartezimmer gesetzt und ein wenig geschwatzt mit all den Kranken, allein das wagte sie nicht, selbst dann nicht, als ihre beste Freundin, die Frau Bürgermeister, erschien in Begleitung ihrer Köchin, die einen schlimmen Finger mitbrachte. Eines Tages aber kam der Sohn ihrem Herzenswunsch entgegen.

„Mutter,“ sagte er, „mach’ Dir doch zuweilen ’mal während der Sprechstunde etwas im Wartezimmer zu schaffen; erstlich werden sich dann die Leute genieren und sich nicht gegenseitig zum Fürchten bringen mit den haarsträubendsten Krankengeschichten, und fürs zweite unternehmen auch die lieben Sprößlinge in Deiner Gegenwart nicht wieder Attacken auf mein Mikroskop und sonstige Apparate.“

Die Räthin holte sich am andern Morgen ihre Staatshaube aus dem Kasten und zog ihr „gutes Schwarzwollenes“ an, band die seidene Schürze vor und präsidierte mit stolz geröthetem Gesicht im Vorzimmer ihres Sohnes. Leider erfaßte sie die Aufgabe mit ihrer vielgerühmten Offenheit und Energie. Die junge Frau Amtmann, die auf Befragen der Räthin stockend erklärte, daß sie gar so viel huste, bekam den Trost, daß ja ihre beiden älteren Schwestern auch in ihrem Alter angefangen hätten zu husten und danach so bald an der Schwindsucht gestorben seien. „Und wenn ich Ihre Mutter gewesen wäre, junges Frauchen,“ schloß die würdige Dame, „ich hätt’ Ihnen nie das Heirathen erlaubt, sondern hätt’ Sie aufgeladen und wär’ mit Ihnen nach dem Süden gegangen.“

Der armen kleinen Frau schossen die Thränen in die Augen. Sie liebte das Leben, sie liebte ihren Mann und ihren dicken Säugling so sehr, und als sie nachher vor dem jungen Arzte saß, schüttelte den zarten Körper ein Weinkrampf, und unschwer holte Fritz heraus, was für einen Trost seine Mutter da draußen gespendet habe. Und kaum war er im Begriff, die einigermaßen beruhigte Kranke zu untersuchen, so gellte im Vorzimmer ein so fürchterliches Kindergeschrei, daß er erschrocken hinausstürzte.

Da hatte seine Mutter den fünfjährigen Knaben eines Bahnbeamten auf dem Schoße, der mit blassem furchtverzerrten Gesicht hinunterstrebte und dabei ein Angstgebrüll ausstieß.

„Allmächtiger Gott, was ist denn los, Mutter?“ fragte er.

„Der dumme Bub’ hat mir sein bös Fingerchen zeigen müssen, und da hab’ ich aus Scherz gesagt, Du thätest ihm nachher mit so einem langen Messer das Nägelchen ausschneiden, weil es doch nur vom zuvielen Birnenessen gekommen sei,“ berichtete sie ärgerlich.

Der Doktor schüttelte den Kopf und hatte Mühe, den kleinen Burschen zu besänftigen. Frau Minna aber machte ob des Kopfschüttelns eine beleidigte Miene, sagte noch einmal etwas von einem „dummen Bub’“ und verschwand; es war ohnehin heute nichts Interessantes mehr da.

Gegen Abend hatte sie ihr verunglücktes Debüt schon vergessen; sie hantierte in des Sohnes Zimmer umher, wo sie ihm ein besonders fein gesticktes Faltenhemd zurechtlegte neben den eigenhändig gebürsteten Frack; sie wollte heute Staat machen mit ihm, denn der erste Kasinoball fand statt. Die alte Dame selbst trug zu dem Morgenrock bereits die Gesellschaftshaube, die mit großen goldenen Nadeln auf dem grauen Haare befestigt war.

„Hoffentlich ruft Dich niemand heute ab,“ sagte sie; „es sieht zwar nach etwas aus, wenn Du so recht eilig vom Tische fortgeholt wirst, aber es wär’ mir doch schade um die Lackstiefel in dem Regenwetter.“

Er schielt nicht in rosigster Laune und antwortete ganz obenhin, während er sich erschöpft aufs Sofa warf. Die Mutter aber nahm die Zeit wahr, die ihr bis zum Beginn der Toilette noch blieb, und indem sie ihrem Fritz eine Tasse Kaffee eingoß, versuchte sie noch einmal, sich wegen heute früh zu rechtfertigen.

[687] „Ich hab’ die kleine Frau Amtmann immer für ein Gänschen gehalten,“ zog sie herzhaft los, „aber für ein so extra dummes doch nicht; gleich so ein Geflenne, als ob’s die größte Neuigkeit für sie wär’, daß ihre Schwestern an der Schwindsucht gestorben sind.“

„Man erinnert aber doch nicht die Kranken an dergleichen!“

„Erst recht!“ rief sie und blieb, die Arme in die Seiten gestemmt, vor dem Doktor stehen. „Du willst sie doch nicht etwa glauben machen, daß sie noch hundert Jahre zu leben hätt’?“

„Aber, Mutter, es liegt doch auf der Hand, daß man die Patienten weder ängstigen noch mit derartigen Erzählungen aufregen darf!“

„Doch! Da bin ich anderer Meinung – grad’ recht angst machen, damit sie sich in acht nehmen! Paß nur auf, die quält ihren Mann heuer nicht, daß er mit ihr auf die Bälle geht, und –“

„Wärst ein ausgezeichneter Arzt, Mutter,“ rief er, in etwas gezwungenem Scherz. „Aber nun wird’s Zeit, Du mußt Dich fein machen. Bitte, geh’ dann voraus – es kann sein, daß ich ein Viertelstübdchen später im Ballsaal erscheine; ich habe noch einen Brief zu schreiben.“

Die Räthin verschwand, und er blieb noch ein Weilchen sitzen. Dann stieg er die Treppe empor und pochte an Tante Riekchens Thür. „Ist Mamsell Unnütz da?“ fragte er in die Dunkelheit hinein.

„Nein!“ klang es zurück.

„Wo ist sie denn?“

„Ja, das mag Gott wissen,“ seufzte Tante Riekchen, „ich sah sie schon seit Dunkelwerden nicht mehr. Sie ist ja so sonderbar; vielleicht grämt sie sich, daß sie nicht auf den Ball gehen darf, aber ich hab’s nicht dazu, nicht einen Dreier kann ich ausgeben für solche Geschichten.“

Und so ein klein wenig hatte Fräulein Riekchen diesmal recht. Julias Gesicht war während des Mittagessens um einen Schein bleicher geworden, gerade als das Dienstmädchen der Frau Räthin kam, um das Fräulein Julchen im Namen ihrer Herrin zu bitten, an dem schwarzseidenen Gesellschaftskleid besagter Dame die Spitzen etwas moderner zu ordnen, und als das Mädchen hinzusetzte. „Sonst war das der Frau Räthin ganz egal, aber weil sie heut’ mit unserem Herrn Doktor geht, will sie besonders fein sein.“

Mamsell Unnütz hatte aufs gewissenhafteste das Gewünschte besorgt und dabei die Schilderung solcher Andersheimer Kasinofeste in den herrlichsten Farben vorgemalt erhalten. Der redseligen Frau kam es gar nicht in den Sinn, daß einem jungen Menschenkind das Herz davon schwer werden könne. Mamsell Unnütz war ihr gar nicht denkbar auf einem Balle; aber dem schlanken Mädchen, das dort so eifrig das alte Spitzenwerk auf der raschelnden Seide befestigte, trieb die Sehnsucht ein paar funkelnde Thränen in die Augen. Ach, es war ihr ja nicht um all den Glanz dort, nur darum, daß er hinging – ohne sie. Ein peinigendes Gefühl überkam sie plötzlich, sie kannte es nicht, sie empfand nur seinen Schmerz und wußte nicht, daß es – Eifersucht hieß.

Mit zitternden Händen beendete sie die Näherei, warf das Kleid hastig über einen Stuhl und lief hinaus. Im Flur blieb sie stehen. Wohin nur gleich mit ihrem Weh? Sie öffnete die Thür, die nach dem Garten führte, und trat unter das kleine Vordach. Der Regen plätscherte hernieder, der Wind bog die Aeste und durch die graue Dämmerung leuchteten ein paar helle Fenster herüber. Ja dort, in der eleganten Villa bei Krautners, da saß auch eine, die nicht glücklich war, die einsam bleiben würde heute abend, während alle anderen sich freuten – einsam und mit der nämlichen Sehnsucht im Herzen wie sie. Und da trieb es sie auf einmal durch den Regen und Sturm zu der Freundin hinüber, die sie mehr und mehr vermieden hatte, seitdem sie des Bruders Braut geworden war. Sie wollte in ein Paar Augen sehen, das auch nicht heiter blickte, sie wollte Therese einmal wieder die Hand drücken.

Sie hatte ihr wollenes Tuch über den Kopf gezogen und war durch die nassen Wege der Gärten geeilt; nun stand sie auf den Mosaikfliesen des erhellten Flurs vor Theresens Thür und pochte.

„Herein!“ klang es fröhlich.

Mamsell Unnütz drückte die Klinke und stand dann auf der Schwelle mit dem Ausdruck eines Kindes, das wahr und wahrhaftig ein Märchen schaut. Strahlend hell war das kleine heimliche Nest erleuchtet, die Flammen der Gaskrone glänzten in den seidenen Falten der Wanddraperien und funkelten wie Hunderte blitzender Sternchen aus dem duftigen blaßblauen silberdurchwirkten Kleide des schönen Mädchens, das sich in heller Lust vor dem großen Spiegel wandte und drehte.

„So tritt doch herein!“ rief Therese, „das Zimmer wird kalt. Aber es ist lieb von Dir, Julchen, Du kannst mir ’mal helfen, das Ding hier ins Haar zu thun.“ Und sie hielt dem Mädchen einen kleinen Brillantstern entgegen, der in allen Farben des Regenbogens strahlte und sprühte. „Gelt, das Ding ist hübsch, Julchen? Denk’ Dir, der Papa hat’s mir heut’ geschenkt.“ Und sie probierte nun selbst, wo das blitzende Schmuckstück sich am besten ausnehmen würde, und steckte es geschickt über der Stirne fest, die von goldenen hochfrisierten Haarwellen umgeben war.

„Gefalle ich Dir?“ fragte sie dann und goß eine Fluth Eau de Cologne über die Hände.

Mamsell Unnütz war an dem kleinen Kamin stehen geblieben und hatte unwillkürlich ihr regenfeuchtes dunkles Kleid an sich gezogen. „O sehr, o sehr!“ antwortete sie, „aber – –“

„Nun – aber?“ fragte Thereschen und begann ihre ellenlangen Handschuhe anzuziehen, während sie die Jungfer hinausschickte, um den Papa zu holen.

„Aber ich dachte – Du – würdest nicht auf den Ball gehen, Therese?“

„Da hast Du eben etwas Falsches gedacht. Warum soll ich nicht gehen? Man lebt nur einmal, und vom Trübsalblasen wird es nicht anders in der Welt.“

„Gewiß nicht; ich bildete mir nur ein, es mache Dir kein Vergnügen.“

Therese wurde einer Antwort überhoben denn Herr Alois Krautner erschien in seiner lebhaften Art und begrüßte sein schönes Töchterlein mit einem lauten „Bravo, bravo, Reschen!“

„Und sieh, Papa, wie herzig das Sternchen da oben flimmert!“ rief sie und wandte ihm das Köpfchen zu.

„Ja, ja! Dafür flimmert’s etwas weniger in meinem Geldbeutel,“ lachte er, und Julia auf die Schulter klopfend, setzte er hinzu. „Einsperren müßt’ man den Alois Krautner wegen seiner Verschwendungssucht, aber was soll man denn machen? Sie will eben alles haben, was Mod’ ist, alles was Mod’ ist – bloß . . . sie bekommt nicht alles, heut’ ist’s mal geglückt, aber immer geht’s nicht so, gell, mein Mäuschen?“

„Ei freilich, Deinen Willen setzt Du durch“ nickte sie, scheinbar schmollend, und als sich der alte Herr umwandte, machte sie eine kleine unartige Geste hinter ihm und lachte wie ein Kobold.

„Dafür bin ich auch der Herr im Hause!“ rief er gut gelaunt. „Aber weißt Du, was ich wollte?“ – und er blieb ganz andächtig vor seiner schönen Tochter stehen – „daß Dich die Mutter sehen könnt’ heut’ abend.“ Und dann zog er das rothseidene riesige Taschentuch, schnaubte sich, daß es wie ein Trompetenstoß in die Ohren der Mädchen dröhnte, steckte das Tuch hastig wieder ein und ging der Thüre zu, indem er pfiff: „So leben wir, so leben wir – –“

„Er ist ganz gerührt,“ sagte Therese und drehte sich vor dem Spiegel; „sitzt eigentlich die Taille gut?“

„Ich glaube ja – gute Nacht, Therese, und viel Vergnügen!“

„Bleib’ doch, der Wagen ist noch nicht da.“

„Ich muß heim; gute Nacht!“

In diesem Augenblick kam die Jungfer und hielt etwas versteckt unter der Schürze. Julia hörte, wie sie leise sagte: „Heut’ sind’s gar zwei Stück auf der Post gewesen, Fräulein Therese,“ und sah, wie die feine behandschuhte Rechte des schönen blonden Mädchens zwei gelbliche Briefe hastig ergriff und sie in ein Kästchen von japanischer Lackarbeit warf, das auf einem kleinen Tischchen aus Bambusstäbchen und Seidenplüsch stand. Julia kannte sie genau, diese Briefe, sie waren von Frieder; er schrieb stets auf dieses theure parfümierte Luxuspapier. Therese hatte ihr den Rücken zugekehrt und wandte sich auch nicht um, als die Freundin das Zimmer verließ; aber Julia sah im Spiegel, daß auf dem schönen Gesicht ein entstellender Ausdruck von Unmuth lag.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 23, S. 709–720

[709] Julia ging nicht getröstet von Therese Krautner heim; sie wäre am liebsten zornig auf die Freundin geworden und schalt sich selbst darüber aus. Aber ihre Stimmung ward nicht besser. Leise wie ein Dieb schlüpfte sie hinauf in den einzigen Winkel, der ihr eigen gehörte, das kleine Stübchen unter dem Dache. Es war ganz finster hier, allein sie fand doch den alten Lehnstuhl und kauerte sich fröstelnd hinein. Unverdrossen troff der Regen hernieder; sie hörte deutlich das Rieseln und Glucksen des Wassers auf den Ziegeln über sich, aber das Dach war gut und fest, es ließ kein Tröpfchen durch. Hier war sie geborgen, hier konnte sie sich ungestört den finsteren trotzigen Gedanken überlassen, die ihre Seele mit scharfen Krallen packten, so daß sie selbst erschrak vor der Menschenverachtung und der ätzenden Bitterkeit, die sie erfüllte und die durch keine süße Erinnerung, durch keine Hoffnung auf späteres Glück zu bannen war. Monatelang hatte diese Hoffnung geholfen, ihr die öde Gegenwart zu erhellen, heute vermochte ihr Herz auch nicht an ein bißchen Glück mehr zu glauben. Sie saß da, mit geballten [710] Händen, ganz versunken in ihr Elend, und plötzlich entrang sich ein Schluchzen ihrer Brust.

Da sprach eine Stimme: „Um Gotteswilten, Unnütz, was soll’s denn, daß Du hier sitzt? Du mußt Dich ja auf den Tod erkälten.“

„Mich friert nie!“ sagte sie trotzig.

„Unnütz, ich glaube Dir vieles, aber das nicht,“ antwortete der Doktor gutmüthig. „Weißt Du, daß ich eine Viertelstunde bei Tante Riekchen auf Dich gewartet habe? Ich wollte Dich gern sprechen, ehe ich fortgehe – aber wer nicht kam, warst Du. Endlich fällt mir dieses sogenannte Atelier ein. Himmel, wo bist Du denn eigentlich? Gieb mir die Hand und führe mich hinunter, es ist ja eine tolle Temperatur hier oben.“

Er hatte tastend ihre Hand erfaßt, und nun zog er ihren Arm unter den seinigen. „Komm,“ sagte er, „führe mich, ich weiß hier nicht Bescheid im Finstern.“

„Was willst Du von mir?“ fragte sie, und ihre Stimme hatte einen spröden eisigen Klang.

„Mein Gott, so komm’ doch erst – ich will Dir’s auf dem Weg erzählen; viel Zeit habe ich nicht, Kind, ich will – ich muß auf – –“

„Ach ja, auf den Ball! Verzeih’ ich vergaß,“ und sie zog ihre Hand zurück.

„Ich soll wohl den Hals brechen, weil Du mich losläßt?“

„O nein!“ Und unter ihren Fingern sprühte ein Streichholz auf und entzündete ein Lichtstümpfchen in einer winzigen Laterne. „So, jetzt kannst Du sehen.“

Sie schritt, ihm leuchtend, aus dem Dachkämmerchen der Treppe zu. „Du wolltest mir in aller Eile noch etwas sagen?“ sprach sie, ohne sich umzuwenden.

„Hm – ja – um es kurz zu machen, ich wollte Dich fragen, ob Du wohl – ob es Dir nicht angenehm wäre, wenn ich Dich bitte, mir ein paar Stunden Deines Tages zu opfern, mir ein wenig zu helfen bei meiner Arbeit – kurz und bündig: ob Du während meiner Sprechstunden die Honneurs in meinem Wartezimmer machen möchtest. Es kommt vor, daß ich einmal nicht gleich da bin, daß Kranke ungeduldig werden, daß sich die Damen untereinander mit der Erzählung thörichter Krankheitsfälle aufregen, und so weiter. Da brauche ich ein freundliches Gesicht, ein taktvolles Wesen, ein mitleidiges Herz – und das alles hast Du, Unnütz, und deshalb wollte ich Dich fragen.“

Sie standen just auf dem Absatz der alten schmalen Bodentreppe, das Laternchen erhellte nur schwach den nächsten Umkreis, aber es genügte doch, dem Manne das glückselige Leuchten zweier dunkler Augen zu zeigen.

„O, wie gern!“ sagte sie, und auf dem lächelnden Antlitz war keine Spur von Traurigkeit mehr vorhanden.

„Guter kleiner Unnütz,“ murmelte er, gerührt von ihrer Bereitwilligkeit, „denk’ es Dir nicht zu schön!“

„Du glaubst nicht, wie ich mich darauf freue, Fritz, aber – die Tante! Ich muß ja kochen.“

„Ist schon alles in Ordnung, Julia; Tante wird sich wieder ein Mädchen nehmen.“

„Das geht nicht,“ rief das junge Mädchen ängstlich, „wirklich nicht, Fritz! Ach, Du weißt ja gar nicht wie – –“

„Ich weiß alles; bitte, frage nicht weiter, Kind! Also, Du willst mir helfen?“

„O Gott, freilich!“

„Dann komm’ morgen früh zu mir, aber etwas vor der Sprechstunde, damit ich Dir dieses und jenes noch sage. Und nun auf Wiedersehen, Unnütz! Schlaf’ süß!“

„Auf Wiedersehen!“ wiederholte sie kaum hörbar und sah ihm nach, während er eilig die Treppe hinunterschritt. Er hatte ihr nicht einmal die Hand gegeben, sie merkte es nicht; sie war zu glücklich, daß sie ihm helfen durfte. Was kümmerte sie noch der Ball, was Therese? Sie konnte arbeiten mit ihm, für ihn, das war doch etwas anderes als mit ihm zu tanzen!

Wie ein Vogel flog sie die Stufen hinab und in die Stube zu Tante Riekchen. „O wie gut Du bist, Tante,“ sagte sie innig und trat zu der alten Dame, die mit einem Strickstrumpf am Tische bei der Lampe saß, verdrießlicher noch als heute früh.

Fräulein Riekchen zuckte die Schultern. „Man muß ja wohl Unterstützungen annehmen,“ sagte sie bitter.

„Ach nein, Tante; ich meine, daß Du mir erlaubt hast, Fritz drunten zu helfen.“

„Na ja, das meine ich auch; oder glaubst Du, er will’s umsonst von Dir haben? Er hat mir genau gesagt, was Du monatlich von ihm bekommst.“

Das Mädchen war plötzlich bleich geworden bis in die Lippen. „Er will mir das bezahlen?“ fragte sie unsicher.

„Allerdings, und zwar recht anständig.“

„Das will ich aber nicht!“ stieß Julia empört hervor.

„Warum denn nicht, wenn ich fragen darf? Hast Du etwas zu verschenken? Ob der Herr Doktor, der just in die Mode gekommen ist und Dich als Empfangsdame engagiert, der Fritz ist oder ein anderer, das kann Dir doch wohl gleich sein!“

Auf Julias Gesicht wechselten jäh Röthe und Blässe. „Dann nimm Du das hin, was ich verdiene,“ sagte sie endlich hart, „und erzähl’ es mir nie, wann er es Dir giebt, und wieviel – ich mag’s nicht hören!“ Und sie wandte sich ab und ging aus der Stube. Sie – sie seine bezahlte Dienerin! Das hätt’ er ihr nicht zu bieten gewagt, wenn er sie wirklich liebte!

In stummer Qual rang sie die Hände; und so saß sie die halbe Nacht neben ihrem Bette in der kalt gewordenen Stube und versuchte ihr junges stolzes Herz zur Ruhe zu zwingen. Und dazwischen meinte sie Geigenklänge zu hören und silberdurchwirkte Gewänder zu sehen und ein leuchtendes Blondhaar, in dem ein Sternchen sprühte und funkelte. „Sie muß alles haben, was Mode ist,“ hatte Herr Alois Krautner gerufen. Nun, der Doktor Fritz Roettger war ja auch eben Mode – sagte nicht die Tante so?

„Guter kleiner Unnütz!“ klang es ihr im Walzertakt immer wieder vor den Ohren; seine hellen klaren Augen blickten aus dem Gewimmel der tanzenden Paare, das sie vor sich sah, zu ihr herüber – „Weißt Du es denn nicht, Unnütz, daß ich es gut mit Dir meine?“

„Ja,“ sprach sie halblaut, „ich weiß es, ich weiß es! Du warst bis jetzt der einzige Mensch, der gütig zu mir gewesen ist, und deshalb hängt meine Seele, mein Leben an Dir. Kränke mich nicht, um Gotteswillen, kränke mich nicht, es wär’ mein Tod! Ich kann es mir nicht vorstellen, daß es anders sein soll, daß Du mich nicht liebst! Großer Gott, laß es nicht zu, gieb ihm Liebe für mich ins Herz – er muß mich lieben, ich will nicht leben sonst!“

Das letzte klang wie ein erstickter Schrei. Aber hier war niemand, der ihn vernahm, und die Angst und Leidenschaft verhallten ungehört und unbeschwichtigt. –

Im strahlend hellen Tanzsaal der „Traube“ sammelte sich in dieser Stunde eine unglaubliche Menge von Cotillonorden auf dem schwarzen Frack des Herrn Doktors. Ja, er war mächtig in die Mode gekommen! Und ganz zuletzt schwebte eine lichte blaue blonde Fee zu ihm heran und brachte ihm lächelnden Gesichts den letzten Orden, er schlang den Arm um sie und flog mit ihr über das Parkett. Und neben der Frau Räthin, die mit stolzer Befriedigung dem Paare nachsah, schlug sich Herr Alois Krautner mit der Hand auf die Knie und lachte. „Schönes Paar, Frau Nachbarin, schönes Paar!“ rief er, „gewachsen sind sie wie die Thüringer Tannen!“ Und dann musterte er seine eigene verschrobene dicke Gestalt und seiner Nachbarin eckige Figur und stieß sacht mit dem Ellbogen an ihren Arm. „Wo sie’s nur her haben? Von uns beiden nicht, Frau Räthin, sicher nicht! Bums, da ist die Musik alle; haken Sie ein, Frau Räthin möcht’ die Ehre haben, Ihr Nachbar beim Kaffeetrinken zu sein.“

Und ihrem Fritz zulieb lächelte die Räthin über die wenig schmeichelhafte Offenherzigkeit des alten „Grobians“ und legte ihm würdevoll die Hand auf den Arm. –

Mitternacht war längst vorüber, als der Doktor mit seiner Mutter schweigend nach Hause ging. Daheim angelangt, steckte er die ganze Cotillonherrlichkeit in den Papierkorb; nur ein einziges Sternchen lag am andern Morgen auf seinem Schreibtisch just neben dem Briefpapier.

Und auf diesem Sterne hafteten die Augell von Mamsell Unnütz, die mit stolz erhobenem Kopf neben dem Doktor stand und ihre Instruktion als „Empfangsdame“ anhörte.

„Und nun vorwärts,“ schloß er fröhlich und nahm einen Augenblick ihre Rechte zwischen seine beiden Hände, „jetzt kommt unsere Arbeit, kleiner Kamerad!“


„Wahrhaftig, Unnütz, Du bist wie eigens geschaffen zu Deinem Amte,“ sagte einige Wochen später der junge Arzt zu Julia, als sie es fertig gebracht hatte, ein schreiendes Bübchen so [711] zu beruhigen, daß es sich widerstandslos und höchst muthig einen langen Splitter aus dem Fingerchen nehmen ließ, den es beim Hinfallen auf rauher Diele sich eingeschoben hatte. „Ich höre Dein Lob in allen Tonarten von Alten und Jungen und wenn ich etwas auszusetzen habe, so ist es nur das, daß Du, die andere so herzensfroh machen kann, dies bei Dir selbst nicht zustande bringst.“

„Soll ich mit mir selbst reden?“ antwortete sie leise lächelnd.

„Nein, das ist eine üble Angewohnheit, die nur ganz einsame und verbitterte Menschen an sich haben,“ erwiderte er.

„Nun, ich ertappe mich gegenwärtig zuweilen dabei,“ sagte sie wie zu sich selbst, und das eigenartige Lächeln huschte wieder um ihren Mund.

„Da haben wir’s, Unnütz! Du schließt Dich zu sehr ab; Du müßtest hinaus, unter frische Jugend!“

Sie hob die langen Wimpern und sah ihn an mit einem so wehen Ausdruck, daß ihm ganz weich zu Muthe wurde.

„Unnütz,“ sagte er eindringlicher als bisher, „weshalb gehst Du nicht mehr zu Therese? Ihr wart doch früher oft zusammen.“

„Was soll ich mit ihr reden? Wir haben gar nichts Gemeinsames, und das, was wir hatten – –“ sie verschluckte den Nachsatz.

„Aber dann komm’ doch abends zuweilen hier herunter, Mutter und ich sind oft allein.“

„Ich weiß nicht, ob ich darf.“

„Ich bitte Dich, Kind, sei nicht einfältig!“ antwortete er ärgerlich.

„Es ist vielleicht einfältig, Fritz; aber seitdem ich weiß, Du bezahlst mich für meine Hilfe, da würgt es mir an der Kehle, da ist es mir, als ob eine Schranke zwischen uns steht, so hoch!“ Sie reckte den Arm in die Höhe und stellte sich auf die Zehen.

Er sah sie groß an; sie stand vor ihm, blaß und mit zuckender Lippe. „Julia!“ sagte er bewegt und faßte ihre beiden Hände. „Ja, wie soll ich’s Dir denn nun klar machen? Komm’, sieh mich einmal an – glaubst Du, daß ich Dir habe wehthun wollen? Kennst Du mich denn noch nicht besser? Das einzige, was ich wollte, war, der Tante eine Hilfe zukommen zu lassen. Du weißt doch, wie sie ist! Sie hat einen unbeugsamen Hochmuth, trotz ihrer jämmerlichen Lage, und ich ehre diesen Hochmuth; ich glaube, ich wäre selbst nicht anders. Auf Dich aber hat das keinen Einfluß, Julia, und – daß ich Deine Hilfe gar nicht zu bezahlen vermöchte, selbst wenn ich wollte, das weißt Du. Wer in aller Welt könnte mir denn so zur Seite stehen, wie Du es jetzt thust? Etwa meine Mutter oder Tante Riekchen? Wahrhaftig, kleiner Unnütz, Du machst Dir da ganz thörichte Gedanken! Wenn es Dich beruhigt, so nimm getrost an, daß Dein sogenanntes Honorar eine fromme Lüge ist, daß Du mir einfach beistehst, die arme gequälte Frau da oben ein wenig zu betrügen, zu ihrem Besten. Auf irgend eine Weise würde ich sie doch unterstützen, ob Du mir hilfst oder nicht.“

„Ist’s wahr? Sage mir – ist’s wahr?“ fragte sie langsam.

„Was denn Kind?“

„Das, was Du eben sprachst, daß ich Dir wirklich helfe, daß es kein anderer kann?“

„Ja, Unnütz! Habe ich Dich jemals belogen?“

Er schüttelte die Hände, die sich ihm entzogen, um sich einen Augenblick vor ein erglühendes Antlitz zu legen.

„Dann ist’s gut, dann –“ Das andere verstand er nicht.

„O Du thörichtes, wunderliches Kind,“ sagte er. „Aber spricht da nicht die Mutter? Nun bist Du vernünftig, gelt? Leb’ wohl, Unnütz, grüble nicht mehr!“

„Nein,“ antwortete sie, „ich will nicht mehr darüber nachdenken, ich will alles glauben.“ Sie ging bis zur Thür, dort wandte sie noch einmal den schönen Kopf zurück und die dunklen Augen blitzten zu ihm hinüber. „Jetzt möcht’ ich mich selbst auslachen,“ sagte sie, „hätte ich Dich nur gleich gefragt, Fritz!“

Er öffnete die Augen weit. Es lag etwas in dem Blicke des seltsamen Geschöpfes, das ihn wie ein Vorwurf berührte, das ihn gemahnte an einen Frühlingsnachmittag droben im Dachstübchen, wo er diesen schön geschwungenen Mund geküßt hatte, heiß und lange. Er starrte noch die Thür an, als sie längst gegangen war. „Nein, das ist lächerlich! Wie eine Schwester liebt sie mich – Dummheiten! Ich habe doch heute rein gar nichts gesagt, was . . .“

Und nach einigen Augenblicken brannte er sich eine Cigarre an, begann an einem wissenschaftlichen Bericht über nervöse Herzgeräusche zu arbeiten und hatte vorläufig alle Mädchenaugen der Welt vergessen. –

Als Julia in den Flur trat, rief ihr die Räthin entgegen: „Mein Gott, was habt Ihr denn zu schwatzen? Der letzte Kranke ist ja schon eine Ewigkeit weg, und Du solltest mir doch helfen, die Pelze auszupacken, draußen schneit’s. Schon längst hätt’s geschehett müssen!“ Und sie öffnete, ohne das glühende Gesicht Julias zu bemerken, eine nach dem Gärten gelegene schmale Kammer, in der Kleiderschränke und Truhen an weiß getünchten Wänden standen. Dort erschloß sie einen alten Eichenkasten, aus dem sich alsbald ein durchdringender Geruch von Kampher und Naphthalin, vermischt mit dem von Pfeffer, entwickelte.

„Hör’ ’mal,“ begann sie, indem sie neben Julia vor der Truhe kniete, „merkst Du eigentlich gar nichts?“

„Was?“ fragte das Mädchen und hielt den ungeheuren Iltismuff der Räthin einen Augenblick unbeweglich empor.

„Na!“ Die alte Dame zwinkerte vertraulich mit den Augen. „Ich meine, wer denn nun endlich der Auserwählte von Thereschen sein wird? Erzählt sie Dir gar nichts?“

„Gar nichts, Tante,“ antwortete Julia.

„Das liegt an Dir,“ meinte die Räthin verdrießlich und schlug ihren Pelzkragen so heftig gegen die Truhe, daß eine wahre Wolke von Pfeffer herausstäubte . . . „Hazi! – Was können Dich auch Liebesgeschichtett – hazi! – interessieren?“

„Gott helf’ Dir, Tantchen!“ sagte Julia, und ihr ernstes Antlitz überflog ein schelmisches Lächeln.

„Zu meiner Zeil war’s anders – hazi! – Großer Gott, es ist ja schrecklich, dieses Niesen! Wenn wir Mädchen allemal zusammenkamen, redeten wir von nichts anderem. Du könntest aber wohl ’mal das Gespräch drauf bringen, zum Beispiel wenn ich nächstens den großen Kaffee geb’ – verstehst Du? Denn geben muß ich ihn und zwar bald. Da legt Ihr Mädchett Karten und dreht Euch die Buben, und wenn sie roth wird bei einem, dann ist er’s – hazi!“

„Gott helf’ Dir, Tante!“

„Den Kaffee geb’ ich, ehe die Krautners abreisen. Du weißt wohl gar nicht, daß der alte Dickkopf hustet – vorgestern haben sie ja den Fritz holen lassen. Das Thereschen behauptet, ihr Vater müsse durchaus nach dem Süden, je eher, je lieber – na, das Geld haben sie ja. Sollt’ mir nur leid thun, wenn das Mädchen so einen Reisebräutigam mitbringen würd’; da unten in Monte Carlo, da läuft Gott weiß was für Mannsvolk umher, das Jagd macht auf reiche Erbinnen – ich weiß das noch von damals, als in Wiesbaden Roulette war – und hernach giebt’s ein Elend.“

„Nein, Tante, die bringt sich keinen Bräutigam mit,“ sagte Julia im Tone felsenfester Ueberzeugung.

„Gelt?“ stimmte die Räthin beruhigt zu. „Sie ist zu klug, weißt Du!“ Und die alte Dame rutschte ein bißchen näher zu Mamsell Unnütz hin und flüsterte ihr mit nie vorher dagewesener Vertrauensseligkeit in das kleine rosige Ohr: „Weißt Du, ich glaub’, der Fritz und das Thereschen sehen sich ganz gern und – Himmel, was ist denn da zu lachen, Du dummes Ding?“

Mamsell Unnütz hatte wirklich gelacht, so herzlich, hell und jauchzend, daß der Schall davon noch an der kahlen Decke hinlief. Und nun wurde sie roth. „O Gott, Tante, verzeih’ mir,“ bat sie.

Die ärgerliche Frau beruhigte sich brummend.

„Tantchen, ich will auch die Buben drehen!“ gelobte Mamsell Unnütz jetzt mit ernsthaftem Gesichtsausdruck, obgleich ihr innerlich noch das helle glückselige Lachen durch die Seele scholl. O mein Gott, wenn die alte Dame wüßte, was sie wußte, daß das Thereschen längst gewählt, und daß der Doktor – der Doktor –

„Recht so – und Du mußt mir auch sonst helfen bei der Kaffeevisit’!“

„Gern, Tante.“

„Und das Riekchen muß mir ihre Kaffeelöffelchen borgen, sonst, bei der Menge Damen – ich lad’ all’ die Mädchen mit ein – hat man zur Creme wieder großes Aufwaschen.“

Unnütz ward blaß. „Ach, die Löffel – ja weißt Du denn nicht?“

„Was soll ich denn wissen? Die sind doch nicht etwa gar nimmer da?“

„Ich weiß nicht – ich glaube –“

Die Frau Räthin bekam einen zornrothen Kopf. „Verkauft oder versetzt?“ schrie sie.

„Ich glaube, verkauft,“ stotterte das junge Mädchen.

„Na, da hört doch alles auf!“ rief die Räthin erbost und erhob sich. „Großer Gott, wenn das die Eltern selig wüßten, [714] im Grabe fänden sie keine Ruh’ – und alles für Euch beide, die Ihr hier hereingeschneit seid ohne einen Funken von Zugehörigkeit, nur weil das verliebte Frauenzimmer da droben einmal Euren Herrn Vater hat heirathen wollen! Das ganze schöne Vermögen, das von Gottes und Rechts wegen dem Fritz gehört, es ist zum Kuckuck, verjubelt und verlumpt durch den Herrn Lieutenant Adami! Daß ich doch durchgesetzt hätt’, was ich gewollt, und hätt’ diese schwache Person da oben in eine Anstalt bringen lassen!“

Das junge Mädchen lehnte bleich an dem Thürpfosten. Sie fand diesem Ausbruch des Hasses gegenüber kein Wort; aber instinktmäßig wandte sie sich zur Flucht, als die erboste Frau den Truhendeckel zuwarf, daß es wie ein Kanonenschlag durch das Haus dröhnte, und aufs neue ihre Stimme erhob. „Und Du – Du unnützes Ding, Du –“

Julia war im Flur, sie wußte selbst nicht wie, sie wußte nicht, wie sie in den dunklen Winkel kam auf das Bänkchen jenseit der Treppe, wo sie schon als Kind in ohnmächtigem Zorne die kleinen Hände geballt hatte. Auch heute bebte sie am ganzen Körper, und dann wollte ihr das Herz stille stehen, als die Thür des Doktors aufgerissen wurde und seine eiligen Schritte über die Steinfliesen hallten.

„Liebster Himmel, was ist denn geschehen?“

Sonst pflegte Frau Minna zu verstummen, wenn er erschien, aber der Verlust des Familiensilbers hatte sie zur rasenden Löwin gemacht. Sie berichtete in den höchsten, fast kreischenden Tönen die entsetzliche Thatsache, daß die schweren silbernen Kaffeelöffel mit dem Wappell der Mutter, einer geborenen „Von“, der ganze Stolz der Trautmanns, verloren seien, und das nur wegen dieser – dieser hergelaufenen –

„Bitte, beruhige Dich, Mutter, das ist noch kein Grund, sich derartig aufzuregen.“ Die Stimme des Sohnes hatte einen so eisigen Klang, daß die hohe Temperatur der alten Dame genau so rasch sank, als wäre sie in eins der kühlen Bäder getaucht worden, durch die er die Fieberhitze seiner Kranken herabzumindern verstand.

Die Räthin setzte sich auf die Truhe und begann zu schluchzen. „Du nimmst alles so leicht,“ jammerte sie. „denkst nie an die Zukunft; es ist doch wahrlich nicht gleichgültig, wenn man eines Tages eine solche Last ganz und gar aufgepackt bekommt.“

„Welche Last?“

„Nun – Riekchen und die Julia. Mit dem Riekchen ging’s ja noch, sie ist auch meine Schwester – aber, die Julia, die –“

„Beunruhige Dich nicht, sie wird Dir nie zur Last sein.“

„So?“ Frau Rath hatte aufgehört zu weinen, und dieses „So?“ war schon wieder auf kriegerischen Ton gestimmt. „Wie denkst Du Dir denn ihre Zukunft?“ forschte sie.

„Nun, mein Gott, warum soll sie nicht ebensogut dereinst eine glückliche Frau werden wie tausend andere Mädchen auch?“

Ein spöttisches Lachen der alten Dame begleitete seine Antwort. „Da wär’ ich neugierig, den kennenzulernen, der so dumm ist und die nimmt! Ebensowenig, wie Du sie nimmst, nimmt sie ein anderer, meinst nicht? oder hast Du vielleicht Absichten?“

Die Schelle der Hausthür erklang jetzt und schnitt die Antwort des Doktors jäh ab.

Julia saß ungesehen in ihrem Winkel; mit pochendem Herzen lehnte sie ihren schwindelnden Kopf gegen die braune Holzwand der Treppe. Sie hörte, ohne es recht zu fassen, daß der Arzt zu einem Kranken gerufen wurde, eilig, sehr eilig, gleich darauf rasche Schritte, seine Schritte, die das Haus verließen; dann war alles still. Da erhob auch sie sich, stolz lächelnd und doch den Kopf gesenkt, und so ging sie die Treppe hinauf in das Wohnzimmer zu Tante Riekchen.

Die alte Dame stand mitten in der Stube, zitternd und blaß. „Was war denn unten wieder für ein unangenehmer Auftritt? Ich hörte Minnas Stimme bis hier herauf.“

„Unangenehm?“ fragte Julia und schüttelte wie verwundert den Kopf.

Tante Riekchen seufzte erleichtert. Des Mädchens bleiches Antlitz sah ja so zufrieden aus, daß in der That nichts von Belang geschehen sein konnte. Julia aber ging ab und zu und besorgte ihre kleinen Obliegenheiten wie im Traume. – –

Der feierliche Tag, an dem die Räthin ihre Kaffeegesellschaft geben wollte, war angebrochen. Ein ganz unglaublicher Aufruhr hatte im Hause geherrscht, bis gegen vier Uhr endlich Ruhe eintrat. Der Doktor hatte gleich nach der Sprechstunde Reißaus genommen; in seinen beiden Stuben befand sich ohnehin kaum noch ein Stuhl. Im Flur vermischte sich der Duft des feinen Kaffees mit dem des Räucherpapiers, das Frau Rath zu festlichen Gelegenheiten wahrhaft verschwendete. Die alte große Laterne unter der Decke, die eine moderne Petroleumlampe beherbergte, war angezündet; Luischen und das kleine Dienstmädchen von Fräulein Riekchen prangten in frisch gebügelten steif gestärkten weißen Schürzen, und in den beiden Stuben der Räthin brannten Lampen und Lichter.

Frau Minna selbst ging noch einmal musternd aus einem in das andere Gemach, strich über die weißen Damasttücher, betrachtete mit Stolz die silberne Zuckerdose und Rahmkanne auf dem Tische vor dem Sofa der guten Stube und freute sich über ihre Gummibäume, Pflanzen, die sie zärtlich liebte und deren Blätter sie heute mit ein wenig Gänsefett abgerieben hatte. Sie glänzten auch wie frisch lackiert; dieser Kunstgriff war ein Geheimniß, das sie sorgsam hütete, so oft sie auch gefragt wurde, wie sie es nur mache, daß die Blätter gar so frisch und üppig aussähen.

Mamsell Unnütz, die von der Tante wieder in Gnaden angenommen war, erschien eben in zierlicher weißer Schürze, um als Haustochter die Honneurs in der Vorderstube zu machen, wo die jungen Mädchen ihren Kaffee trinken sollten.

„Und daß Du die Tassen nicht so voll schenkst!“ hielt die Räthin für nöthig zu erinnern, „und daß Luischen einmal bei der Bürgermeisterin und das andere Mal bei der Frau Direktorin zu präsentieren anfängt. Riekchen ist natürlich, eigensinnig wie immer, oben sitzen geblieben?“

„Ja; sie meint, sie kenne doch all’ die Leute nicht, und sie fühlt sich auch nicht wohl; sie ist in so trüber Stimmung.“

„An Gründen hat’s ihr noch nie gefehlt,“ erklärte die Tante. „Ihr Goldsohn wird ja wohl noch am Leben sein, wenn er auch nicht schreibt,“ murmelte sie ärgerlich. „Da klingelt’s übrigens – sind die Mädchen auf dem Posten?“

Mamsell Unnütz beeilte sich, den ersten Ankömmling zu empfangen, aber als sie auf den Flur trat, war es nicht ein Gast, der eingetreten war, sondern der Briefbote, der Julia für die Tante droben ein Schreiben übergab. Sie betrachtete es seufzend; es war wieder nicht vom Frieder, und die alte Dame wartete gar so schmerzlich auf Nachricht von ihm, der schon seit Wochen schwieg. Sie barg den Brief in der Tasche, er kam noch früh genug vor die Augen der vergrämten Tante. Es war die schon zum siebenten Mal gesandte Rechnung eines großen Wäschegeschäftes in Berlin, bei dem der Herr Lieutenant sich die wunderbarste Ausstattung an Weißzeug bestellt hatte, die jemals ein junger eleganter Offizier besessen.

Ach, war das eine schwüle Atmosphäre da droben, in der das junge Mädchen jetzt athmen mußte! Was nur die Phantasie eines einsamen, verbitterten Menschen ersinnen konnte, das ersann die alte Frau in ihrer Sorge um den einzigen Menschen, an dem in dieser Welt ihr Herz noch hing. Bald sah sie den vergötterten Pflegesohn krank im Lazareth; bald, und das war ihr die schrecklichste Vorstellung, sah sie ihn aus Verzweiflung leichtsinnig werden, ein ausschweifendes Leben führen, und dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und flehte Gott an, sie das nicht mehr erleben zu lassen. Zweimal hatte sie eingeschriebene Briefe an ihn geschickt, gestern früh mit bezahlter Rückantwort telegraphiert, ob er krank oder gesund sei – aber Frieder schwieg.

Und Julia schiffte, so gut es ging, über dieses trübe Wasser, ihr Lebensschifflein, das kleine armselige Ding, mit bescheidenen Rosen umkränzend und das Steuer einem goldenen herrlichen Landungsplatz zulenkend, und sie verlor den Muth nicht, obgleich das Ziel noch immer nicht näherrücken wollte. Sie redete immer und immer wieder der alten Dame Trost zu und ertrug Vorwürfe und Schelte mit Gelassenheit. Am liebsten hätte sie gesagt: „Um Frieders Zukunft laß Dir nicht bangen, er ist ja Therese Krautners heimlicher Bräutigam!“ Aber es war ihr streng verboten, zu reden – wer weiß, welches Unheil sie damit angestiftet hätte. Und so konnte sie nichts weiter thun, als auch ihrerseits an ihn schreiben und ihn inständig bitten, er möge doch endlich Nachricht geben.

Sie wollte sich eben in das Zimmer zurückwenden, da klingelte es abermals, und im hellen pelzverbrämten Abendmantel, das rosige Antlitz von einer weißen Kapuze umschlossen, trat mit dem Schlag vier Uhr – der für die Kaffeegesellschaft festgesetzten Stunde – Thereschen ein.

[715] Julia begrüßte sie und führte sie in das Schlafzimmer der Räthin, wo die Damen ablegen sollten und dort entpuppte sich der reizende Gast so elegant wie stets; heute in einem dunkelgrünen, mit schmalen Goldlitzen verzierten Tuchkleid.

Auf einmal kam es Julia in den Sinn, sie wolle Therese nach dem Bruder fragen, und sie flüsterte zaghaft. „Ach, sag’ Therese, wie geht es Frieder? Hast Du Nachricht von ihm?“

„Warum?“ war die kurze Gegenfrage. Und nach einer Weile setzte Therese hinzu, indem sie die Löckchen zurecht zupfte: „Ich weiß es übrigens thatsächlich nicht.“ Dann nahm sie den kleinen goldgestickten „Pompadour“ und schickte sich an, den Raum zu verlassen.

Julia konnte ihr nicht folgen, es kamen andere Damen, immer mehr Damen, und als sie endlich die Zimmer betrat, in denen das Gesumme eines Bienenschwarms herrschte, sah sie Therese im Kreise der jungen Mädchen wohlverschanzt auf dem Sofa und fand keine Möglichkeit, ohne Zeugen mit ihr zu reden.

Die jungen Andersheimerinnen waren ungeheuer guter Dinge, während sie eifrig, als gelte es, das tägliche Brot zu verdienen, an ihren Weihnachtsarbeiten stichelten. Bloß Therese hielt ihre Häkelnadel wie zum Spiele in der Hand, während sie aufmerksam den Neuigkeiten lauschte, die von Mund zu Mund flogen. Den Augen, den bittenden fragenden Augen der Mamsell Unnütz, wichen ihre Blicke aus; nur wenn Julia durch das Zimmer schritt, musterte sie nachdenklich die tannenschlanke biegsame Gestalt in dem schmuckloden Kaschmirkleid, das noch von der Konfirmation her das kostbarste Stück in Julias Garderobe ausmachte.

„Hübsch ist sie aber doch,“ sagte Theresens Nachbarin, eine frische Brünette mit hellbraunen Augen, „ich hab’ irgendwo so ein Gesicht gemalt gesehen, wenn ich nur wüßt’, ob in Frankfurt oder Berlin. Ein Mädchen, einen Henkelkrug auf dem Kopfe tragend, und genau so stolze und doch weiche Züge wie die ihrigen. Die Augen sind doch herrlich!“

„Ich weiß nicht,“ erwiderte Therese, „mich läßt diese Art Schönheit kalt, wenn das überhaupt Schönheit ist. Sie ist nicht mein Genre.“

Die andere lächelte gutmüthig. „Möcht’ wissen,“ neckte sie, „ob der Doktor Roettger auch so über sie denkt wie Du, Thereschen; wenn ich er wäre, ich hätt’ mich bis über die Ohren in sie verliebt.“

Therese Krautner zuckte die Achseln. „Leicht möglich!“

Die junge Dame machte ein schelmisches Gesicht. Sie war die einzige Braut in diesem Kreise und erfuhr von ihrem Verlobten allerhand Neuigkeiten, konnte sich auch erlauben, so recht mit vollen Backen die Lobposaune zu blasen für den Doktor Roettger. „Uebrigens habt Ihr sammt und sonders dem armen Menschen auf dem Kasinoball schrecklich die Cour gemacht,“ schloß sie eine längere Rede; „und wer von Euch da ’mal die Auserwählte wird, die ist nicht zu beneiden, insofern meine ich, als sie aus der Eifersucht nicht viel herauskommen wird.“

Thereschen sah die Sprecherin höchst geringschätzig an. „Ich wüßte nicht –“ begann sie.

„O, Du warst auch so, Du hast ihm auch mit der größten Lust einen Orden zugeschleppt!“

Therese wurde einer Antwort überhoben, draußen war die Glocke erklungen, und nun tönte die Stimme des Doktors bis hier herein. „Ich bitte um die Lampe.“ Er war doch früher heimgekehrt. – Und dann wieder hörte man ganz deutlich die Worte: „Bitten Sie Fräulein Julia einen Augenblick zu mir herüber.“

Mamsell Unnütz, die gerade bescheiden ihren Stuhl in den Kreis der jungen Mädchen geschoben hatte, erhob sich sofort und schritt zur Thür; da war es ihr, als zwinge sie etwas, nach Therese hinüberzuschauen, und als sie, schon die Klinke in der Hand, den Kopf wandte, sah sie ein blasses Gesicht mit fest zusammengepreßten Lippen und mit Augen, aus denen ein geradezu feindseliges Leuchten zu ihr herüberflammte. Sie erwiderte mit einem verwunderten Blicke und ging dann. Was, ums Himmelswillen, hatte diese Therese in letzter Zeit so verwandelt?

Als sie drüben eingetreten war, kam der Doktor hastig auf sie zu. „Sag’, Julia, habt Ihr Nachrichten von Frieder?“

„Nein!“ antwortete sie.

„Dann ist er selbst gekommen; ich kann mich täuschen, aber ich möchte wetten, daß er in der Bahnhofstraße an mir vorüberging.“

„O bewahre, Fritz, er kommt ja erst zu Weihnacht, und bis da sind es noch drei Wochen.“

„Ich kann mich ja auch irren, Kind, wollte es Dir aber doch auf alle Fälle mittheilen. Und wenn es nun doch so wäre, Unnütz – hast Du eine Ahnung, was ihn hertreibt?“

Sie wurde purpurroth und schwieg.

„Besitzt Du sein Vertrauen?“ fragte er weiter.

„Ja, Fritz.“

„Nun, Kind, wenn Du einigen Einfluß auf ihn hast, dann sorge, daß die arme Frau dort oben nicht neuen Aufregungen ausgesetzt wird; es wäre nicht nur vergeblich, da sie nicht mehr helfen kann – ihr körperlicher Zustand erträgt auch nicht mehr viel.“

Sie hatte den Kopf gesenkt. „Steht es so schlimm?“ fragte sie gepreßt.

Aber noch ehe er antworten konnte, erscholl vom Vorzimmer her die Stimme der Frau Räthin in jammernden Tönen, Rufe der Theilnahme flogen dazwischen, die Thür wurde aufgerissen, und auf der Schwelle stand die Räthin, den einen Arm um die Gestalt Therese Krautners geschlungen. Das junge Mädchen sah blaß und schmerzverzerrt aus; sie hatte sich aus unbegreiflicher Ungeschicklichkeit den Häkelhaken in die Hand gestoßen.

Der Doktor war erschreckt hinzugetreten und führte die Verletzte zu einem Sessel. Die Räthin wimmerte, als ob sie die Schmerzen ausstehen müsse, eine andere alte Dame rief etwas von Starrkrampf, und eine dritte schlug vor, den Vater zu holen, bis der Arzt sie alle ersuchte, miteinander das Zimmer zu verlassen; Julia war schon hinausgeeilt, um ein Becken kaltes Wasser zu besorgen.

Als sie damit zurückkehrte, blieb sie einen Augenblick an der Thür stehen, und vor ihren Augen wirbelte es, wie wenn Nebel ineinander quirlen. Der Haken war entfernt, aber Theresens Kopf lehnte wie bewußtlos an der Schulter ihres Helfers und zwei große Thränen rannen über die erblaßten Wangen.

Er legte das blonde Haupt beim Eintritt Julias behutsam gegen die Polster zurück; er trocknete auch nicht die Thränen, wie er es einst gutmüthig bei Mamsell Unnütz gethan; er ging im Zimmer umher mit einem unsäglich peinlichen Gesichtsausdruck, wie ihn Menschen haben, die den Schmerz, den sie anderen verursachen müssen, selbst doppelt fühlen. Julia kannte ihn gar nicht so, so empfindsam und wehleidig, so außer sich wegen einer „Bagatelle“, tvie er anderen gegenüber derartiges genannt hätte.

„Es that wohl sehr weh?“ fragte sie theilnehmend.

„Nun natürlich!“ erwiderte er, ihr das Becken abnehmend und das Wasser darin auf einem Tischchen mit Karbol mischend. „Bitte, besorge etwas weiche Leinwand – Du weißt, draußen in dem Schranke rechts!“

Sie ging gehorsam, und als sie wiederkam, war die rosige Farbe in die Wangen Theresens zurückgekehrt, und die kleine Hand, die Fritz selbst in das Wasser hielt, so zart, als sei sie aus Sevresporzellan, zitterte nicht mehr. Nachher beim Verbinden hielt Julia diese Hand; zum ersten Male bekam sie einen Verweis: „Aber Unnütz, ich bitte Dich – nicht so grob!“

„Was that ich denn?“ fragte sie und sah zu ihm auf.

„Du hältst den Arm so fest, sieh doch die beiden hochrothen Flecken!“

„Ach, sei nicht böse!“ stammelte sie erschreckt.

„Julchen,“ bat Therese, „hole mir meine Sachen, ich möchte nach Hause!“

„Ich werde Sie hinüber geleiten,“ sagte der Doktor eifrig. Und er nahm nicht einmal den Ueberzieher, nur die Pelzmütze setzte er auf. Trotzdem standen die beiden noch eine Weile plaudernd vor der Thür von Theresens Vaterhaus. Einmal lachte dabei das junge Mädchen hell auf; so recht herzlich und silbern scholl es in den finsteren Garten hinein. Sie mußte sich wieder völlig wohl fühlen.

„Gute Nacht,“ sagte Therese beim Abschied, „ich hoffe, Sie sehen morgen als pflichtgetreuer Arzt nach Ihrer schwersten Patientin.“

„Ganz gewiß – gute Nacht, Fräulein Therese!“

Sie hielt ihm die Rechte hin. „Gute Nacht, Herr Doktor!“

In dem schwachen Schimmer der Laterne, die auf elegantem gußeisernen Kandelaber an der Freitreppe stand, sah ihr süßes Kindergesicht so freundlich zu ihm empor, und ein so gewinnendes unschuldiges Lächeln umspielte ihren Mund, daß er, dem jede übertriebene Galanterie fernlag, sich hinunter bog und ihre Hand ehrerbietig und andächtig küßte. Dann wandte er sich rasch um und stieg die Treppe hinunter.

Therese öffnete haftig die Hausthür und huschte mit leisen Schritten über den Flur in ihr Zimmer. Dort riß sie mit der [716] unverletzten Rechten Kapuze und Mantel ab, schraubte die Gasflamme höher und trat vor den Spiegel, der sich in kristallener Klarheit über dem Kamin erhob – so stand sie und lächelte noch immer, als Schritte über den Gang kamen und zugleich mit dem hastigen Pochen die Thür aufgerissen ward.

Das junge Mädchen glaubte, ihr Vater sei es, und wandte sich freundlich um – im gleichen Augenblick zitterte ein leiser Schrei des Erschreckens durch den wohligen kleinen Raum.

„Friedrich!“

Der Mann, der da eingetreten war, sah auch zum Erschrecken aus – bleich, das blonde Haar feucht an der Stirn klebend, und in den Augen, die tief in dem abgemagerten Gesicht lagen, ein unheimliches Feuer.

„Ich sah Dich eben heimkehrend begann er, auf sie zutretend, „und beeile mich, Dich zu begrüßen. Es geht Dir gut, wie ich sehe, und ich hätte mir die Angst, die ich mir Deines gänzlichen Verstummens wegen machte, füglich ersparen können. Da ich aber einmal hergekommen bin, so möchte ich jetzt wenigstens nur als Dein erklärter Bräutigam wieder abreisen; Du wirst mir das nicht verdenken können, und es muß auch Dir angenehmer sein als diese Heimlichthuerei. Ich bitte Dich also, gehe jetzt mit mir zu Deinem Vater oder lasse ihn meinetwegen holen, damit die Sache einen Abschluß findet!“

Sie war erblaßt zurückgetreten, bis in die tiefe Fensternische, die ihr Nähtischchen barg. Der Schreck, sein unvermitteltes bestimmtes Verlangen, das unangenehme Bewußtsein, mit ihm gespielt zu haben, machten sie fast besinnungslos vor Angst. „Papa ist nicht zu Hause,“ stammelte sie.

„So werde ich warten.“

Er zog einen Stuhl zum Kamin. „Wollen wir nicht plaudern?“ fragte er mit der nämlichen unheimlichen Ruhe.

„O, ich bitte, gehen Sie!“ flehte sie jetzt. „Kommen Sie morgen wieder, ich bin jetzt nicht in der Stimmung, zu sprechen.“ Sie deutete auf ihre verwundete Hand.

„Man merkte vor ein paar Minuten davon allerdings nichts,“ erwiderte er, ihre förmliche Anrede nicht beachtend, „ich hörte Dein Lachen über den ganzen Garten schallen und zum Plaudern schien Dir selbst der zugige Platz vor der Hausthür recht. Hier innen ist’s aber doch behaglicher – also bitte! Was Du einem Fremden zugestehst, wirst Du wohl Deinem Bräutigam nicht versagen?“

Sie war während seines Sprechens näher getreten. „Ich bin allein zu Haus und muß Sie nochmals dringend ersuchen, dieses Zimmer zu verlassen!“ sprach sie mit vor Aufregung bebender Stimme.

„Warum denn?“ fragte er. „Wir waren ja in dem Gartenhäuschen auch allein, als wir uns verlobten!“

„Sie wollen mich ängstigen und beleidigen!“ rief sie heftig, und die bisher mühsam zurückgehaltenen Thränen stürzten ihr aus den Augen.

Da war er auch schon herübergekommen und hatte ihre Hand ergriffen. „Du glaubst ja selbst nicht, was Du sagst, Kind,“ sprach er. „Du hast mich noch ebenso lieb wie vor ein paar Monaten, als Du mir zugeschworen, falls Dein Vater die Verlobung nicht zugeben würde, mit mir heimlich davonzugehen.“

„Nein! Nein!“ rief Therese und entriß ihm die Hand, „das habe ich nie gesagt, das bilden Sie sich ein!“

„Ich habe es zum Glück schriftlich! Gleich im ersten Briefe stand es, und diese Stelle hat mich immer wieder getröstet in den letzten Wochen des Zweifels. Also, sprich, Therese, ist Dein Vater noch immer gegen unsere Verbindung?“

„Er ist’s noch ebenso. Und – ich –“

„Du?“

„Ich habe eingesehen, daß er recht hat!“ Sie setzte sich nach diesen Worten auf die Chaiselongue und blickte an ihm vorüber mit dem ungeduldigen Gesichtsausdruck einer Frau, die um jeden Preis eine peinliche Unterredung abgekürzt sehen möchte.

„Therese, das ist nicht wahr! Das kann, das darf nicht Dein Ernst sein! Du mußt Deine Liebe mir bewahrt haben, Deine Briefe könnennicht lügen! Du bist doch kein gewöhnliches Mädchen, Du stehst über diesen spießbürgerlichen Vorurtheilen, Du bist imstande, der Welt Trotz zu bieten und auch ohne Deines Vaters Einwilligung mein zu werden. Versuche es noch einmal mit Güte bei ihm, und schlägt es fehl, dann – dann laß uns die Schiffe hinter uns verbrennen; es giebt noch irgend einen Fleck auf der Welt, wo wir – –“

„Sie meinen,“ fragte Therese Krautner mit eisiger Ruhe, „ich soll heimlich den Vater verlassen, mich in eine ungewisse abenteuerliche Zukunft stürzen?“

„Dein Vater wird sich, muß sich später versöhnen lassen –“

„Ich habe gar keinen Sinn für romantische Unternehmungen,“ schnitt sie ihm das Wort ab, „ich finde es hier schöner als irgendwo in der ganzen Welt! In meinen Augen ist Andersheim die reizendste Stadt, die ich kenne. Und nun, bitte, gehen Sie; es wäre mir nach dem Gesagten doppelt peinlich, wenn das Mädchen käme und Sie hier fände.“

„Nein!“ sagte er leidenschaftlich, „ich gehe nicht! Du bist mir Rechenschaft schuldig; Du hast mich alle Qualen der getäuschten Erwartung, der Verzweiflung durchkosten lassen – nun sprich: woher auf einmal diese Wandlung?“

Er war näher getreten und hatte drohend die Hand auf ihre Schulter gelegt.

Da sprang sie, außer sich, empor. „Papa! Papa!“ rief sie zur Thür hinausstürzend. Und schwere Schritte schallten im Flur, sie kamen herüber, und ehe noch der betroffene Mann sich besinnen konnte, stand Herr Alois Krautner vor ihm, dessen lächelndes Gesicht sich, als er den Offizier erblickte, mit einem Schlage so veränderte, wie wenn über eine im Sonnenglanz liegende Landschaft plötzlich schwarze Wolken fliegen.

„Was wünschen Sie, mein Herr?“ fragte der Vater, an den die Tochter angstvoll sich schmiegte. „Was verschafft uns die Ehre?“

„Ich habe Ihrem Fräulein Tochter bereits mitgetheilt, daß ich Sie zu sprechen wünsche,“ erwiderte Adami, rasch gefaßt.

[718] „Er wollte, ich sollte heimlich mit ihm fortgehen, und das kann ich doch nicht!“ unterbrach ihn weinend das Mädchen.

„Nein, nein, allerdings, das kannst Du nicht,“ sagte Herr Krautner kalt. „Aber nun laß mich los; Schwerenoth, das kommt von solchem Getreibe hinter meinem Rücken! Trink’ ein Glas Wasser und flenne allein weiter! Sie, mein Herr Lieutenant, gehen vielleicht, in Ermanglung der Tochter, mit dem Vater davon, vorläufig zwar nur bis in mein Zimmer, wenn’s gefällig ist! Hier ist die Thür – bitte, bitte, nach Ihnen.“

Und die kugelrunde kleine Gestalt ließ den blassen jungen Mann vorangehen, mit einer regelrechten Verbeugung, die zu jeder anderen Zeit unendlich heiter gewirkt haben würde; heute hatte keiner von den beiden Zuschauern Sinn für die grimmige Komik des Herrn Alois Krautner. Im Flure schritt der beleibte Hausherr so rasch und gewandt voran, als habe er unsichtbare Sprungfedern unter den Sohlen; er öffnete die Thür seines Zimmers. „Ich bitte, gedulden Sie sich einen Augenblick, ich habe nur mit meiner Tochter ein paar Worte unter vier Augen zu reden.“ Damit schraubte er eine altmodische Oellampe etwas höher und verließ dann den Raum, um sofort wieder in Theresens Boudoir zurückzukehren. Das Mädchen wollte sich ihm an die Brust werfen, aber er löste ihre Arme so wenig freundlich wie noch nie.

„Bitte, bitte, jetzt ist keine Zeit zu Zärtlichkeiten; ich will nur ein paar klare Antworten auf die Fragen, die ich stellen werde – setze Dich dorthin! So! Also, Nummer eins – hast Du Dich, trotz meines Verbots, im Frühjahr mit Lieutenant Adami verlobt?“

Eine lange Pause, dann Schluchzen.

„Ja oder Nein?“

„Ja, aber ich – –“

„Bitte, keine Entschuldigung! Hast Du Briefe mit ihm gewechselt?“

„Ja – ja – aber ich – – schon –“

„Hast Du gelobt, ihm treu bleiben zu wollen?“

„Ja – aber –“

„Ruhig! Und nun bist Du anderen Sinnes geworden?“

„Ja!“

„Weshalb?“

„Ach, lieber Papa,“ schluchzte Therese, die jetzt eine Gelegenheit sah, des erzürnten Vaters Herz zu rühren, „lieber Papa, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, Dich zu hintergehen, weil ich verstehen lernte, daß Du nur mein Bestes willst.“

„Schon gut, schon gut, darüber sprechen wir später.“ Er schob sich zur Thür hinaus unb kehrte zum Lieutenant Adami zurück.


In der eleganten Villa gab es ein Zimmer, das wundersam abstach gegen die übrigen Prunkräume. Es lag abgeschlossen von allen anderen, nach der Straße zu, hatte zwei mittelgroße Fenster ohne modische Gardinen, nur oben hing an einem Querbrett ein einfach mit Bällchenfransen verzierter Stoff. Die Dielen waren blenbend weiß gescheuerte Tannenbretter, der Ofen ein gelblicher Kachelofen von ungemein häßlicher Form. Hier stand ein altmodisches, mit schwarzem Wachstuch bezogenes Kanapee, davor ein alter plumper wachstuchbenagelter Tisch; hier hing an der Wand in schwarzem ovalen Rahmen der Schattenriß einer Frau, die ein Kind auf dem Schoße hielt; hier prangte ein Pfeifenbrett in der einen Ecke, in der anderen ein Schreibsekretär aus Birkenholz, und hier stand der Ohrenstuhl, in dem Herr Alois Krautner sein Mittagsschläfchen gehalten, seit er mit seinem Hannchen als junger Meister den kleinen Haushalt gegründet hatte. Mit einem Worte, es war das Privatzimmer des Hausherrn, das einzige, in dem er sich wohl fühlte, in dem er sommers in Hemdsärweln und winters in Schlafrock und Zipfelmütze sich wie „zu Hause“ vorkam; wo er alle Tage daran erinnert wurde, wie er doch aus einem einfachen Maurergesellen ein hochangesehener Bürger geworden sei. Diese Stube war seine Kirche, in der er ganz absonderlichen Dankgottesdienst hielt; sein Tempel der Erinnerung, denn jedes Stückchen der Einrichtung hatte seine gute Selige mit ihm vereint benutzt. An dem Tische hatten sie als junge Eheleute ihr erstes Mittagsmahl verzehrt und auf dem Sofa am Feierabend gesessen, wenn er müde und abgearbeitet nach Hause gekehrt war. Und in den Schrank waren von ihm die ersten ersparten Thaler mit einer Glückseligkeit gelegt worden, gegen die das Bewußtsein des späteren Reichthums wie ein Schatten verblich.

Und in dieser Stube saß Lieutenant Adami auf dem Sofa. Ganz klar war ihm die Sachlage nicht. In seinem Herzen wollte sich noch eine Hoffnung regen – wenn sich der Vater doch noch erweichen ließe? Daß ihm Therese wirklich untreu geworden, das konnte sein selbstbewußter Kopf nicht fassen. Ihre Weigerung war sicher nur Schrecken über sein unvermuthetes Erscheinen und seine leidenschaftliche Hast gewesen. Sie mußte ihn ja noch lieben, es war ja nicht anders möglich! War dem nicht so, dann – – ja dann war er zu Ende mit allem überhaupt, dann sah er in ein bodenloses Nichts hinein, und deshalb durfte diese Sache nicht schlecht verlaufen, sie durfte nicht!

Er fuhr empor, als Herr Krautner wieder eintrat, und sank dann wie gebrochen zusammen – in dem runden Gesicht des alten Herrn war nichts Gutes zu lesen. Herr Krautner nahm einen Stuhl, setzte sich seinem Gaste gegenüber, trommelte mit den runden kurzen Fingern auf dem grüngemusterten Wachstuch und begann endlich, sich räuspernd:

„Mein Mädel hat unrecht gegen Sie gehandelt; Therese hat Sie, wie man so sagt, an der Nase herumgeführt. Es thut mir weh, sie auf solchen Schlichen zu finden, hab’ immer gemeint, sie sei wie ihre Mutter so schlicht und recht und treu gesinnt. Nun, die Heutigen sind anders, und irren kann jeder Mensch einmal. Hätte sie Ihnen, als sie zur Einsicht kam, geschrieben: ‚Mein Herr, ich sehe ein, der Vater hat recht, wir taugen nicht zusammen,‘ so hätt’s eine Art gehabt; so aber, muß ich sagen, ist sie im Unrecht. Ich weiß es in diesem Augenblick gewiß, daß es ein Unglück gegeben hätte, wäret Ihr zusammengekommen. Sie müssen ihr verzeihen, Herr Lieutenant. Nun – bitte, bitte, bleiben Sie nur sitzen,“ setzte er beschwichtigend hinzu, als Friedrich Adami sich erheben wollte mit erdfahlem Gesicht, „wir sind noch nicht fertig, ich muß Ihnen da noch etwas sagen.“

Der Offizier war wieder zurückgesunken; der alte Mann schwieg, ein wunderliches Zucken ging durch sein Gesicht.

„Ich kenne Sie besser, als Sie glauben, Herr Lieutenant,“ fuhr er fort. „Erstlich verstehe ich ein wenig in den Gesichtern der Menschen zu lesen und zweitens habe ich in Berlin seiner Zeit jemand – nun sagen wir, einen guten Freund von mir – gebeten, mir dann und wann einmal etwas mitzutheilen über Ihr Thun und Lassen – verstehen Sie? Ich habe, obgleich ich Sie schroff abwies, immer mit der Möglichkeit gerechnet, daß das Mädel dennoch auf Ihnen besteht. Ich kann nach all dem nur sagen, es ist mir lieb, daß Therese von einer Heirath mit Ihnen durchaus nichts mehr wissen will, denn – die Nachrichten über Sie lauteten für den künftigen Gatten meiner Tochter nicht gerade einnehmend – was Ihr Privatleben anlangt! Mit vollster Hochachtung aber sprach man von den Leistungen in Ihrem Beruf, und es ist schade um jeden schneidigen Offizier, der Schulden halber den Dienst quittieren muß. Sie stehen vor diesem Schritte, Herr Lieutenant.“

Adami sprang empor. „Mein Herr, was geht Sie das an!“ rief er mit bebender Stimme und griff nach seinem Hute, der vor ihm auf dem Tisch lag.

„Wollen Sie mich nicht ausreden lassen? Also, ich wollte sagen: wir, das heißt das Thereschen, hat Ihnen ein schweres Unrecht angethan. Nun ist mir aber nichts schrecklicher und lästiger, als mit dem Bewußtsein einer Schuld gegen jemand in der Welt umherzugehen – das wird mir meinen Schoppen nicht schmecken lassen, es wird mir meinen Mittagsschlaf stören und die Freude an meinem Kinde erst recht. Da möchte ich Sie nun bitten, Vertrauen zu mir zu haben und mir klaren Wein einzuschenken, kurz gesagt, mir einmal ganz ehrlich zu gestehen, wie hoch sich die Summe Ihrer Schulden beläuft.“

Abermals sprang Lieutenant Adami auf, mit denselben Worten wie vorhin: „Mein Herr, was geht Sie das an?“

Und abermals drückte Herr Krautner den jungen Mann, der sich mit zitternder Hand den Schweiß von der blassen Stirn wischte, in die Sofaecke zurück.

„Sie werden die Summe nicht auswendig wissen, natürlich nicht; ich bitte Sie also, schreiben Sie mir den Betrag und nennen Sie mir die Gläubiger! Ich werde selbst nach Berlin kommen und die Sache ordnen – so, das wäre abgemacht. Jetzt aber habe ich eine Gegenbedingung: das Mädel da drüben ist für Sie nicht mehr vorhanden in der Welt – verstanden? Dafür muß ich um Ihr Ehrenwort bitten. Ferner muß ich darauf bestehen, daß Sie nach Ordnung Ihrer Angelegenheiten ein anderes [719] Leben beginnen – keine täglichen Sektkneipereien mehr, keine kostspieligen – ich meine die Damen vom Ballett – verstanden? Und die Karten, die Karten! Es ist die Warnung eines Mannes, der’s gut meint. Im Grunde könnte mir’s ja gleich sein, was aus Ihnen wird; aber – sehen Sie –“ Er stockte, pfiff ein paar Takte, räusperte sich dann und sprach weiter:

„Da drüben das alte Fräulein, das Sie Ihre Pflegemutter nennen, das will mir nicht mehr aus dem Kopfe. Geh’ ich da vor ein paar Tagen über die Promenade am Rhein und treffe sie. Ich hatte sie lange nicht, wie man so sagt, bei Tageslicht beschaut, und ich erschrak über die tausend Sorgenfalten, die sie sich angegrämt hat um – Ihretwillen, Herr Lieutenant, denn das pfeifen hier die Spatzen von den Dächern, daß sie für Sie nach und nach ihr bißchen Geld hingegeben hat. Die Julia macht ihr keine Last, die lebt ja so nebenher von ein paar Brocken wie ein kleines Vögelchen. Und da mußt’ ich daran denken, wie ich sie einstmals zuerst gesehen habe, als ich da drüben in dem Hause zu thun hatte – ein kleiner dummer Lehrbub’. Sie war damals noch ein junges schönes Mädchen, und ich habe gemeint, so wie sie müßte die Jungfrau Maria ausgeschaut haben, als sie noch auf Erden ging. Aber nicht bloß wegen ihrer Schönheit ist sie mir so unvergeßlich geblieben, sondern weil an dem Tage mein Vater verunglückt ist. Eine Mutter hatte ich schon nicht mehr, und wie nun die Leute gekommen sind und haben in den Keller herunter geschrien – denn dort mauerten wir – ‚Alois, Dein Vater ist verunglückt, sie bringen ihn eben tot heim!‘ und alles hat nun lamentiert und ist davongelaufen, um den Verunglückten zu sehen, so daß ich armes Wurm plötzlich ganz allein im Keller blieb und nicht wußte, wie mir geschehen war – sehen Sie, Herr Lieutenant, da ist auf einmal das schöne junge Mädchen dagestanden und hat den armen kleinen schmutzigen Lehrbuben in die Arme genommen, hat ihm das struppige Blondhaar gestreichelt, in dem Kalk und Spinnweben hingen, und hat gesagt: ‚Du armer Bub’, ach, Du armer Bub’!‘ Und sehen Sie, das – das –“ Er brach ab, schneuzte sich und sprach barsch weiter. „Also, Sie wissen nun – nicht Ihretwegen, sondern – na, die Sache ist abgethan – auf Wiedersehen in Berlin! Sehen Sie, daß Sie so heimlich abreisen, wie Sie gekommen sind, es kann uns allen nur daran gelegen sein, daß die Geschichte totgeschwiegen wird. Guten Abend!“

Dann schlug die Thür, und er war aus dem Zimmer gegangen, es dem Offizier überlassend, sich mit sich selbst zurechtzufinden.

Der nahm seinen Hut und verließ mit zusammengepreßten Lippen das Haus, wüthend, beschämt, und doch im hintersten Grunde seiner Seele mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung.

Er wanderte in der Finsterniß am heimischen Grundstück vorüber, unten, längs des Stromes. Im Stübchen der Tante brannte Licht; es wollte etwas wie Mitleid mit der alten Frau über ihn kommen, da rief er sich selbst zur Ordnung. Nur keine Sentimentalität, nur kein Leben auf der sogenannten Mittelstraße! Ein Lieutenantsleben mit achtzehn Thalern Zulage monatlich – nimmermehr! Und als er dort stand und hinaufstarrte, reifte ein Entschluß in ihm – Afrika! Hinaus in eine andere Welt!

Vom Fenster des Eisenbahnwagens blickte er dann noch einmal zu dem Städtchen hinüber und suchte den spitzen Thurm der Krautnerschen Villa. „O, dieses Mädchen!“ Er ballte die Faust, er hatte sich doch recht redlich in diese blonde Nixe vergafft gehabt, und nun so! – Und dazu mußte er noch Wohlthaten von dem alten sentimentalen Narren annehmen, denn einen anderen Ausweg gab es nicht! Er zündete sich eine Cigarre an und bei ihrem aromatischen Dufte beruhigte sich allmählich sein Grimm. Seiner Schulden ledig zu werden, das war am Ende nicht zu unterschätzen, wozu über das andere sich grämen!

Am nächsten Mittag kam er sehr gefaßt ins Kasino zu Tische und zwei Tage später reichte er, gleichzeitig mit seinem Abschied, das Gesuch um eine Stelle als Offizier in der deutschen Schutztruppe für Ostafrika ein.

„Nanu?“ fragten die Kameraden, „wir meinten, Sie wollten heirathen?“

Er strich den Schnurrbart und antwortete nachlässig: „Ich passe absolut nicht zu einem Philister, das Glück kommt noch früh genug.“ Und dann trank er seinen Porter mit Ale aus und sagte, er müsse auf den Bahnhof, um einen alten Onkel zu empfangen, der es sich durchaus in den Kopf gesetzt habe, die Sehenswürdigkeiten des Nestes zu bewundern; deshalb werde er auch heute abend nicht zu Tische kommen. Und der alte Onkel war Herr Alois Krautner, der dem Herrn Lieutenant helfen wollte, sich zu arrangieren.

*               *
*

So um halb neun Uhr an jenem selben Abend, da Therese ihre Verlobung gelöst – der junge Offizier hatte kaum das Krautnersche Grundstück verlassen – kam vorsichtig aus dem Nachbarhaus die schlanke Gestalt Julias; sie trug ein Präsentierbrett mit einem Tellerchen Kuchen und Creme und sollte beides mit den herzlichsten Wünschen für baldige Heilung der kranken Hand dem Thereschen von der Frau Räthin überbringen. Julia kam den Gartensteig daher, wo sich im Schnee noch die Fußspuren des Bruders zeigten, und hatte keine Ahnung, daß er hier geschritten war, daß sich eine bedeutungsvolle Stunde seines Lebens vor kurzem hier abgespielt hatte.

Sie trat in den Hausflur, und als niemand erschien, ging sie hinüber zu Theresens Thür und pochte. Aber kein gastliches „Herein!“ erscholl. Da drückte sie auf die Klinke und steckte ihr dunkles Köpfchen durch den Thürspalt. „Darf ich eintreten?“ klang es freundlich in die Ohren Theresens, die in einem der kleinen Sessel am Kamin saß und der Thür den Rücken zuwandte.

Nun spraug sie auf, und Julia sah in ein blasses Gesicht mit unheimlich sprühenden Augen.

„Was willst Du?“ fragte Therese barsch und unfähig, ihre Erregung zu verbergen; „ich bin totmüde und will zu Bett gehen.“

„Wie stehst Du nur aus!“ sagte Julia nicht im mindesten verletzt, weil sie die Leidende in ihr sah. „Hast Du große Schmerzen?“

„Ja!“

Mamsell Unnütz stellte den Teller aus der Hand und wandte sich zum Gehen. „Wart’ nur, Therese, ich hole den Doktor!“

„Ich will ihn nicht – um Gotteswillen, bleib!“ schrie es hinter ihr, und Therese zerrte die Freundin so hastig am Kleide zurück, daß die Falten rissen. „Entschuldige!“ stotterte sie.

„Ja, was hast Du denn nur, Thereschen, Du bist ja schrecklich aufgeregt!“

„Geh’ zum Vater,“ murmelte das blonde Mädchen, „sag’, er soll zu mir kommen!“

Julia ging. Sie fand Herrn Krautner in seinem Zimmer; er saß im Lehnstuhl am Fenster und schaute in den dunklen verschneiten Garten hinaus.

„Was willst Du, Töchterchen?“ fragte er weich, mit einer Stimme, die ganz anders klang als sonst. Julia richtete Theresens Bitte aus.

Der alte Mann blieb eine Weile still. „Sage ihr, wenn sie Verlangen hat nach mir, so könne sie auch den Weg zu mir finden,“ sprach er dann. „Das Kind soll zum Vater kommen, nicht umgekehrt! Leider habe ich’s versäumt, ihr das bei Zeiten klar zu machen; von heute ab wird’s anders.“

Und als ihn Julia fragend und verwundert anblickte, strich er über ihre Wange. „Es hat ihr die Mutter gefehlt, die Mutter, Kind, und der alte Mann hat in das Einzige, was ihm geblieben, hineingeschaut wie in einen goldenen Becher und hat die Tochter angebetet wie ein Christkindel. Es hat nicht gut gethan, nicht gut gethan!“ Und er schüttelte den Kopf.

„Sie kommen nicht, Herr Stadtrath?“ fragte Mamsell Unnütz noch einmal leise.

Er hob sich ein wenig vom Stuhle, dann sagte er wieder: „Nein, ich komme nicht.“

„Thereschen,“ sprach Julia drüben zu der Harrenden, „ich weiß ja nicht, was Ihr miteinander habt, aber Du bist das Kind, geh’ hinüber zu ihm, gieb ihm die Hand!“

Statt aller Antwort begann Therese bitterlich zu schluchzen. „Niemand will mich verstehen, niemand kann ich es recht machen! Selbst wenn ich elend und krank bin, nimmt man keine Rücksicht auf mich. Ich gehe nicht, ich gehe nicht zu ihm; behandelt hat er mich, als sei ich eine Verbrecherin und lieber laufe ich fort und komme niemals wieder, nie!“ Und sie fing abermals an zu weinen, bis sie in einen Zustand von Aufregung gerieth, daß Mamsell Unnütz noch einmal hinüberflog, um den alten Herrn zu bitten, doch ja zu kommen, die Therese scheine ernstlich krank zu sein.

Da kam er und trat zu dem blassen zitternden Geschöpf, das auf dem Sofa lag; sorgsam breitete er die Decke über den schlanken Körper, und sein unschönes, sonst so joviales Gesicht hatte einen wunderbaren Ausdruck von Kummer und Zärtlichkeit.

[720] „Na, nun weine nur nicht mehr, als sei Dir das größte Unrecht geschehen – hörst wohl?“ polterte er. „Nimm Dir eine Lehre daraus! Deine Mutter hätte so etwas nicht gethan, die war so schlicht und so rechtlich – – Werde ernst, Kind, werde ernst, und . . . sapperlot, höre auf zu zittern, wirst sonst krank; am Ende wär’s gut, wir holten den Doktor, daß er Dir –“

Da fuhr sie abermals empor. „Nicht den Doktor!“

„Nun – nein, nein!“ beruhigte er. „Da, trink’ Zuckerwasser und geh’ zur Ruh’; ich will mich nachher an Dein Bett setzen, bis Du eingeschlafen bist, das Julchen hilft, Dich auskleiden; möchte nicht, daß Deine Jungfer sieht, wie aufgeregt Du bist.“

Julia brachte das noch immer bebende Mädchen zu Bett, dann kam der alte Mann wieder, setzte sich neben seinen Liebling und schickte sich an, Wacht zu halten wie eine Mutter.

Mamsell Unnnütz ging. Sie hatte feuchte Augen, als sie noch einmal zurückschaute auf die Halbschlummernde, die so liebevoll behütet war. Sie wußte nicht, was geschehen war, aber wäre es auch das Herbste, Schwerste gewesen – wer solche Liebe besaß, der war beneidenswerth.

„Glückliche Therese, die einen Vater hat und einen Liebsten!“

Und da unterdrückte sie mühsam einen Freudenschrei. Ach, sie hatte ja auch ein Glück! Dort an der Pforte vor Krautners Garten stand er und wartete auf ihr Kommen! Gewiß hatte ihm seine Mutter gesagt, daß sie noch einmal ausgegangen sei.

„Nun?“ fragte er, neben ihr herschreitend, „wie geht’s denn da drüben, Unnütz?“

„Gut!“ antwortete sie leise. „Sie schläft.“

Er nickte befriedigt. Dann gingen sie stumm nach Hause. Es war unsagbar schön, dieses Stückchen Weg.

„Schlaf wohl, Kleine,“ sagte er im Hausflur, müde, mit unterdrücktem Gähnen. Dann nickte er ihr zu und verschwand in seiner Thür.

„Gute Nacht!“ murmelte sie und stieg die Treppe empor.



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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 24, S. 741–748

[741] Es ist sehr schwer für ein junges Menschenkind, das, was das Herz bewegt, beglückt, beschwert, fest in sich zu verschließen. Die Eindrücke, die ein solch kleines Herz empfängt, drohen es zu zersprengen, und andere theilnehmende Herzen müssen helfen, die wichtigen, wonnigen oder schmerzlichen Begebenheiten einer ersten Liebe zu tragen. Selten ist die Mutter die Vertraute, fast immer ist es eine Freundin, die auch ihrerseits ein Geheimniß hat. Solche Mädchenfreundschaft ist ein rührendes Ding – immer bereit, zu trösten, mitzuweinen oder mitzulachen, und immer bereit, Wunder zu entdecken, wo vielleicht ein anderer die reinste Prosa sehen würde.

Mamsell Unnütz besaß keine Mutter, und die, die deren Stelle zu vertreten gelobt hatte, vermochte noch immer keine Liebe zu ihr zu fassen. Das stille Kind würde es nie gewagt haben, irgend etwas, von dem es bewegt wurde, der blassen bekümmerten Tante auch nur anzudeuten. Und Therese Krautner war ihr keine Freundin im eigentlichen Sinne; besonders mied sie alle Vertraulichkeit mit Julia, seitdem sie sich mit ihrem Bruder verlobt hatte, und diese war viel zu stolz, um eine Freundschaft zu suchen, die sich ihr versagte. Aber sie litt unter ihrer Herzenseinsamkeit namenlos schwer, denn von Natur war sie anschmiegend und zärtlich, und all ihre Kühle und scheinbare Unempfindlichkeit war künstlich, ein Ergebniß der ohne Liebe verlebten Jugendzeit. Nur aus den wunderbaren Augen erkannte man das helle süße Feuer, das ihre Seele barg; aber diese Augen lagen fast immer verschleiert unter den blauschwarzen Wimperm. Freilich nannte die Frau Räthin eben das „Koketterie“, denn hoben sich plötzlich die Wimpern und schaute Mamsell Unnütz einem anderen Menschen voll ins Gesicht, so konnte dieser erschrecken vor den Strahlen, die ihm entgegenflammten, ein tiefes innerliches Leben verrathend, eine Fülle von Empfinden.

„Zum Glück,“ pflegte die Räthin zu sagen, „hat sie gar keine Gelegenheit, ihre gefährlichen Augenkünste zu versuchen, denn außer mit dem Fritz verkehrt sie mit keinem Mann, und der ist ihren Anblick gewöhnt, dem thut’s nichts – man kann in der schönsten Landschaft wohnen und man merkt’s gar nicht, saß man von jeher darin. Na, und außer den Augen ist auch wirklich nichts an dem Mädchen, was man schön heißen könnte; die schwarzen Zöpfe sehen aus als wie aus Nähseide geflochten, und der Teint ist so gelblich wie meine Garnitur echter Spitzen.“

Und doch sollte es auf einmal einen Menschen geben, in dem diese Augen Liebe geweckt hatten, der um jeden Preis die Besitzerin dieser Augen – die Räthin schlug die Hände über dem Kopfe zusammen – heirathen wollte!

Mamsell Unnütz selbst hatte keine Ahnung davon gehabt, daß die Liebe eines Mannes sie suchte mit fieberhaftem Verlangen; sie sprach mit dem Kranken, der fast allmorgendlich am Arme eines Dieners die Schwelle des Wartezimmers mühsam überschritt, so freundlich wie mit allen anderen, vielleicht noch freundlicher, denn angesichts eines solchen Elends floß ihr Herz über von Güte. Gab es denn etwas Trostloseres, als jung, reich, befähigt zu sein und dabei an allem gehindert zu werden durch einen gebrechlichen Körper? Sie, die bei aller Ruhe ihrer Bewegungen [742] doch eigentlich ruhelos war, die es nicht ausgehalten hätte, ohne daß sie jeden Tag drei- bis viermal durch den Garten zum Strome hinuntereilen, im Sommer hinausrudern konnte mit den zarten und doch so kräftigen Armen, sie mußte es doppelt mitleidsvoll empfinden, wenn sie einen Menschen erblickte, der nur von seinem Rollstuhl aus die Natur genießen konnte. Aber diese ihre Theilnahme brachte dem armen Menschen auch noch ein krankes Herz. Er meinte plötzlich, in dem schönen freundlichen Wesen das gefunden zu haben, was ihn mit dem Leben versöhnen könne, und heute in der Mittagsstunde war seine Mutter erschienen und hatte die Räthin um eine Unterredung unter vier Augen bitten lassen.

Sie war Witwe, eine stolze Frau, die sich nie in den Andersheimer bürgerlichen Kreisen gezeigt und mit ihrem Sohne ganz für sich gelebt hatte.

Ein sehr armes Mädchen aus altem französischen Adel war sie gewesen, als Herr Norban sie kennenlernte, gerade nachdem ihr Vater den letzten Kreuzer am Spieltisch verloren und sich dann in plötzlicher Verzweiflung erschossen hatte. Dies mochte zu dem Entschluß beigetragen haben, den bürgerlichen Bewerber um ihre Hand zu erhören und ihm als Gattin nach seiner schönen Villa am Rhein zu folgen. Glücklicherweise lag diese durch einen weitläufigen Park von der Fabrik getrennt; sie mochte nicht gern daran erinnert werden, daß ihr Eheherr „Deutschen Schaumwein“ fabriziere, wenngleich es ihr ein kleiner Trost war, daß Napoleon III. der Sage nach einst um die schöne Veuve Cliquot gefreit habe. Aber sie war doch eine Frau von Charakter und dazu eine schwer geprüfte Frau. Ihr armer einziger Sohn, ihr Alphonse, der zu den herrlichsten Hoffnungen berechtigt hatte, war seit seinen Knabenjahren ein Krüppel. Er hatte, stark erhitzt, im Rheine gebadet und war gelähmt nach Hause getragen worden – ein furchtbarer Schlag für die Frau, die dennoch ihren Muth nicht verlor. Sie suchte dem vergötterten Sohne jeden Wunsch zu erfüllen, sie gab ihm die sorgfältigste Erziehung, und als sein Vater an den Folgen seiner im Kriege gegen Frankreich erhaltenen Wunden starb – er hatte an dem Feldzug als Reserveoffizier theilgenommen – da ward sie nicht nur der alleinige Trost ihres Knaben, da ward sie auch eine Deutsche; sie vergab es ihren Landsleuten nie, daß sie dem armen Jungen den Vater geraubt.

Und diese Frau kam heute, um für ihr geliebtes Kind Hand und Herz der kleinen Mamsell Unnütz zu fordern.

Sie hatte sich achtundvierzig Stunden verzweifelt gegen diesen Plan zur Wehr gesetzt, ihr Herz war beinahe gebrochen darüber. Sie hatte dem Einzigen alles sein wollen, und der Gedanke, seine Liebe mit einer anderen theilen zu müssen, war ihr fürchterlich. Aber nun hatte sie sich darein ergeben, es beherrschte sie nur noch die Angst, er, der Krüppel, könnte verschmäht werden.

Der Räthin schwindelte es förmlich, als ihr Frau Norban gemeldet wurde; denn die stolze Frau pflegte keinerlei Verkehr zu suchen. Nun saß sie wie ein Steinbild auf dem Kanapee neben der Dame, deren schwarzes Schnurrbärtchen auf der Oberlippe sie zum ersten Male in der Nähe sah und deren zobelverbrämter Sammetmantel vollends dazu beitrug, der Frau Rath den Verstand zu verdrehen.

Enfin,“ sagte Frau Norban, „Alphonse liebt dieses junge Mädchen; was er ihr zu bieten hat, ist ja doch immerhin sehr viel. Ein Vermögen – wir würden sie für den Fall seines frühen Todes aufs beste versorgen – eine Stellung, die rührende dankbare Liebe seines guten Herzens. Er – –“ sie fuhr mit der Hand über die Augen und wischte eine Thräne weg.

„Aber, ich bitte Sie, gnädige Frau,“ versicherte die Räthin, „welches Mädchen würde nicht glücklich sein, wenn Ihr Herr Sohn – – und heirathen will er die Julia?“ unterbrach sie sich, aufs neue in Erstaunen gerathend, „wirklich heirathen?“

Frau Norban räusperte sich. „Da ich persönlich als seine Fürsprecherin komme, so dächte ich, die Sache sei klar. Die Tante der jungen Dame ist mir als schwer zugänglich geschildert worden, deshalb wende ich mich an Sie, meine liebe Frau Rath.“

„O Gott,“ antwortete diese, als sei ihr selbst ein großes unverhofftes Geschenk in den Schoß gefallen, „welch ein Glück für das Kind und für meine arme Schwester!“

„Bitte, ermöglichen Sie es mir, das junge Mädchen zu sehen.“

„Wie? Sie kennen das Julchen noch gar nicht?“

Frau Norban schüttelte den Kopf. „Nur aus der Beschreibung meines Sohnes.“

Die Räthin eilte, so rasch es auf ihren Filzschuhen ging, aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. Julia stand droben in der Küche und rührte die Hafermehlsuppe für Tante Riekchen, die durch das Ausbleiben aller Nachrichten von dem Pflegesohn krank geworden und wie gebrochen im Bette verblieben war.

Gleich einer Gewitterwolke schoß die Räthin auf ihren unhörbaren Sohlen in die Küche und roth vor Aufregung schrie sie mit zitternder Stimme dem erschreckten Mädchen zu:

„Mach’ rasch, zieh’ Dir ein anderes Kleid an, wasch’ Dir die Hände, es ist jemand drunten –“ Sie schnappte nach Luft – „Mach nur fix und komme recht nett und lieb, hörst Du?“

„Und was soll ich unten, Tante?“ fragte Julia ruhig.

„Eine Dame ist ohnmächtig geworden – bring’ ein Glas Wasser!“

Die Räthin fand diese Ausflucht selbst außerordentlich thöricht, als sie die Treppe hinunterschoß, aber es fiel ihr rein nichts anderes ein. Sie saß, noch heftig nach Athem schnappend, neben ihrem Besuch, als sich langsam die Thür aufthat und das junge Mädchen erschien mit einem Tellerchen, auf dem ein Glas frischen Wassers stand. Sie hatte sich nicht umgekleidet, denn nach ihrer Meinung war die Robe, in der man einem Ohnmächtigen zu Hilfe eilt, nur Nebensache, und so kam sie in ihrem knappen dunklen Wollkleidchen, mit leicht vom Herdfeuer geröthetem Antlitz.

Frau Norban, die keine Ahnung hatte, daß sie als eine Ohnmächtige gelten sollte, nahm die Lorgnette und sah mit erstaunten Augen der eigenartig reizenden Erscheinung entgegen. Ja, nun verstand sie alles; sie kannte den glühenden Schönheitssinn ihres Sohnes, sie selbst hatte ihn ausgebildet. Und dieses Geschöpf, diese blühende Schönheit, die wollte er für sich haben, der arme Bub’? Sie ließ die Lorgnette fallen und senkte die Augen vor denen Julias, die ihr das Glas Wasser darbot.

„Ich danke Ihnen, mein liebes Kind.“

„Der gnädigen Frau ist schon besser!“ rief die Räthin.

„Ja, aber wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen?“ fuhr Frau Norban mit leise verwunderter Miene fort, als Julia sich umwandte, um wieder zu gehen. „Ich möchte nämlich,“ fuhr sie fort und zog das Mädchen auf den Stuhl an ihrer Seite, „ich möchte Ihnen danken. Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie durch meinen Sohn.“

„Doch, Frau Norban, ich kenne Sie,“ antwortete Julia. „Ihr Herr Sohn hat mir oft genug von seiner Mutter erzählt.“

„That er das?“ fragte sie, freudig erröthend. „Er ist ein guter Mensch, ein guter edler Mensch, ich kann es sagen als glückliche Mutter. Sie sollten seine Gedichte lesen – wollen Sie? Ich werde sie Ihnen schicken; Sie lernen daraus sein ganzes Herz kennen!“

Julia hielt die Wimpern gesenkt. „Ich werde mich sehr freuen,“ antwortete sie verlegen. Sie fühlte, daß irgend etwas Ungewöhnliches die Frau so sprechen ließ.

„Und wollen sie mich einmal besuchen? Ja? Das ist lieb von Ihnen. Vielleicht heute nachmittag?“

„Es thut mir leid, gnädige Frau, aber meine Tante ist gerade heute besonders leidend.“

„Ach was, papperlapapp!“ fiel die Räthin ein, „deshalb kannst Du ruhig gehen, ich sehe schon nach ihr; wirst doch nicht immer bei ihr hocken können!“

„Sie sind ein gutes Kind,“ sprach Frau Norban und erhob sich. „Heute also nicht, aber morgen lasse ich mir keinen Korb geben, morgen schicke ich Ihnen den Wagen. Und nun leben Sie wohl – auf Wiedersehen!“

Sie hatte beide Hände von Mamsell Unnütz erfaßt, und ein wehmüthiges Lächeln zog sich um ihre vollen Lippen, als sie die süße kindliche Verlegenheit beobachtete, die sich auf des Mädchens Gesicht ausprägte.

„Auf Wiedersehen, liebes Kind – adieu, Frau Räthin!“

Sie ging der Thüre zu. Julia blieb wie angewurzelt stehen, die Räthin aber eilte der Weggehenden nach und begleitete sie über den Hof bis zum Wagen. Als sie zurückkam, stieg eben das junge Mädchen die Treppe wieder hinauf.

Daß Gott erbarm’! Nicht einmal neugierig war dieses hölzerne Ding!

„So wart’ doch,“ schrie sie, „daß die Tante nicht einen zu großen Schreck bekommt!“

„Weshalb einen Schreck?“ fragte Julia, stehen bleibend.

[743] Da war die erregte Frau schon an ihrer Seite. „Lieber Gott, bist Du denn ganz und gar mit dem Verstand zu kurz gekommen? Oder thust Du nur so, als merktest Du nicht, wie das Glück Dich überschütten will?“ Sie faßte das Mädchen an der Hand und schob die Willenlose durch die Schlafstubenthür von Tante Riekchen. Dann rief sie mit in die Seite gestemmten Armen ihrer erschrockenen Schwester zu:

„Nein, Riekchen, nun sieh sie Dir an, sieh Dir nur das da an! Nein, das hätten wir alle beide nicht gedacht – ach, du lieber Himmel, ich muß mich setzen!“

Die nervöse Kranke war jäh im Bette emporgefahren. „Was ist denn?“ stieß sie mühsam hervor, und ihre Augen flogen wahrhaft entsetzt zu dem blassen Mädchen, dem jetzt eine unbestimmte Ahnung aufstieg, daß es sich um die Zukunft ihrer Person handle.

Brauchst nicht zu erschrecken, bist Deine Sorgen mit einem Male los, Riekchen! So denk’ doch nur, dieses dumme Gänschen da hat ein Glück wie kein anderes Mädchen in der Stadt – einen Heirathsantrag, einen, der aber nicht von Pappe ist – was meinst, Riekchen? Der Alphons Norban will sie!“

Ein leiser banger Aufschrei war durch das Gemach geflogen zugleich mit den letzten Worten der Frau. Dann ward es totenstill. Die beiden Schwestern hingen mit ihren Augen an Mamsell Unnütz, die noch auf demselben Flecke stand, hochaufgerichtet, den Kopf zutückgeworfen und leichenblaß. Nur ein leises Schütteln ging durch ihren Körper.

„Das ist nicht wahr!“ brach es endlich von den zitternden Lippen.

„Nicht wahr? Nun ja, schwer zu glauben ist’s, aber wahr ist’s doch! Seine Mutter hat mich ausdrücklich beauftragt, mit Deiner Tante darüber zu reden.“

„Aber Minna, er ist ja – er ist ja –“

„Geh’ hinaus!“ unterbrach die Räthin, zu Julia gewandt, ihre Schwester. „Und Du, Riekchen, schweig’ still mit den sentimentalen Redensarten! Freilich ist’s ein kränklicher Mensch – soll er darum keine Frau bekommen?“

„Aber nicht mich!“ kam es jetzt von Julias Lippen. Sie war stehen geblieben und hatte ruhig und besonnen gesprochen. „Nicht mich!“ wiederholte sie noch einmal.

„Das wirst Du Dir doch wohl noch überlegen,“ erklärte unbeirrt die Räthin, „erst will ich aber mit Dir reden, Riekchen; geh’ hinaus, Julia!“

„Ich möchte hier bleiben!“

„Laß sie hier,“ sagte auch die Kranke und legte sich seufzend in die Kissen zurück, „es ist doch ihre Sache, und ich will nicht, daß sie denkt, ich mischte mich in etwas, was sie allein zu entscheiden hat.“

„Mit Euch red’ der Kuckuck! Ihr wartet wohl auf den Großmogul? Als ob die Gelegenheit wiederkäme, so ein Fräulein von Habenichts auch nur annähernd zu versorgen! So denk’ doch nur ums Himmelswillen, Kind, in was für Verhältnisse Du heirathest! In ein wahres Feen-Nestchen setzen sie Dich; der arme Mensch ist rein weg von Dir, und was dem gefällt, gefällt seiner Mutter erst recht. Jetzt denk’ ’mal, wie sorglos Du da leben kannst als geachtete Frau. Du kannst Reisen machen, die Welt sehen, hast Dein reizendes Haus, die Theaterloge in Wiesbaden und die Equipage; Du bist versorgt und geschützt und gepflegt wie ein Prinzeßchen; keine Noth des Lebens kann an Dich heran, während sie sonst allerwegen auf Dich lauert. Oder denkst Du Dir’s so leicht, als armes Mädchen durch die Welt zu ziehen, von einer Stellung in die andere getrieben zu werden? Denn das kannst Du Dir doch nicht verhehlen, daß es hier nicht lange mehr geht. An Deiner Stelle hätt’ ich’s schon längst nicht mehr mit ansehen können, wie Deine arme Tante im Gram um Deine unversorgte Zukunft vergeht. Auf die Knie müßtest Du fallen und Gott danken, daß er einen Ausweg schickt aus all dem Wirrsal und Dir Gelegenheit geben will, dem armen Thierchen da“ – sie wies auf die Kranke – „das ein wenig zu vergelten, was sie für Euch gethan hat. Betrachte es nur ’mal von dieser Seite, dann wirst Du anders denken!“

Mamsell Unnütz hatte während dieser Rede mehr und mehr den Kopf gesenkt, die Arme hingen ihr schlaff herunter, es wirbelte ihr vor den Augen; ihr war, als ob eine eiskalte Hand sie zurückdränge, immer weiter zurück aus hellem friedlichen Sonnenschein in einen blumenlosen trüben Wintertag; und sie wollte doch nicht. Sie umfaßte das, was ihr Halt gewesen, und klammerte sich fest daran mit ihrem geängstigten Herzen.

„Ach, ich will alles thun um der Tante zu helfen nur das nicht, das nicht!“

„Alles thun? Das sind Redensarten!“ eiferte die Räthin. „Was willst Du denn thun? Etwa eine Stelle suchen? Davon wirst Du allein kaum satt, für andere fällt nichts ab. Und was willst Du denn werden. Bezahlte Krankenpflegerin etwa? Da thätest Du besser, Deinen eigenen Mann zu versorgen, dann weißt Du was Du hast.“

„Aber ich will nicht!“ rief das Mädchen plötzlich, „hör’ auf, Tante, ich will nicht!“

„Und warum denn nicht?“

„Weil ich ihn nicht lieb haben kann!“

„Na, verlangt ja auch keiner. Ist das der ganze Grund? Weißt Du, der ist aus der Mode, das ist lächerlich, wenigstens in Deiner Lage sehr lächerlich.“

Mamsell Unnütz wandte langsam ihre empörten Augen zu Tante Riekchen hinüber. Die mußte sich ja ihrer annehmen, mußte sie verstehen, denn sie war ja auch dem Geliebten treu geblieben und hatte jeden anderen abgewiesen, selbst dann noch, als jener sich von ihr gewandt. „Hilf’ Du mir!“ heischten ihre Blicke. Aber rasch senkten sich ihre Wimpern; aus den weit geöffneten glänzenden Augen der Fieberkranken war eine Bitte an ihr Herz gedrungen, eine angsterfüllte heiße Bitte. „Wenn Du Dich entschließen könntest!“ stand darin so deutlich, ach so deutlich!

Da wandte sich das Mädchen mit einer schier verachtungsvollen Gebärde ab und ging hinaus. Und nun saß sie in ihrem engen Stübchen, die Hände im Schoße gefaltet. Was werden solle, war ihr nicht ganz klar, nur das eine wußte sie, er würde ihr helfen, er würde endlich, endlich sagen: „Laßt das Quälen – sie ist mein, mein für immer!“ Wenn er nur erst käme, er blieb heute gar so lange!

Die Stimme der Räthin drang gedämpft bis hierher; sie mußte sehr laut und sehr eifrig reden. An das Mittagessen dachte sie heute nicht. Diese Brautwerbung hatte gewirkt wie ein Blitzschlag und alle gewohnte Ordnung umgestoßen.

Jetzt ward nebenan die Thüre zugeschlagen und die Räthin huschte über den Flur; ihre Tritte hörte man nicht, wohl aber ihr ärgerliches Gemurmel. Dann ward es ganz still.

Das junge Mädchen erinnerte sich endlich, daß die Kranke ihre Suppe noch nicht bekommen habe, und eilte, sie ihr zu bringen. Tante Riekchen lag mit heißem schmerzenden Kopfe in ihren Kissen und wollte nicht essen; sie wehrte unwillig der Hand, welche die ihrige ergriff. „Geh’ nur, geh’,“ sagte sie, „ich mag nichts sehen und hören von all den Geschichten, ich habe nur noch einen Wunsch – ich wollte, ich wäre tot!“

Mamsell Unnütz wagte nicht, ein beruhigendes Wort zu sprechen; sie wußte nun, auch hier zürnte man ihr, weil sie nicht die erste beste Gelegenheit ergriff, um das Haus von ihrer lästigen Gegenwart zu befreien. Sie schlich davon und schaute aus dem Flurfenster über den Hof, ob er noch immer nicht komme, der sie schützen sollte. Aber der verschneite Hof lag einsam da und im ganzen Hause war es totenstill. Die Räthin mochte wohl versuchen von den Aufregungen des Vormittags auszuruhen. Julia erinnerte sich nicht, jemals die Frau so aufgeregt, so geärgert gesehen zu haben. Was konnte ihr nur so groß daran liegen, ob sie, Julia, reich würde oder nicht? – Dann stieg vor den Augen des Mädchens das blasse eingefallene Gesicht des Mannes auf, der sie zur Frau begehrte. Diese Züge, so aschfahl, so durchsichtig, so sterbenskrank, und ein Frösteln überlief sie, ein Widerwille, der sich bis zum körperlichen Unbehagen steigerte. – Käme er doch erst!

Und auf einmal hörte sie drunten die Klingel, ganz leise; er pflegte so zu kommen, wenn er vermuthete, daß seine Mutter schlief. Im nächsten Augenblick war sie auf der Treppe und lief durch den Flur in das Wartezimmer. Er zog eben den Ueberzieher aus und sah kaum auf Mamsell Unnütz, die ihm mit blassem Antlitz und fest ineinander gepreßten Händen entgegenschritt.

„Fritz,“ begann sie, und jetzt, wo sie sich geborgen glaubte, verlor sie ihre mühsam bewahrte Ruhe, „Fritz, Du hast mir gesagt, im Sommer war’s, wenn man mir etwas thun wolle – bei Dir fände ich Schutz. Nun bitte ich Dich, hilf mir!“

„Komm, Julia, hier ist’s kalt,“ antwortete er ruhig und ging voran in sein Wohnzimmer. „Gewiß helfe ich Dir, wenn Du Hilfe nöthig hast. Was ist denn geschehen? Hast Du armes kleines Ding wieder Schelte bekommen, hast Du etwas vom alten [744] Porzellan meiner Mutter zerschlagen, oder was ist sonst Erschütterndes geschehen?“

Er nahm bei diesen Worten Hörrohr und Verbandtasche aus dem Rocke, setzte sich in seinen Lehnstuhl vor dem Arbeitstisch und wies ihr lächelnd einen Sitz neben sich an. „Nun?“ fragte er dann.

Julia blickte ihm unverwandt ins Gesicht, und ihr fiel auf, daß er heute anders aussah als sonst, so viel ernster und dennoch förmlich verklärt; und sie kannte das Zucken in seiner Wange, so war es, wenn ihn etwas im Innersten erregte. Ach, sie hatte ja nur dieses Antlitz auf der Welt gesehen, immer nur dieses!

„Nun?“ fragte er noch einmal.

„Du sollst der Tante und Deiner Mutter klar machen, daß ich den Herrn Norban auf keinen Fall heirathen werde,“ sagte sie rasch.

Er fuhr herum und starrte sie an. „Aber Kind, wenn ich nicht wüßte, daß Du ein leidlich vernünftiges und ruhiges Geschöpfchen bist, so würde ich denken, in Deinem Kopfe sei es nicht ganz richtig; eine solche Zumuthung wird Dir wohl kein Mensch stellen!“

„Sie ist mir aber doch gestellt worden – Frau Norban selbst ist heute bei Deiner Mutter gewesen und hat um mich angehalten für ihren Sohn.“

Er lachte ungläubig auf; als er aber das ernste Gesichtchen so schmerzvoll zucken sah, rief er, aufspringend: „Das ist ja ein toller Gedanke, der reine Wahnsinn! Aber beruhige Dich, Kind, dafür bin ich noch da! Und da kommt ja die Mutter! Nun sei nur gut und zittere nicht, Kind!“

Die Räthin prallte förmlich zurück, als sie das junge Mädchen erblickte. „Na, hoffentlich machst Du ihr den Standpunkt klar!“ sagte sie ärgerlich.

„Habe ich bestens besorgt, indem ich ihr mittheilte, daß ich es schamlos finden würde, wollte sie äußerer Vortheile wegen eine wandelnde Leiche heirathen. Zum Glück scheint sie es nicht zu beabsichtigen.“ Er hatte sehr ruhig gesprochen, legte ein paar Broschüren von einem Platze des Schreibtisches auf einen anderen und fuhr fort: „Ich werde nachher zu Frau Norban gehen, um ihr für diesen Antrag in aller Form zu danken und ihr zu bemerken, daß ich bereit bin, die Behandlnllg ihres Sohnes weiter zu übernehmen, aber nicht hier, sondern in ihren eigenen vier Pfählen; und falls er eine Gesellschafterin und Pflegerin wünscht, solle er das nur in irgend einem größeren Blatte ausschreiben – es finden sich Hunderte. Und somit wäre uns und ihnen geholfen. – Hattest Du noch etwas zu sagen, Mutter?“

Nein, die Räthin hatte nichts mehr zu sagen, sie hätte ihre Meinung auch nicht aussprechen können, selbst wenn sie gewollt hätte, so schnürte ihr die bündige Erklärung des Sohnes die Kehle zu. Sie verließ stumm das Zimmer, und man hörte drinnen eine Weile nichts als das Dröhnen vom Zuschlagen der Stubenthür.

Dann ein leises Schluchzen – Mamsell Unnütz hatte das Gesicht in ihren Händen geborgen, und während ein nervöses Zittern sie durchschauerte, stieß sie abgerissene unverständliche Worte hervor. Erschreckt suchte er sie zu beruhigen; er hatte sie niemals weinen sehen, selbst als Kind nicht, und hatte sich früher oft gewundert über das starre Gehaben des immer gescholtenen Kindes. Nun berührte ihn dieser Ausbruch einer tief inneren Erschütterung unsäglich schmerzlich; er bog sich näher zu ihr, um besser zu verstehen, was sie wolle, um zu erforschen, was sie noch drücke. Ihn rührte das schwesterliche Vertrauen, das die arme Kleine zu ihm hegte, er hob das Köpfchen sanft empor und legte die Rechte beschwichtigend auf ihr Haar.

„Julia,“ bat er, „beruhige Dich doch; Du weißt nun, die Sache ist abgethan. Sieh, in jedem Menschen steckt ein gutes Stück Selbstsucht, in dem armen Kranken, der Dich heirathen will, ein doppelt großes, ein sträfliches Stück davon. Mußt ihm das nicht übelnehmen, er ist verzogen von seiner Mutter, immer nur gewohnt, alles zu bekommen, was er haben will. Doch diesmal darf er seinen Willen nicht durchsetzen, denn meine kleine Kameradin soll dieser Selbstsucht nicht geopfert werden.“

Aber unter den Wimpern des Mädchens rieselten noch immer heiß die Thränen hervor. Ihr graute vor dem, was nun kommen würde, vor den ewigen Vorwürfen, vor dem Leben, das nach diesem Ereigniß noch trostloser werden mußte als vorher; und die Sehnsucht nach Geborgensein, nach Zärtlichkeit, nach Liebe, nach dem einzigen Herzen, das sie verstand, war in diesem Augenblick stärker als sie. Ihr thränenüberfluthetes Gesichtchen hob sich empor, ihre Hände hatten sich gefaltet und ihre Lippen regten sich. Er bog sein Ohr zu ihrem Munde, um dieses lautlose Flüstern zu verstehen, und da hörte er deutlich, was sie meinte, und das Herz wollte ihm stille stehen vor Schreck.

„O, laß mich doch nicht mehr so furchtbar allein, Fritz! Sag’s ihnen doch, daß Du – daß wir beide – daß wir –“

Er ließ sie nicht ausreden. „Julia,“ sprach er laut und hob aufstehend das Mädchen mit empor, „Julia, besinne Dich!“ Und als ihr in demselben Augenblick die rothe Flamme der Scham über das Antlitz schlug, da zog er sie an sich und sagte mit bebender Stimme: „Julia, meine arme kleine Schwester, Du bist nicht verlassen, Du wirst es nie sein, und zum Beweis, wie lieb Dich Dein alter Gespiele hat. will er Dir etwas anvertrauen. Aber komm, setze Dich neben mich –“ und er zog sie neben sich auf das Sofa. „Ich will Dir etwas anvertrauen, das ich mir vor kurzem selbst noch kaum zu gestehen wagte, noch gestern nicht, und das ich niemand sagen könnte außer Dir, meiner kleinen Kameradin. Julia – ich –“

Er stockte plötzlich und sprang auf. Es war ein furchtbares Gift, das er im Begriff stand, als Heilmittel anzuwenden, möglicherweise lebenzerstörend; und das Wort wollte ihm nicht aus der Kehle, obgleich er sich sagte, daß dieses Mittel das einzige sei, das helfen könne. Dann aber kam er entschlossen zurück und stellte sich vor das Mädchen, das geisterhaft still auf dem Sofa saß, ein irres Lächeln um den Mund. „Julia, ich liebe, und ich weiß seit heute früh, ich werde wieder geliebt. Ich weiß, Du – Du – auch Du wirst Therese gern haben, als Schwester, als meine Frau –“

So hatte er sich die Wirkung nicht gedacht! Ein wahrhaft versteinertes Antlitz starrte ihm entgegen und ein Ausruf, so schrill und weh, schlug an sein Ohr, daß er meinte, so etwas Bitteres nie gehört zu haben.

„Nein!“ hatte sie gerufen, „nein, sag’ das nicht – Therese nicht! Um Gotteswillen, sag’, daß es nicht wahr ist!“

Sie lag jetzt vor ihm auf den Knien, aufgelöst in Angst und Schmerz. Er hätte dem schüchternen mädchenhaften Geschöpf nie die rasende Leidenschaft zugetraut, die aus den großen dunklen Augen sprach, aus dem Tone ihrer Stimme, aus dem Zittern der Glieder. „Julia!“ rief er unwillig und trat einen Schritt zurück.

Sie stand nicht auf. „Fritz, ich bitte Dich – Du darfst nicht – sie darf nicht – Du weißt ja nicht – – Großer Gott, es kann ja nicht möglich sein!“

Da riß eine harte Hand sie empor. „Vergißt Du allen Anstand?“ rief die Räthin, die den Aufschrei des Mädchens bis in den Flur gehört hatte, „pfui über Dich! Hier zu Lande werfen sich die Mädchen den Männern nicht an den Hals – verstanden?“

Und als die Auftaumelnde mit den Händen an die Schläfen fuhr und dastand, wie aus einem furchtbaren Traume zur noch entsetzlicheren Wirklichkeit erwacht, da fuhr die Räthin fort: „Ja, schäme Dich nur! Aber ich hab’s längst geahnt, daß Du in den Fritz vergafft bist, hab’s nur nicht sagen wollen!“ Mit diesen Worten griff sie wieder nach des Mädchens Arm, um es hinauszuführen. Aber sie griff in die Luft; Mamsell Unnütz war lautlos zusammengesunken, und der Doktor trug die Ohnmächtige aufs Sofa.

„Gerechter Gott!“ rief die Räthin, „was habe ich Dir immer gesagt, es steckt etwas fürchterlich Gewöhnliches in diesem Mädchen.“

„Mutter,“ sprach er bebend, indem er sich um die Leblose bemühte, „wenn ich nicht wüßte, daß Du es nicht so schlimm meinst, wie es klingt – bei Gott, ich könnte irre werden an Dir! Habe die Güte und hole Wein und gieb mir den Aether dort!“

„Na,“ sagte die Räthin während sie gelassen die Dinge herbeiholte, „ihre Mutter hat’s ja gerade so gemacht, und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich bin nur über eins froh, daß ich bei der Gelegenheit erfahre, daß Ihr einig seid, Du und das Thereschen, das macht mein Alter glücklich – da wacht sie schon wieder,“ setzte sie hinzu.

Es war so. Julia richtete sich langsam empor. Mit einer stummen Bewegung wehrte sie die Hand und Begleitung des Doktors ab, dann ging sie schwankend durch das Zimmer dem Ausgang zu. Ein wunderliches Lächeln zog um ihren Mund.

Droben legte sich Julia still auf ihr Bett; sie wußte nicht klar, was sie that, sie fühlte nur, daß etwas anders sei in ihr und um sie. Sie griff nach dem Herzen, das sie heftig schmerzte, und dabei lächelte sie wieder. Niemand kam, um nach ihr zu schauen, wer sollte auch? –

[745] Es war schon geraume Zeit vergangen, seit Julia bleich und zitternd die Treppe hinaufgestiegen war, als Tante Riekchens kleines Dienstmädchen in die Wohnstube der Räthin stürzte. Dort lehnte im Eckchen am grünlichen Kachelofen ein schönes blondes Mädchen in den Polstern und sah mit glänzenden Blauaugen zu dem Manne hernieder, der ihre Hand gefaßt hielt und leise einen Kuß darauf drückte.

„Also, wenn Sie wiederkehren aus dem Süden, Therese,“ hatte er eben gesagt, „dann darf ich vor Ihren Vater treten?“

„Ja,“ erwiderte sie. „Ich will ihm noch einmal den vollen Genuß des Reisens lassen, denn wenn er wüßte, daß er zum letzten Male in meiner Gesellschaft reist, so würde er das himmlische Nizza in einer ewig wehmüthigen Stimmung betrachten. Aber,“ setzte sie hinzu und drohte lächelnd mit dem schlanken Finger, „nicht ungeduldig werden, bitte!“

„Ich warte, wie Sie es wünschen, Therese, ich bin ja so dankbar, daß Sie mir wenigstens diese Stunde heute abend schenkten.“

Therese sah ihn verwundert an; es war ihr wohl recht, daß er nicht darauf bestand, schon heute seine Werbung bei dem Vater anzubringen, wollte sie doch ihre Freiheit noch einmal nach Herzenslust genießen. Aber sie hatte es sich nicht so leicht gedacht, ihren Willen durchzusetzen. Und nun machte der Doktor nicht einmal den Versuch, sein Glück schon jetzt durch goldene Ringe und Verlobungsanzeige unwiderruflich an sich zu ketten! Er saß so sicher und so still da vor ihr wie ein Mann, der jahrelang verheirathet ist und dem keinerlei Unruhe über einen möglichen Verlust die Stirn zu trüben braucht.

„Sind Sie denn gar nicht eifersüchtig?“ neckte sie.

„Eifersüchtig? Nein! Ich meine immer, Eifersucht sei beleidigend für den, welchen wir lieben. sie setzt Mangel an Vertrauen voraus.“

Sie biß sich einen Augenblick mit den kleinen weißen Zähnen auf die Unterlippe, dann lachte sie.

Gute Nachbarschaft.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

Und eben jetzt platzte das Dienstmädchen von droben mit verstörtem Gesicht in die Stube. „Herr Doktor, kommen Sie doch nur rasch, Fräulein Julia ist krank, sie schwatzt in einem fort zu ihrem Bruder, der doch gar nicht da ist.“

Er sprang empor und lief hinaus, ohne sich bei Therese zu entschuldigen.

„Was ist’s mit Julia und dem Frieder?“ erkundigte sich Therese und trat unruhig zu der Räthin, die wie ein Steinbild am Sofatisch vor der Lampe gesessen hatte, scheinbar so in ihren Kalender vertieft, daß sie nichts sah und hörte.

„Ich weiß nicht, mein goldiges Herzchen“ antwortete die beglückte Schwiegermama. „Sie mag wohl im Fieber reden, sie war heute nach Tisch schon gar nicht wohl.“

Aber Therese schien keine Lust zu haben, auf ein Gespräch mit der alten Dame einzugehen; sie schritt schweigend im Zimmer auf und ab.

Da kam Fritz zurück. „Sie ist sehr krank, Mutter,“ wandte er sich an diese, „ich glaube, daß es eine Gehirnentzündung wird; bis ich eine Wärterin habe, bitte ich Dich, bei ihr zu bleiben.“

„Sie ist ohne Besinnung?“ fragte Therese.

„Leider, leider!“

Und als seine Mutter gegangen war, schloß er seine Braut in die Arme und blickte ihr ernst in die Augen. „Nun komm, ich will Dich hinüberführen, ich muß nachher zu der Kranken. Aber zuvor laß mich Abschied von Dir nehmen. Auf Wiedersehen, Du mein Glück!“

Er hatte feuchte Augen, als er sie küßte – zum ersten Mal.

Vor der Thür der Villa nahm er noch einmal das schöne Antlitz zwischen seine Hände. „Gott lasse mich Dich wiedersehen!“ sagte er innig, dann ging er. –

Droben im kleinen Krankenstübchen flüsterte Mamsell Unnütz in ihren Fieberphantasien mit dem Bruder. „Ach, Frieder, wir beide – wir beide!“ sagte sie gerade, als der Doktor wieder eintrat. „Ach, Frieder, wir beide! Aber Du wirst’s vergessen, Du bist ein Bub’, Du hast auch noch tausendmal mehr – aber ich – ich hatte nur das eine –“ und sie lachte dazu.

[746] „Was will sie denn nur immer mit dem Frieder?“ flüsterte die Räthin und legte eine frische Eiskompresse auf.

Er zuckte die Achseln und setzte sich still neber das Bett seiner kleinen Kameradin. Und so saß er noch, als in früher Morgenstunde das schrille Pfeifen der Lokomotive durch das Fenster scholl – es war der Zug, welcher seine Braut dem Süden zuführte. – –

Therese lehnte in einem Coupé erster Klasse. Der alte Herr schlief schon wieder; er pflegte meistens während der Fahrt zu schlafen, aber vorher hatte er sein Tächterchen sorglich in die Reisedecke gehüllt und die kleinen Füßchen in den pelzgefütterten Schuhen auf dem gegenüberliegenden Sitze gebettet.

Sie schlief nicht, sondern starrte mit müden Augen in die Dunkelheit des Dezembermorgens. Als sich aber allmählich mit kaltem, grauem Schimmer der Tag meldete, da fröstelte es sie, und sie gähnte leise. Die Welt kam ihr so furchtbar prosaisch vor, sie fühlte sich seit gestern schrecklich ernüchtert, und doch hatte sie eben gestern den Gipfel ihrer Wünsche erstiegen, von deren Erfüllung, wie sie meinte, Glück und Ruhe ihres Lebens abhing – Doktor Roettger hatte ihr seine Liebe gestanden. Die Unrast war von ihr gewichen, ihr Ehrgeiz befriedigt, und doch! Sie gähnte wieder – dieses unangenehme frühe Aufstehen!

Halb im Traume ließ sie die Vorgänge der letzten Tage an sich vorüberziehen. Wie geschickt kam die Krankheit Julias; sie hätte sonst doch vielleicht geplaudert. So aber ahnte sie nichts, und wenn man im Frühjahr wiederkehrte, dann – nun dann war viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Vorerst konnte man sich ruhig auf den Nizzaer Karneval freuen.

Sie legte den hübschen Kopf auf das Reisekissen und dachte noch einmal mit Befriedigung daran, daß der Mann, für den sämmtliche unverheiratheten Damen des Städtchens schwärmten, der Ihre geworden war. Und dann malte sie sich ihre künftige Häuslichkeit aus; man konnte das alte interessante Haus stilvoll einrichten, es barg so herrliche Räume. Die Mutter und die Tante würden freilich nicht darin bleiben können, so wenig wie Julia. Die großen Hof- und Stallgebäude paßten vortrefflich für die Dienerschaft, für Wagen und Pferdeställe, der Hof konnte etwa wie ein mittelalterlicher Burghof aufgeputzt und mit einem Rasenplatz, einer Sonnenuhr, einem schönen Brunnen und so weiter versehen werden. Der Garten – er hatte viel schönere alte Bäume als Thereschens väterlicher Garten – und die Gondel, nein, ein paar Gondeln, denn man würde feenhafte Gartenfeste – –

Dem jungen Mädchen fielen die Augen zu, sie schlief.


Eine grelle Frühlingssonne begrüßte mit ihrem blendenden Schein Mamsell Unnütz, als sie zum ersten Male nach ihrer Krankheit die Treppe hinunterschlich, um ein paar Athemzüge in frischer Luft zu thun. Sie hielt sich ängstlich fest an dem Geländer; eine stützende sorgliche Hand, wie sie sich sonst dem Genesenden, auch dem ärmsten, bietet, fehlte ihr, sie mußte schon ihren eigenen Füßen vertrauen – wenn sie nur nicht so matt gewesen wären! Aber wer sollte ihr behilflich sein? Die Tante war selbst so elend, daß sie einer Stütze bedurfte, und die Räthin? Die hatte, seit die Kranke außer Gefahr und gar außer Bett war, kaum noch einen flüchtigen Blick für sie. Seitdem sie die „unpassende Scene“ gemacht hatte, war das unnütze Anhängsel „Luft“ für sie. Fritz aber, Fritz war nach wie vor freundlich und doch so anders wie sonst. Ach, überhaupt, es war ja alles anders!

Das junge Mädchen schlich jetzt im Garten dahin. In dem breiten Rebengang brannte die Sonne durch das kahle Gezweig, und auf den Rabatten zu beiden Seiten des buchsbegrenzten Weges blühten gelb und blau Krokus und Leberblümchen. Ein süßer Veilchenduft wogte in der Luft und allenthalben schimmerte es bräunlich an dem Geäst der Sträucher und Bäume.

Der Strom war mächtig angeschwollen, die Aue drüben stand unter Wasser. Julia sah das alles wie im Traume; die Luft wirkte betäubend auf sie, die monatelang nicht im Freien gewesen war. Sie mußte sich plötzlich an den Stamm des Nußbaums lehnen; nur wie durch einen Schleier bemerkte sie noch das Funkeln des Stromes und das erwachende Leben der Natur.

In der Krautnerschen Villa wurde eben eine Flagge an der zierlich bemalten Stange aufgehißt. Julia verfolgte sie mit den müden Augen; wie sie lustig flatterte da droben! Niemand hatte ihr davon gesprochen, aber sie wußte, es war der Willkommgruß für die, die heute heimkehrten aus dem Süden.

In des Mädchens Brust regte sich ein heißer Schmerz. Sie sagte sich, daß der Fritz wohl deshalb heute zum ersten Male seinen Krankenbesuch in ihrem kleinen Stübchen unterlassen habe, weil er seine Freude nicht vor ihr zeigen wollte.

Sie biß die Zähne zusammen und schüttelte, zornig über sich selbst, den Kopf. Was wollte sie denn? Es hatte alles seine Richtigkeit – mochte er in Theresens Besitz das Glück finden, das er erwartete! Die schwere Zeit bis zu ihrer völligen Genesung mußte ja auch verfließen, und dann konnte sie das Haus verlassen, konnte auf eigenen festen Füßen stehen – und alle, die hier zurückblieben, segneten wohl den Augenblick, wo sich die Thür hinter ihr schloß. O, wie schön mußte es sein, ein liebes trautes Vaterhaus zu besitzen, einen Fleck, von dem man weiß, da bist du jederzeit willkommen, da sind treue Herzen, da sind offene Arme, Hände, die dich segnen, die ihr letztes Stückchen Brot mit dir theilen. Und wie gut hatte es doch so ein Mann wie der Frieder – ja, wo mochte wohl der Frieder augenblicklich sein?

Er hatte eines Tages seiner Tante kurz mitgetheilt, er habe den Friedensdienst der Garnison satt, habe um seine Entlassung gebeten und sich gleichzeitig als Offizier für die deutsche Schutztruppe in Ostafrika gemeldet. Sobald er zustimmenden Bescheid erhalte, komme er, um Abschied von ihr zu nehmen. So zwischen Weihnachten und Neujahr war er dann richtig auf vierundzwanzig Stunden dagewesen, um der alten Dame Lebewohl zu sagen. Julia erinnerte sich nicht, ob er auch ihr die Hand gedrückt zum Abschied, sie lag gerade damals am schwersten danieder. Tante Riekchen aber war seit jenem Augenblick ganz zusammengebrochen und alle ihre Sorge vereinigte sich auf den Fernen, alle ihre Gebete erflehten Schutz für den geliebten Pflegesohn, der, seinem Thatendrang folgend, wohl gar von den Schwarzen ermordet wurde.

Ob der Frieder Theresens Untreue erfahren hatte? Ob diese gar der Grund war, daß er Europa den Rücken wandte? Wenn dem so war, dann wußte jedenfalls außer Therese nur sie selbst um diesen Grund. Denn sie hatte niemand das Geheimniß der Verlobung zwischen den beiden verrathen – wozu den Frieden eines Herzens zerstören, das ihr das theuerste war, wozu vernichten, was ihn, den Ahnungslosen, am Ende doch beglücken konnte! Und war der Gedanke, Fritz den Charakter Theresens zu enthüllen, nicht von selbstsüchtigen unlauteren Beweggründen eingegeben, mußte sie darum nicht schweigen? Ja, wäre sie seine Schwester gewesen, aber nun – nun liebte sie ihn und wußte, daß nicht allein die Sorge um sein Wohl sie bewegte, sondern noch etwas anderes, vor dem sie sich selbst schämte, eine leidenschaftliche Bitterkeit und zehrende Eifersucht.

So schwieg sie – schwieg, wenn er am Bette saß in den Tagen, da ihr allmählich das Bewußtsein wiederkehrte, wenn er mit besorgter Miene und einem mitleidigen Ausdruck in den Augen ihre zuckende Hand hielt; schwieg, als sie von der Räthin erfuhr, daß die Verlobung des Doktors gleich nach Theresens Rückkehr stattfinden solle. Sie schrie es nicht hinaus: „Das Mädchen, das Du liebst, ist treulos, treulos bis ins innerste Herz. sie nimmt Dich nur, wie sie sich ein neues Kleid kauft – weil es Mode ist!“ Sie preßte die Lippen aneinander und stellte sich schlafend, nur damit er gehe, damit sie das geliebte Antlitz nicht sehen mußte.

Es war fast ein Wunder, daß sie unter solchen inneren Kämpfen genas, daß sie überhaupt wieder hier stand in Luft und Sonne, daß sie die Fahne dort oben wieder so lustig flattern sah. Mamsell Unnütz verfolgte jede Wendung der tanzenden Fahne in der Frühlingsluft, und dann erblickte sie über die niedrige Mauer hinweg durch das kahle Geäst den Kutscher und die Stubenmädchen, die unter lautem Lachen ein mächtiges Blumengewinde über der Hausthür befestigten, sie sah Frau Roettger in höchst eigener Person zu den Leuten treten, um ein zierliches Blumenkörbchen abzugeben, jedenfalls ein Willkommgruß in Theresens Boudoir!

Julia schritt langsam wieder dem Hause zu, ihre Kraft war erschöpft. Durch die sonnige Luft kamen jetzt voll die Klänge der Kirchenglocken; alle drei wurden geläutet, als gelte es, einen großen Festtag einzuläuten und doch klangen sie traurig. Julia kannte diese Klänge – irgend ein müdes Menschenkind trug man zu Grabe, aber einen der hienieden zu den Bevorzugten gezählt hatte.

[747] Mühsam drückte sie die schwere eichene Hausthür auf und kam in den dämmernden Flur, gerade als die Räthin von der änderen Seite eintrat. Diese that gar nicht, als ob sie das blasse Mädchen bemerkte; sie ging eilends in die Küche und rief von der Schwelle aus Luischen zu: „Eben wird der junge Norban begraben! Lieber Gott, wenn er nur weuigstens einen hinterlassen hätte, der ihn beerben könnte; jetzt sitzt die alte Mutter allein mit dem vielen Gelde da!“

„Ja, ja,“ antwortete Luischen, „wenn Fräulein Julchen den genommen hätte – was die jetzt für eine reiche Witwe wäre und wie sie das Leben genießen könnte – und was hat sie nun?“

Mamsell Unnütz lächelte, als sie mühsam die Treppe hinaufstieg. Ja, was hatte sie nun? Nichts, gar nichts! Und doch – sich selbst hatte sie noch und das Bewußtsein, recht gehandelt zu haben, und . . . den Schmerz um ihn.

Julia sah wirklich den Fritz heute nicht, zum ersten Male nicht. Er schickte ihr nur ein paar Orangen hinauf und ein Buch. Sie möge entschuldigen, daß er heute nicht komme, er habe so viel zu thun.

Nun saß sie am Fenster und blickte auf den Strom und zählte die Schiffe und starrte in die Sonne, die blutroth unterging, und sagte sich: „Jetzt müssen sie kommen.“

Drunten im Erdgeschoß war es ganz still, auch die Räthin schien nicht daheim zu sein. Vielleicht feierten sie heute schon die Verlobung, vielleicht hatte Therefe doch schon dort unten am blauen Meere dem Vater gestanden, daß sie den Fritz Roettger liebe, und dabei gefragt, ob ihm wohl dieser Schwiegersohn recht sei? Und Julia meinte, des alten Herrn freudestrahlendes Gesicht zu sehen und sein herzliches Lachen zu hören. „Ja, Töchterchen, den, den – in Gottesnamen – Du hast gut gewählt!“

Dann hatte Therese telegraphiert – sicher, so war es – und nun lag sich das Brautpaar in den Armen und Papa Krautner und Mama Roettger vergossen Rührungsthränen dabei, und der Fritz küßte seine Braut.

Welch ein schreckliches Herzpochen Julia plötzlich überkam! Und Zirp! Zirp! machten die Stare draußen und flogen glückselig miteinander in ihr Kästchen. Am Rheine drunten stand das Dienstmädchen der Tante Minna neben ihrem Schatz und spritzte ihm neckend eine Handvoll Wasser ins Gesicht, als er sie küssen wollte; ihr übermüthiges Lachen klang bis hier herauf. Und die beiden nutzten es so recht aus mit Lachen und Plaudern, das Stündchen im Abendroth, und als das Luischen endlich, mit dem Korbe voll frischgewaschenen Spinats auf dem Kopfe, sich dem Hause zuwandte, da riefen sie sich noch ein „Auf Wiedersehen!“ zu, und Julia hörte bald darauf das Mädchen in der Küche lustig singen. Sie selbst saß da, mit dem Ausdruck größter Mattigkeit, aber noch immer mit dem stillen Lächeln um die Lippen, bis das Roth draußen verblich, bis drunten die Thür ging und die hastigen Schritte der Räthin die Treppe heraufkamen, um in Tante Riekchens Stube zu verhallen. Da erhob sie sich und ging hinüber. Gewißheit, endlich Gewißheit wollte sie, denn bis zuletzt glaubt der Mensch an Märchenwunder, auch wenn er sich’s nicht eingesteht.

Sie kam gerade recht vor die angelehnte Thür, um die Worte der Räthin zu hören: „Und Du glaubst nicht, wie glücklich die beiden sind, wie die Kinder, Riekchen, wie die Engelchen, und der Alte küßt den Fritz um die Wette mit seiner Tochter, und im Mai ist die Hochzeit! Ach Gott, das ist doch endlich ’mal ein Sonnenstrahl nach so langer Prüfungszeit!“

Tante Riekchen sagte leise: „Ich gönne es Dir, Minna, weiß Gott, ich gönne es Dir!“

Mamsell Unnütz aber ging nicht hinein, sie kehrte wieder in ihre Stube zurück. Mäuschenstill blieb es drinnen, nur einmal ein Seufzer, fast wie ein Seufzer der Erleichterung – und zum ersten Male schlief sie wieder in der Nacht.

Die Gewißheit war da; die Ruhe kam über sie, die starre Ruhe der Entsagung.


Mit festem Willen vermag man viel, auch gesund zu werden, und Julia wollte gesund werden. Um keinen Preis hätte sie der Hochzeitsfeier beiwohnen mögen, vorher schon mußte sie das Haus verlassen haben. Dem Entschluß, in die Welt hinauszugehen, widersprach niemand, die Verhältnisse hatten es so gefügt, daß ihre Gegenwart mehr wie je „unnütz“ wurde.

Theresens Wünsche, das ganze Haus allein zu bewohnen, sollten sich nicht erfüllen. Noch bevor Herr Krautner dem Fräulein Riekchen Trautmann das Grundstück abkaufen konnte, hatte es in aller Stille einen anderen Käufer gefunden und zwar Herrn Doktor Roettger selbst; dieser aber war durchaus nicht zu bewegen, so sehr er auch seine Braut liebte, die Mutter und die Tante hinauszuweisen aus dem elterlichen Hause.

„Mein liebes Herz,“ sagte er ernst zu Therese, „Mutter und Tante werden zusammen unten wohnen; Mutter in ihren alten Räumen, Tante in den drei Zimmern, die neben meinem Warte- und Sprechzimmer liegen. Die Verbindungsthür lasse ich vermauern. Tante hat so ihr Reich für sich, ich das meinige daneben. Oben aber in den trauten Stuben soll das Glück mit uns einziehen und ganz allein mit uns hausen. Da oben darfst Du unumschränkt wie eine Königin herrschen, Dein Reich nach eigenem Geschmack gestalten. Drunten bleibt es, wie es war.“

Kein Bitten, kein Schmeicheln, kein Schmollen half, und Therese verschob ihren Sieg auf die Zeit nach der Hochzeit. Sie würde ihren Willen schon noch durchsetzen, meinte sie.

Die beiden alten Schwestern wollten in Zukunft gemeinschaftliche Wirthschaft führen, und zu Anfang April erprobte Julia ihre kaum wiedergewonnenen Kräfte zum ersten Male und half Tante Riekchen die Zimmer unten einrichten, denn oben wurden Maurer, Zimmerleute und Handwerker aller Art erwartet, um die Wohnung der künftigen Frau Doktor instand zu setzen. Kein Mensch fragte Julia, ob sie sich nicht zuviel zumuthe, nur Fritz sagte einmal, als er flüchtig in die Stube sah, in der Hand einen Strauß blühender Anemonen, die er seiner Braut bringen wollte: „Strenge Dich nicht zu sehr an, Unnütz – was hast Du dann, wenn Du wieder daliegst? Und trinkst Du auch noch Deinen Eisenwein?“

Sie nickte zerstreut, und er ging fort.

Er brachte fast jede freie Minute drüben in der Villa Krautner zu. Er vermied es, zusammen mit seiner Braut vor Julias Augen zu kommen, und war im Bewußtsein des Schmerzes, den er ihr bereitet hatte, noch rücksichtsvoller als sonst – und dennoch that Julia diese Rücksicht weh, und ihr Stolz bäumte sich dagegen auf in stummem Zorn.

Mitten in den Umzug kam Herr Krautner und setzte sich in all dem Wirrwarr ganz gemüthlich neben Tante Riekchen auf das Sofa, das eben an die Wand gestellt worden war; still beobachtete er, wie das blasse, fast überschlank gewordene Mädchen arbeitete, um es der alten Dame ein wenig gemüthlich zu machen und sie die altgewohnten Räume nicht allzusehr entbehren zu lassen.

„Nun, sagen Sie einmal, liebe Schwägerin“ – so nannte er Tante Riekchen seit der Verlobung – „da erzählt mir der Fritz neulich, das Töchterchen dort thue sich nach einer Stellung um?“

„Ja, ich suche danach,“ antwortete Julia.

„Hm! Da brauchen Sie diesmal nicht weit zu suchen. Kommen Sie zu mir, ich halt’ Sie wie mein eigen Kind! Ohne irgend eine Seele kann ich nicht sein, muß jemand haben, der mir einen freundlichen Gruß bietet, wenn ich abends heimkomme; und überhaupt, wenn das Thereschen fortgeht“ – er schnaubte sich heftig – „da würde ich’s allein gar nicht aushalten drüben in dem großen Hause. Also, wie ist’s Fräulein Julchen, kommen Sie zu mir?“

Tante Riekchen sah überrascht und dankbar zu ihm hinüber und setzte zum Sprechen an. Aber Julia kam ihr zuvor.

„Ich danke herzlich, Herr Krautner, indes bei Ihnen würde ich zu sehr verwöhnt, und das taugt nicht für mich. Ich muß auf eigenen Füßen durchs Leben, ich gehe unter ganz fremde Menschen und – recht weit fort.“

„Verwöhnt? Ich verwöhue keinen Menschen, am allerwenigsten Sie, Jungfer Unnütz. Ich nehme Sie auch gar nicht auf Kündigung, ich will Sie für immer da haben, bis Sie einmal einer wegholt oder bis ich die Augen zuthue. Und Alois Krautner verläßt auch die Leute im Tode nicht – verstanden?“

Sie kam herüber und die Rührung zuckte um ihren Mund. „Danke vielmal,“ sagte sie, „aber ich kann nicht, ich habe gestern eine Stellung angenommen.“

Tante Riekchen fuhr empor. „Und das weiß ich nicht?“ rief sie.

„Verzeih’, Tante, ich hätte es Dir noch heute mitgetheilt.“

„Und wo denn? Und als was denn?“ fragte die alte Dame, so gekränkt, als ob in ihr die sorgsamste Mutter hintergangen wäre.

[748] „Ich – habe mich zunächst zu einem Kursus für Krankenpflege in Köln gemeldet.“

„Krankenpflegerin – Du? Und nicht einmal Deinen eigenen Mann hättest Du pflegen wollen?"

Das Mädchen ward blaß bis in die Lippen „Vor dem Kranken habe ich mich nicht gescheut,“ sagte sie laut. „Hätte mich seine Mutter gebeten, als Pflegerin zu ihm zu kommen, ich wäre sofort gegangen. Mir hat davor gegraut, daß ich an ihn gekettet sein sollte durch Bande, die man sonst nur schließt, wenn man sich“ – und jetzt ergoß sich eine wahre Rosengluth über ihr Gesicht – „wenn man sich sehr lieb hat. Ich wäre eher gestorben, als daß ich neben seinem Rollstuhl zum Altar gegangen wäre, ich –“

„Bravo!“ rief Herr Krautner. „Da hat sie recht, Fräulein Schwägerin, und ich kann Ihnen nur sagen, heutzutage denken nicht alle Mädchen so. Um der Geldsäcke des armen Menschen willen hätten Hunderte Ja gesagt und hätten ihre frische Jugend im Krankenzimmer vergraben, oder auch nicht einmal das – sie hätten ihn dort allein sitzen lassen und sich sonst wo amüsiert. Aber den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, dazu gehört Muth, und zur Krankenpflege, liebes Kind, der größte Muth, haben Sie das auch überlegt? Es ist ein schwerer Posten!“

„Freilich hab’ ich’s überlegt, recht lange und recht gründlich,“ erwiderte sie. „Soll ich etwa,“ fuhr sie fort, „das Heer derer vermehren, die als ‚Stütze der Hausfrau‘ ihr Brot suchen, oder soll ich um karges Geld meine mittelmäßige Begabung für Malerei verwerthen? Oder soll ich Erzieherin zu werden versuchen, wo schon Tausende vergebens auf Stellung warten? Eben für die Krankenpflege, meine ich, können gar nicht genug kommen, die es recht ernst nehmen mit ihrem Beruf. Und je feinfühliger die Persönlichkeit ist, die an das Krankenbett tritt, um so wohlthuender wird der Eindruck auf den Leidenden sein. Ich denke es mir einmal so, und der Fritz hat mir recht gegeben, als ich – als ich ihm noch half bei seinen Kranken.“

Fräulein Riekchen sagte nichts mehr; sie hatte sich abgewendet und betrachtete angelegentlich ein paar Bilder, die an der Wand standen. Sie wußte nicht, was es war, aber irgend etwas an des Mädchens Sprache packte sie zum ersten Male, so lange sie das Kind kannte, und erinnerte sie an dessen Vater. Es war wohl die Art und Weise ihres Ausdrucks oder die Handbewegung dabei. So lange hatte auch das Mädchen noch nie geredet.

„Nun,“ sagte Herr Krautner und stand auf, „alle Hochachtung vor Ihrem Entschluß! Wenn’s aber schwerer ist, als Sie geglaubt haben, wenn Ihre zarte Gesundheit nicht ausreicht, dann, Töchterchen, dann wissen Sie, wo der alte Krautner wohnt – geben Sie mir die Hand darauf! und wenn ich einmal krank bin, kein anderes soll mich pflegen. So, da wäre ich also umsonst betteln gegangen. Adieu!“

Julia hantierte nun weiter, und Fräulein Riekchen sah zu, aber sie sprachen beide nicht mehr. Erst als Julia endlich erschöpft am Fenster saß und es bereits ganz heimlich in dem Stübchen aussah, denn das Mädchen hatte verstanden, jedes Bild möglichst an den nämlichen Platz zu hängen, den es droben gehabt, erst da klang es gepreßt zu ihr hinüber. „Und wann mußt Du dort sein in Köln?“

„Am fünfzehnten Mai, Tante.“

„Kannst nicht zur Hochzeit hier bleiben? Sie ist doch schon am zwanzigsten!“

„Nein, Tante; es thut mir leid, das geht nicht,“ antwortete Mamsell Unnütz.

Dann stand sie rasch auf und ging hinaus.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 25, S. 773–782

[773] Noch sechs Tage bis zur Hochzeit Theresens und des Doktors, Julias letzter Tag in der Heimath!

Es wehte schon ein festlicher Hauch durch das alte Haus. Das Lärmen und Treiben der Handwerker war verstummt, die Mägde aus der Krautnerschen Villa, sowie das neue Personal des künftigen Paares hatten die letzten Spuren der arbeitenden Männer getilgt, und glänzend wie ein Schmuckkästchen erwartete der obere Stock die junge Herrin.

Die Pracht begann eigentlich schon unten im Hausflur. Die alten ehrlichen Fliesen aus rothem Backstein, die den Bewohnern seit langen Zeiten den Witterungsumschlag zu verkünden wußten – sie wurden immer einige Tage vor eintretendem Regenwetter feucht – waren verschwunden, und ein blendendes Mosaik aus weißen und schwarzen Marmorplatten war an ihre Stelle gesetzt, so spiegelblank und glatt, daß die Räthin darauf einherschwankte wie ein Schlittschuhläufer, der zum ersten Male das Eis betritt. Darüber hinweg liefen bis zur Treppe zierliche strohgeflochtene Matten, und allenthalben waren an den stilvoll bemalten Wänden altdeutsch geschnitzte Bänke angebracht; das Fenster über dem Absatz der Treppe ließ nicht mehr einfach das Tageslicht hindurch – dieses sprühte farbig durch die mit Wappenmalereien bedeckten kleinen Scheiben, und die Sonnenstrahlen spielten in glühend bunten Lichtern auf dem weichen Treppenläufer, der die alten dunklen Stufen bedeckte.

Die Räthin war ganz stumm vor Bewunderung, es sah auch alles gar zu vornehm aus. Sie hatte nur einen Kummer – der eigensinnige Sohn wollte durchaus nichts davon wissen, daß sein Warte- und sein Studierzimmer dieser Pracht entsprechend eingerichtet würden. Er behauptete, sich wohl zu fühlen zwischen den trauten alten Möbeln, und für seine Person wünsche er keinen Dreier für stilvolle Einrichtung auszugeben; er hoffe und glaube auch, seine Patienten würden derartiges nicht vermissen.

Seine Mutter fügte sich seufzend; an Thereschen eine Bundesgenossin zu finden, mißlang ihr wider Erwarten. Für die Doktorstuben hatte diese entschieden kein Interesse. „Ach, das mag er doch halten, wie er will,“ sagte sie zu der Frau Schwiegermama, „wenn’s ihm gut genug ist, so kann’s mir ja recht sein.“

Ein ganz wonniger Maitag lachte heute über der Erde – ein Blüthenmeer in der [774] Natur. Therese gab am Nachmittag ihren letzten Mädchenkaffee. Julia hatte abgesagt, sie war mit Einpacken beschäftigt; in diesem Augenblick saß sie noch droben in ihrem kleinen Dachstübchen und malte. Die letzten Pinselstriche galt es an einem großen Majolikateller, den sie als Hochzeitsgeschenk darbringen wollte.

Um sie her verrieth schon nichts mehr, daß sie hier die wenigen lichten Stunden ihres Lebens verbracht hatte; jedes kleine Zeichen hatte sie zu verwischen gestrebt. Wenn sie jetzt noch Farben und Palette zu dem übrigen Malgeräthe in die Kiste packte, so blieb keine Spur von ihr – hätte sie nur ebenso die Spuren verwischen können, die sich ihr hier eingeprägt hatten an einem ebenso sonnigen Maitag – im vorigen Jahre.

Nun legte sie den Pinsel fort und betrachtete ihre Arbeit. Auf die gelblich feingetönte Platte des Tellers war ein knorriger Zweig gemalt mit absterbenden Blättern, er lag da, als könnte man ihn fortnehmen, als sei er Wirklichkeit; darunter war – skizzenhaft nur – Wasser angedeutet, weite unbegrenzte Fluth, hinter der die Sonne versinkt und über der ein Schwarm Wandervögel dahinzieht, dem Winter entfliehend. Das war alles, und doch lag in diesem Wenigen die Sehnsucht eines Herzens, das Sonne und Liebe sucht wie die gefiederte Schar das wärmere Land.

Es war ihr so unbewußt gelungen, sie hatte an weiter nichts gedacht als nur daran, ihm nichts zu malen, das ihren Kummer, ihre Liebe verrathen könnte, und nun sprach das kleine Werk doch deutlich genug.

Sie erhob sich und verließ, ihr Werk behutsam tragend, das Stübchen; sie wußte eine Stelle dafür in dem Eßzimmer des jungen Paares und wollte es dort als letzten stummen Gruß an der Wand befestigen. Die eleganten Räume würden jetzt ganz verlassen sein, sie glaubte dessen sicher sein zu dürfen, denn es war die Zeit des Mittagsschlafes. Den Schlüssel zur Flurthür hatte sie heimlich aus dem Schlüsselkorb der Tante Minna genommen, die augenblicklich noch die Hüterin dieser Herrlichkeit war, und so trat sie ein in die Gemächer, die in Kürze ein junges goldenes Menschenglück bergen sollten.

Sie hielt sich nicht dabei auf, die Pracht der Wohnung näher anzuschauen, sondern ging sofort in das Eßzimmer, um ihrer Gabe dort einen Platz anzuweisen. Es war dasselbe Gemach, in dem einst der kleine Frieder Adami gewohnt hatte; es war wie geschaffen zu einem traulichen Speiseraum mit seiner Balkendecke, seinen holzgetäfelten Wänden und den tiefen Fensternischen, jetzt freilich so wenig wiederzuerkennen wie der alte Hausflur drunten. Das Getäfel war reich verziert worden, den ungetäfelten Theil der Wände bedeckte eine kostbare Ledertapete, und der riesige baufällige Kachelofen hatte einem Kamin nach altem Muster weichen müssen, vor dessen spielender Flamme es im Winter ein anheimelndes Sitzen sein mochte. In der Mitte des Raumes, wo einst der Arbeitstisch des Knaben gestanden hatte, prangte der massige schwere Eichenholztisch, von hochlehnigen Stühlen mit Lederbezug umringt. Und auf dem Gesims der Täfelung, auf der Platte des Kamins vor dem Riesenspiegel, der bis an die Decke reichte, stand allerhand üppiges und kostbares Prunkgeräth umher. Jedenfalls sah dieser Raum so vornehm aus, daß ein einfaches Mittagsgericht sich schämen mochte, hier aufgetragen und verspeist zu werden.

Julia zog einen Nagel mit Bronzeköpfchen und einen Hammer aus der Tasche ihres Schürzchens und befestigte das Geschenk über dem Serviertisch, dessen Majolikaplatten gut zu dem Teller paßten; nun noch ein bronziertes Palmblatt dahinter und die einfache Ausschmückung war beendet. Sie trat bis zum nächsten Fenster zurück, um sich von hier aus die Wirkung anzusehen; indeß ihre Blicke hafteten wohl auf dem Teller, aber sie hatten plötzlich etwas Leeres, Starres bekommen. Wie ermüdet ließ sie sich auf einem der truhenartigen Sitze in der tiefen Fensternische nieder. Es war so unheimlich still hier oben, selbst der Pendel der kostbaren Standuhr schwang sich spukhaft leise. Und da war es dem Mädchen plötzlich, als gingen die Gespenster der Zukunft um.

Wird das Glück hier wohnen – wird es – wird es? tickte die Uhr. Und Mamsell Unnütz schüttelte den Kopf und preßte die Hände zusammen – sie konnte es nicht glauhen. Und dann erblickte sie dicht neben sich in einer der kleinen Fensterscheiben, die der Dekorateur hier großmüthig belassen hatte, weil sie zu dem Charakter des Zimmers paßten, ein Herz, kunstlos eingeritzt, und darunter die Buchstaben F. A. – T. K.

Das mußte der Frieder gethan haben! Und in der Seele des Mädchens stieg eine grenzenlose Bitterkeit empor, ein Zorn, eine Verachtung ohnegleichen – nur einmal der Treulosen einen Spiegel vorhalten dürfen, der ihr das heuchlerische Gesicht deutlich zeigt!

Die schlanken Finger des Mädchens wischten mechanisch über das kleine Herz, als könnten sie es auslöschen auf dem Glase – umsonst, es war zu tief eingegraben.

„Du lieber Himmel!“ sprach plotzlich neben ihr eine helle klare Stimme, „da muß man ja auf den Tod erschrecken – wie kommst denn Du hierher?“

Julia erhob sich rasch.

„Entschuldige,“ sagte sie mühsam, „ich hatte eine Kleinigkeit hier zu thun.“

„Was hast Du denn da an die Scheibe gemalt?“ fragte Therese und beugte ihr blondes Köpfchen herunter; aber jäh fuhr sie zurück, und ihre Augen sahen zornig aus dem erblaßten Gesicht zu Julia auf.

Seitdem Therese wußte, daß das Geheimniß ihrer Verlobung mit dem Frieder von Julia behütet worden war, seitdem sie wußte, daß das Mädchen das Haus verlassen würde, war sie sorgloser geworden. Julia hatte die „Thorheit“ wohl selbst als Bagatelle betrachtet; von Frieders Anwesenheit damals und den damit verbundenen Vorgängen konnte sie ja nichts ahnen – was wollten jetzt auf einmal diese drohenden vorwurfsvollen Augen?

„Es war Frieders Zimmer,“ sagte Julia heiser.

Therese antwortete nicht.

„Und das Herz dort wird er eingeschnitten haben, als Ihr Euch verlobtet; nächstdem wird’s ein Jahr.“

„Was willst Du heute damit?“ fragte Therese trotzig. „Du hättest wohl Lust, die Sache als Polterabendscherz zu verwenden? Angesehen habe ich es Dir längst, daß Du etwas gegen mich im Schilde führst.“

„Ich – ich bin an Deinem Polterabend nicht mehr hier, das weißt Du, und als Scherz habe ich die traurige Geschichte nie aufgefaßt,“ antwortete Mamsell Unnütz ruhig. „Ich wünsche Dir im Gegentheil soviel Glück, als es nur giebt auf der Welt, denn Dein Glück ist fortan das Glück eines seltenen Mannes und Deine Ruhe die seine. Und wenn ich es erleben dürfte, daß Ihr wirklich glücklich würdet miteinander, ich glaube, dann – dann könnte ich Dir manches vergeben.“

In das Gesicht des schönen Mädchens kehrte die Farbe zurück. Nein, diese Mamsell Unnütz würde die dumme Verlobungsgeschichte nie erzählen, aus Rücksicht für ihn. Dieses bettelstolze Ding war ja, wie die Räthin verrathen hatte, bis über die Ohren vernarrt in den Doktor! Und Therese lächelte wie der Maitag draußen.

„Laß sein Glück doch, bitte, meine Sorge sein, wenn ich auch das, was man Glück nennt, etwas anders auffasse als Du. Glaube mir nur, er wird nicht schlecht dabei wegkommen, wir werden uns vertragen, auch ohne Deinen Segen! Wann reist Du denn eigentlich?"

„Morgen!“ klang es kurz zurück.

„Nun, dann werden wir uns vielleicht nicht mehr sehen. Leb’ wohl! Ich wünsche Dir ebenso aufrichtig Glück für Dein künftiges Leben wie Du mir.“

„Leb’ wohl, Therese; ich hoffe, daß wir uns in späteren Lebensjahren als Freundinnen wiedersehen.“

„Nun,“ sagte diese etwas ironisch, „ich wüßte wahrlich nicht, was mich zu Deiner Feindin machen könnte.“

Julia schwieg. „Ich glaube, ich könnte furchtbar hassen,“ sagte sie dann leise, und ihre Augen irrten wieder zu der Fensterscheibe hinüber.

Da fühlte sie sich mit einem Ruck zur Seite geschoben, und im nächsten Augenblick klirrten drunten auf dem Pflaster des Hofes die Scherben der zertrümmerten Scheibe. „So?“ fragte Theresens bebende Stimme, „bist Du nun beruhigt?“

Julia zuckte die Schultern ein wenig. „Was liegt an dem unschuldigen Glase? Ja, wenn man das andere auch so leicht aus [775] der Welt schaffen könnte!“ Und sie wandte sich um und schritt zur Thür hinaus.

„Wäre sie nur erst fort!“ murmelte Therese finster, mit zornigen Augen der Scheidenden nachblickend. Und dann zog ein schelmisches Lächeln über ihr schönes Antlitz – der Doktor stand auf der Schwelle.

„Scherben? Schon heute?“ rief er fröhlich.

Sie lachte. „Ich zerstieß ungeschickterweise eine Scheibe. Aber bringt das nicht Glück?“

„Hast Du Dich verletzt?“ fragte er zärtlich und zog sie an sich.

Sie lächelte zu ihm empor. „Nein, nein! – Ist’s nicht traut hier, ist’s nicht ganz einzig nett?“

Er nickte, aber sah sich nicht um, er blickte nur in die geliebten Züge. „Ich kann es noch immer kaum glauben, daß Du mein werden willst,“ flüsterte er. „Aber komm’ – hier oben ist das Paradies, das mir noch verboten ist; komm’, daß wir die Götter nicht erzürnen.“


Die Mainacht sank hernieder. Zum letzten Male schaute Mamsell Unnütz in den blühenden Garten hinaus, in dem sie ihre bescheidenen Kinderspiele gespielt hatte; morgen schon würde sie in Amt und Pflicht sein, vielleicht an einem Sterbebett stehen müssen. Sie fürchtete sich nicht vor der Zukunft; nur Arbeit, viel Arbeit wollte sie, nur kein Müßiggehen, das die Erinnerung weckt und Seelenwunden nicht heilen läßt.

Am liebsten wäre sie gar nicht schlafen gegangen, sondern hätte in der frühesten Morgenfrühe das erste Schiff benutzt und wäre ohne Abschied davongefahren. Wie ihr graute vor diesem Abschied, der gleichbedeutend war mit dem Verlust von Jugend und Glück!

Ganz leise schloß sie das Fenster, damit die Tante nebenan nicht gestört werde, dieses wunderliche alte Fräulein, das nie einen guten Blick, nie eine Zärtlichkeit für sie gehabt und der sie dennoch zu Dank verpflichtet war, denn sie hatte das schutzlose Kind unter ihrem Dache behalten, hatte es genährt, gekleidet und zur Schule gesandt.

Rief sie nicht eben? Mamsell Unnütz horchte erschreckt auf. Nein, das war kein Ruf, das war ein dumpfes Stöhnen. Im nächsten Augenblick schon stand das junge Mädchen am Lager der Tante, und das raschentzündete Licht zeigte ihr das schmerzverzerrte Gesicht der Bewußtlosen.

Sie flog durch den Flur, durcheilte Wartezimmer und Wohnstube und schlug mit der kleinen Faust gegen die Thür des Doktors. „Fritz, Fritz, die Tante stirbt!“

Dann weckte sie die Räthin und war in der nächsten Minute wieder bei der Leidenden und stützte die qualvoll stöhnende, mühsam lallende Kranke mit ihren jungen kräftigen Armen.

„Ein schwerer Schlaganfall, Unnütz,“ sagte der Arzt traurig, nachdem er die Aermste gesehen und ihr Hilfe gewährt, soviel er vermochte. Sie standen miteinander in dem dunklen Wohnzimmer vor der Krankenstube, und die Kühle der Mainacht drang zu ihnen herein. Die Räthin war am Bette der Schwester geblieben.

„Du kannst Dich möglicherweise auf eine lange schwere Zeit der Krankenpflege gefaßt machen, arme kleine Unnütz,“ fuhr der Doktor fort.

Sie zuckte empor; sie wollte rufen. „Es ist unmöglich, ich darf nicht hier bleiben!“ aber rasch senkte sie wieder das Haupt, ja freilich – sie war die Nächste dazu – sie – wer sonst sollte die einsame verbitterte Frau dort pflegen? Und dennoch – – „Seid barmherzig! Ach, seid barmherzig!“ murmelte sie.

Er verstand es nicht. „Vielleicht ist sie – bist Du bald erlöst, vielleicht macht ein zweiter Schlaganfall ihrem armen Leben ein Ende, vielleicht aber auch bleibt sie dem Dasein erhalten, eine hilflose gelähmte Frau, die Deiner nicht entrathen kann.“

„Ich weiß! Ich weiß!“ stieß sie hervor, „bitte, rede nicht weiter, ich bleibe ja.“

Er drückte ihr die Hand und ging wieder zu der Kranken. Die Räthin kam an seiner statt heraus, weinend und lamentierend. „Und das hat gerade noch gefehlt – sie stirbt womöglich am Polterabend, und wenn sie leben bleibt, dann ist sie doch immer so krank, daß Fritz anstandshalber seine Hochzeitsreise aufgeben muß! Nein, das kann doch auch nur uns passieren! Du telegraphiere nur gleich ab nach Köln, hast hier genug zu thun, ich kann mit meinen müden Gliedern keine Kranke mehr heben und versorgen. Ach Gott, und so etwas muß gerade jetzt kommen!“

Julia beachtete das Jammern der erregten Frau nicht, sie ging an ihre Pflicht, und als der Morgen dämmerte, da glaubte sie in den starren Augen der Tante ein erwachendes Verständniß zu bemerken, und sie beantwortete deren ängstliches undeutliches Lallen mit den lauten Worten, die von einem leisen Streicheln der Wangen begleitet waren. „Sei ruhig, Tantchen, ich bleibe bei Dir – kennst Du mich? Julia! – Sei ganz ruhig!“

Und da flog es wie ein Schimmer der Erlösung über die verzerrten Züge.

Am nächsten Tage trat keine Aenderung im Befinden der Kranken ein, am Polterabend aber war sie bereits imstande, die gelähmten Arme ein wenig zu bewegen.

Therese wollte sich diesen Tag nicht verkümmern lassen, und wenngleich der Fritz von Musik und Ball zuerst nichts wissen mochte, schmeichelte sie ihm doch die Zustimmung durch ihre süßen Bitten ab. „Gelt, Fritz, noch einmal tanzen wir zusammen als lustige junge Springinsfeld, nachher ist’s ja doch mit Spiel und Tanz vorbei, sagt der Vater. Und von morgen ab gehorche ich Dir, aber heute, Fritz, heute – –“

Er kam noch einmal in die Wohnung der alten Tante, ehe er in das Haus der Braut zur Vorfeier seines Hochzeitstages ging. Draußen versank die Sonne hinter einer Wolkenschicht, und in dem blassen Dämmerlicht saß Julia still am Fenster in dem altmodischen Lehnstuhl. Sie hatte den Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Polster gelegt und gewahrte den Mann erst, als er dicht vor ihr stand. Ihre erschreckten Blicke flogen über seine festliche Kleidung – er war im Frack und hielt den Cylinder in der Hand – und ihre Lippen preßten sich herb aufeinander.

„Ich wollte Dich nur bitten, Julia,“ sagte er, „die Fenster im Krankenzimmer zu schließen, damit die Musik Tante nicht aufregt. Ich hätte eine stille Feier lieber gehabt, aber ich mochte Therese ihren letzten Mädchentag nicht verderben; sie hat ohnehin schon die Hochzeitsreise bereitwillig aufgegeben.“

„Und warum willst Du nicht reisen?“ fragte sie. „Es geht ja sehr gut. Ich bin hier, und der Onkel Doktor wäre gekommen, wenn sich etwas verschlimmert hätte.“

Er sah sie forschend an; sie hatte den alten wehen Zug um den Mund.

Da erglühte sie wie Purpur. „Ach, entschuldige,“ stammelte sie, „es thut mir ja bloß leid, daß Ihr um der Tante willen Eure Reise aufgeben wollt. Im übrigen – was geht es mich an!“

Sie wendete sich ab, beschämt und zornig über sich selbst – er mußte es ja errathen haben, wie schwer es ihr wurde, sein junges Glück hier im Hause zu wissen. „Geh’ ruhig,“ fügte sie dann hinzu, „ich besorge hier alles ganz pünktlich.“ Und als er fort war, da schloß sie die Fenster der Krankenstube, aber die des Vorzimmers sperrte sie weit auf, und dort verharrte sie in seltsamer Qual die Nacht hindurch und horchte auf die Tanzweisen, die so deutlich herüberklangen, auf das Lachen und Hochrufen und so saß sie noch, als in dämmernder Morgenfrühe Mutter und Sohn heimkehrten.

„Abhärten“ nannte sie das mit bitterem Lächeln.

Sie ging auch am anderen Tage nicht aus dem Krankenzimmer, als das eben getraute Paar pietätvoll an das Bett der wieder zum Bewußtsein Zurückgekehrten trat. Sie stand am Fußende des Lagers und schaute mit weit geöffneten Augen auf die in weißen Atlas und Spitzen gehüllte Braut, die in ihrer leichten Blässe und dem Goldhaar, das unter dem weißen Dufte des Schleiers hervorschimmerte, liebreizender aussah als je. Und die schöne Frau beugte sich über die Kranke und küßte die kraftlose Hand. Dann schickten sich die Neuvermählten zum Gehen an. Der Doktor blickte nicht empor. Er schien das bleiche, stolz aufgerichtete Mädchen zu Füßen des Bettes gar nicht bemerkt zu haben. Stumm legte er die Hand Theresens in seinen Arm, und auch diese blickte nicht seitwärts.

[776] Da trat Mamsell Unnütz ihnen in den Weg. „Nehmt auch meinen Segenswunsch,“ sagte sie bittend, und ihre Hand streckte sich nach der seinen aus und dann nach der seiner jungen Frau. Zögernd berührte Therese die dargebotene Rechte, dann rieselte die spitzenbesetzte lange Schleppe über die Schwelle der Krankenstube. Und still, unheimlich still ward es in dem Hause, denn die Feier der Hochzeit fand in der „Goldenen Traube“ statt, und selbst die Dienstleute waren dort, um zu helfen oder zuzuschauen.

Julia saß am Bette der Tante. Langsam, langsam ward es später Abend; der Vollmond stieg auf hinter den hohen Bäumen. Die Kranke schlief, und noch immer war niemand daheim.

Julia erhob sich; sie schritt durch den Flur und sah nach, ob die vordere Hausthür verschlossen sei. Man wollte durch den Garten heimkehren, die Thür dorthin war weit geöffnet; ein Streifen Mondlicht fiel auf die Marmorfliesen und beleuchtete deutlich die Blumen, die man heute früh auf die Schwelle gestreut hatte. Sie trat unter die Thür und athmete die duftende Luft ein – die war schwül wie vor heranziehendem Gewitter; jenseit des Rheins zuckten rasch hintereinander grelle Blitze auf, die Nachtigallen aber schlugen überlaut in den Gärten.

Dann klang drüben die kleine eiserne Pforte, und Julia sah etwas Lichtes, Weißes kommen, zart wie ein wehender Elfenschleier – das junge Paar kehrte heim.

Zitternd floh sie über den Flur in das Krankenzimmer und setzte sich wieder ans Bett der Schlummernden. Wie ihr die Stunden verrannen, wußte sie nicht – schauernd vor Kälte, den schmerzenden Kopf auf dem Bett zu Füßen der alten Frau, so fand sie sich am anderen Morgen.

Welch eine bleierne Schwere in allen Gliedern und welch ein bedrückendes Angstgefühl in der Brust – was war denn geschehen?

Sie richtete sich empor und griff an die hämmernde Schläfe, da fiel ihr Blick auf einen kleinen Myrthenzweig, der vor dem Bette der Kranken lag; er mochte sich von dem Brautschmuck gelöst haben, als Therese dort kniete.

Ach ja, sie waren Mann und Weib!


Zwei Jahre sind vergangen.

Fräulein Riekchen Trautmann hatte sich als eine kräftige Natur erwiesen; sie sprach wieder, war bei völliger Verstandesklarheit, aber freilich, gelähmt war sie geblieben. Julia mußte sie ankleiden und besorgen wie ein kleines Kind.

„Sie thut alles so gewissenhaft,“ sagte das alte Fräulein zu ihrem Neffen, „aber so starr und still wie ein Sklave – kein Zug von Freundlichkeit, keine Spur von dem, was doch das wahre Labsal für so einen armen Lazarus ist wie ich. Von Liebe – –"

Es war an einem heißen Tage zu Anfang August, als sie so klagte.

Der junge Arzt, eben von seinen Besuchen heimgekehrt, sah sie groß an, als müsse er seine Gedanken erst von weit herholen. „Du willst Liebe ernten, Tante, und hast doch in diesem Herzen keine Liebe gesät,“ sagte er ruhig. Ueber das verfallene Antlitz vor ihm flammte eine helle Röthe. „Nun und Ihr habt Nachricht vom Frieder?“ lenkte er ab, „ich hörte es von meiner Mutter, welcher Therese diese Neuigkeit mittheilte. Geht’s ihm gut?“

„Gottlob, ja! Willst Du den Brief nicht mit hinaufnehmen? Er ist ganz interessant; vielleicht liest ihn auch Therese gern. Aber nun geh’ – sie erwartet Dich gewiß bereits zum Frühstück. Hast Du Deinen Buben heut’ schon gesehen?“

„Ja!“ sagte er, und ein Leuchten ging über sein Gesicht. „Frau Doris spaziert mit ihm im Garten.“ Er nahm das Schreiben, das auf dem Tischchen lag, mehr aus Höflichkeit als aus Neugier, und verabschiedete sich. Nachdem er sich rasch umgekleidet hatte, trat er in das Boudoir seiner Frau; sie war nicht da – nun wußte er sie sicher im Toilettezimmer. Richtig! Therese hatte von ihrem Papa ein neues Kostüm bekommen, das wie geschaffen zu einem Reisekleid war, und probierte es an. Sie wandte ihm lächelnd ihr rosiges Gesicht zu.

„Nun, wie geht’s Deinen beiden Lebensgefährlichen?“ rief sie, „erlauben sie uns abzureisen?“

„Ich kann Dir heute noch keinen bestimmten Bescheid geben, Schatz,“ antwortete er und betrachtete sie entzückt in ihrem kleidsamen Anzug. „Auf ein paar Tage kommt’s ja doch nicht an, wie?“

„O, bitte sehr! Da merkt man, daß Du noch nie gereist bist,“ erwiderte sie rasch. „und ob es darauf ankommt! Jetzt ist die große Saison in Ostende – ein paar Wochen später und wir sind mit unserem dreiwöchigen Aufenthalt in die Septembertage gerathen, und, weißt Du, im September, da gehen alle die hin, die billig leben wollen, aber kein einziger Mensch von [777] Distinktion, keine einzige Dame der vornehmen Gesellschaft; man sieht keine Toiletten mehr, man ißt viel schlechter, kurz – es ist gräßlich!“

„Armer Schatz!“ tröstete er lächelnd, „in Wahrheit, ich fürchte, daß uns diese beiden Kranken einen rechten Strich durch unsere Pläne machen.“

„Und das sagst Du so gelassen?“ fragte sie und schlang ein paar schwere graue Taillenbänder zur Schleife an dem seidenen Reisemantel, den er ihr umlegen half.

„Ja, was soll ich thun? Ich kann mir doch nicht die Haare ausraufen deshalb?“

„Es ist etwas Wahres daran, daß Ihr Aerzte Sklaven der menschlichen Gesellschaft seid,“ sprach sie sehr langsam, „und daß man – –“

„Wenn man einen geheirathet hat, mit eine Art Sklavin geworden ist,“ ergänzte er. „Nun, jedenfalls bist Du eine ganz entzückende kleine Sklavin, und mir thut es unbeschreiblich leid, daß möglicherweise diese wirklich allerliebste Toilette zufrieden sein muß, sich auf einem Rheindampfer der bewundernden Welt zu zeigen.“ Er seufzte komisch tief. „Ja, ehrlich, Frauchen, es steht schlecht um die beiden Leute; Gott weiß, wann wir die Reise antreten können.“

Sie sagte kein Wort; sie band ihre Schleife auf und zu und summte dabei leise vor sich hin. Endlich schien der Knoten gelungen; sie schnippte mit den schlanken Fingern ein Fäserchen fort, löste langsam die Schleife wieder auf, legte den Mantel ab, vertauschte ihr neues Kleid mit einer zierlichen Hausrobe, alles leise singend und ihm den Kuß wehrend, den er auf den schönen weißen Arm drücken wollte. Und als sie fertig war, sagte sie:

„Nun wollen wir frühstücken!“

„Du findest doch immer das Richtige!“ rief er.

Als sie sich im kühlen Eßzimmer gegenüber saßen, bemerkte sie: „Dir geht ja hier nichts ab, wenn ich mit Papa allein reise ... koste übrigens einmal dieses Hammelkotelett und diese pommes frites, sie hat sie ganz allein gekocht, die Susanne.“

Er legte Messer und Gabel hin und sah ehrlich verdutzt sein reizendes Gegenüber an.

„Du kannst ja dann nachkommen, wenn Du später Zeit hast,“ vollendete sie und schob ein goldbraunes Kartoffelstückchen zwischen die Lippen.

„Ist das Dein Ernst?“

„Ja natürlich! Sei Du Sklave, soviel Du willst, ich danke dafür! Was gehen mich die fremden Leute an mit ihrem Typhus!“

„Es wird uns sehr einsam hier sein, dem Buben und mir,“ sagte er endlich.

„Aber, ums Himmelswillen, Fritz, glaubst Du, ich werde das Kind hier lassen? Nein, der Bube geht mit seiner Frau Doris ebenfalls nach Ostende.“

„Nein, Herz, der Bube bleibt mit seiner Doris im Lande und nährt sich redlich weiter mit der Milch der schwarzbraunen Kuh, die extra für ihn auf dem ,Gelben Hofe’ gefüttert wird.“

Jetzt legte Frau Therese Messer und Gabel hin und starrte ihren Gatten ob des ungewohnten Widerspruchs erstaunt und neugierig an. „In Ostende giebt’s die herrlichste Milch“ sagte sie dann trocken; „außerdem, wir haben den neuen Kochapparat bei uns, mittels dessen die gesundheitsschädliche Milch gesundheitszuträglich zu machen ist. Alle Mütter nehmen ihre Kleinen mit – und ich will nicht ohne das Kind reisen!“

„Dazu wirst Du Dich dennoch entschließen müssen, wenn Du nicht hier bleiben willst, denn ich gestatte auf keinen Fall, daß Du das Kind den Gefahren aussetzt, die eine ganz veränderte Lebensweise für so ein junges Geschöpf mit sich bringt.“

„Aber, bester Schatz, Du thust, als gehörte Dir der Bube allein“ erwiderte sie in größter Ruhe. „Besinne Dich nur, zunächst haben die Mütter ein Anrecht auf ihre Kleinen! Was soll denn aus ihm werden ohne mich?“

Er mußte wider Willen lachen. „Du thust, als ob Du den Bengel für gewöhnlich nicht eine Minute lang aus den Armen ließest, und dabei besorgt ihn doch Doris so ziemlich ganz allein. Außerdem bin ich zur Aufsicht hier und ich brauche wahrhaftig nicht zu versichern, daß ich während Deiner Abwesenheit meine Hände doppelt über ihn breiten werde.“

„Und wenn Du nun mitgereist wärst?“

„Nun, dann sind ja hier noch drei erwachsene Frauenzimmer im Hause,“ erwiderte er, immer noch zwischen Aerger und Lachen. „Da ist erstlich die Großmutter,“ fuhr er fort, „die sich so wie so schon die Schuhsohlen abläuft, um den kleinen Burschen so oft wie möglich zu sehen –“

„Sehen mag ihn Deine Mutter, so oft sie will, aber ich wünsche nicht, daß sie sich um seine Erziehung bekümmert oder Doris in seine Pflege hineinspricht, wie sie das so gern thut und [778] natürlich erst recht thun würde, wenn ich fort bin. Sie hat mir ohnehin noch nicht vergeben, daß ich die drei Meter langen Wickelbänder nicht benutze, die noch von Dir da sind, und kann’s nicht begreifen, daß ich dem armen Kerlchen nicht in den schönsten Sommertagen eine wattierte Mütze auf den Kopf setze, sobald er in den Garten getragen wird."

„Ach, Therese, das habe ich ihr ja alles auseinandergesetzt. Sie liebt den Jungen eben zärtlich und –“

„Na, und nun kommt als zweite Beschützerin wohl Tante Riekchen, die selbst eine Wärterin braucht?“

„Nun gut, von Tante Riekchen sehen wir ab, dann aber vergiß Julia nicht!“

Jetzt blitzte es in den Augen der Frau Therese auf. „Ich muß Dich dringend bitten, Julia in dieser Angelegenheit als gar nicht vorhanden zu betrachten!“ rief sie. „Ich habe ganz bestimmten Anlaß zu der Meinung, daß sie mich nicht leiden kann; sie hat auch mein Kind nicht lieb –“

„Therese, Du wirst ungerecht!“

„Nein,“ antwortete erregt die junge Frau, „ich bin es nicht! Wenn Du nicht das thörichte sentimentale Mitleid mit ihr hättest, das Männer in innerster Seele allemal für diejenigen hegen, von denen sie sich geliebt glauben, so würdest Du längst bemerkt haben, welch geradezu widerwärtiges Betragen diese Mamsell Unnütz mir und dem Kinde gegenüber zur Schau trägt. Ganz von oben herab betrachtet sie mich.“

„Weil Du einen Kopf kleiner bist als sie,“ schaltete er gelassen ein.

„Ich scherze ganz und gar nicht in diesem Augenblick!“ rief sie. „Wenn ich etwas sage, zuckt es bei Fräulein Julia geringschätzig um die Mundwinkel; spiele ich mit dem Kinde, so sehe ich die dunklen Augen so seltsam auf mich gerichtet – ich kann es nicht ausdrücken wie – geradezu hungrig; sie gönnt mir den Buben nicht. Und wenn wir alle drei zusammen sind, so wendet sie sich ab und geht in ihre Stube, als sei unser Anblick Gift. Sie ist ein unheimlicher neidischer Charakter!“

„Wer erzählte Dir denn, daß sie mich einst liebte?“ fragte er ruhig, und seine Augen sahen an ihr vorüber zu dem Majolikateller, den Julia zur Hochzeit gemalt hatte.

„Mein eigenes bißchen Verstand, Herr Doktor, und Ihre eigene Frau Mutter.“

„So?“

„Und daß Du durch diese Thatsache noch immer tief gerührt bist, abermals mein eigener Verstand und meine eigenen Augen.“

„So?“

Er räusperte sich plötzlich, goß ein Glas Wein ein und sagte dann mit lauter Stimme: „Also, es wäre abgemacht, der Bube bleibt hier unter meiner und der Frau Doris Aufsicht.“

Sie sah ihm mit einem prüfenden Blinzeln in das Gesicht. Da sie aber nichts weiter zu erkennen vermochte als einen ungeheuer bestimmten Ausdruck, der einen Widerspruch kaum zuließ, seufzte sie, begann einen Pfirsich zu schälen und bemerkte dann:

„Man muß eben einmal wieder die Klügere sein und nachgeben.“

„Daran thust Du gut, kleine Frau!“

„Freust Du Dich denn nicht, daß ich gar nicht eifersüchtig bin auf – diese Julia?“ fragte sie nun und hielt ihm lächelnd die eine Hälfte der Frucht hin.

„Ich finde daran wirklich nichts, was mich zur Freude reizen könnte, es ist völlig normal,“ entgegnete er. „Ich würde mich höchstens freuen, daß sie nicht eifersüchtig ist. Du weißt ja, daß neben Dir kein anderes Bild in meinem Herzen Platz hat, ausgenommen das unseres Buben.“

Sie war aufgestanden und kam zu ihm herüber, um ihm einen Kuß auf die Stirn zu drücken. „Bist doch ein guter alter närrischer Mann,“ sagte sie.

Er hielt sie fest und zog sie auf seine Knie. „Und ich hoffe, Dein Herz ist ähnlich gebaut wie das meinige,“ scherzte er, „hat ebenfalls nur so ein kleines Kämmerlein, daß mein Bube und ich gerade drin Platz finden.“

Sie bog den blonden Kopf zurück. „Und wenn es nicht so wäre?“ flüsterte sie, und die blauen Augen strahlten voll Koketterie zu ihm empor.

„Therese, darüber sollst Du keine Scherze machen!“

„Nein, nein, laß!“ beharrte sie, „sage mir, was würdest Du thun, wenn Du entdecktest, daß außer Dir noch ein anderer Mann –“

Er antwortete nicht, er schien sich blitzartig einen Augenblick in diese Lage hineinzudenken, und die junge Frau erschrak, so aschfahl erschienen seine Züge, so starr blickten seine Augen.

„Um Gotteswillen!“ rief sie, „es war ja nur Scherz, Fritz!“ Und sie rüttelte ihn an der Schulter, selbst erbleicht.

„Was ich thun würde?“ sagte er dumpf. „Ich weiß es nicht, der Augenblick würde es mir eingeben, aber – ich kann einen Mord aus solcher Eifersucht begreifen.“

Sie erhob sich; es war, als ob ein Frost sie schüttle.

Und jetzt suchte er sie zu beruhigen. „Du thörichte kleine Frau, das kommt von Deinem dummen Fragen. Warnm von Dingen reden, die außer allem Bereich des Möglichen liegen? Komm’, trinke einen Schluck Wein und geh’ zu Papa, sag’ ihm, ich vertraue ihm zu der Erholungskur mein köstlichstes Besitzthum an. Und reise bald, damit Ihr bald wiederkommt!“

Er küßte sie noch einmal und ging hinunter.


Julia saß neben dem Fahrstuhl der Tante Riekchen unter dem Nußbanm im Garten. Die alte Dame schaute träumerisch vor sich hin, während Julia ihr die Zeitung vorlas. Die Räthin schnitzte Bohnen, ohne dabei den Blick von dem Kinderwagen zu lassen, der im Rebengang an der Mauer von Frau Doris hin und her geschoben wurde. Die kreischende Stimme der Alten, die mit dem kleinen Bübchen in allerhand unverständlichen Zärtlichkeitsausdrücken sprach, scholl bis hier herüber.

Das Gesicht der Räthin drückte Mißvergnügen und Argwohn aus; das der alten Wärterin glich dem einer gereizten Löwin, der man das Junge nehmen will. Frau Therese hatte gestern ihre Reise angetreten, und schon heute früh waren Großmutter und Doris am Bette des schlummernden kleinen Weltwunders anseinandergeplatzt, und der Doktor hatte kaum vermocht, die empörten Gemüther zu besänftigen.

Die tiefe wohlklingende Stimme Julias ward plötzlich unterbrochen durch den schrillen Ruf der Räthin: „Fahren Sie auf der Stelle aus dem grellen Sonnenschein da fort! Das Würmchen soll wohl den Hitzschlag kriegen?“

Die Wärterin that, als habe sie nichts gehört, und schwatzte ruhig weiter mit dem Pflegebefohlenen. „Gelt, mein Herzchen, gelt, Du hast sie lieb, die Sonne? Ei, ei, die gute schöne Sonne!“

„Das Frauenzimmer muß aus dem Hause, oder ich kriege den Schlagfluß!" stammelte die alte Dame.

Julia hatte das Blatt sinken lassen, so lange der Zwischenfall dauerte, und las nun weiter den Schluß einer Gerichtsverhandlung.

„Sieh’ doch erst einmal, ob etwas aus Afrika drin steht!“ bat Fräulein Riekchen.

„Ich sah schon nach, Tante; es kommt aber nichts,“ antwortete das junge Mädchen.

„Auch nicht unter den Depeschen?“

Julia suchte nach den Depeschen – Paris – London – Madrid. „Sansibar,“ murmelte sie. Auf einmal hob sie das große Zeitungsblatt dicht vor ihr Gesicht, und das Papier bebte in ihrer Hand.

„Warum zitterst Du?“ fragte die alte Dame.

Langsam sank das Blatt; die blassen aber unbewegten Züge des Mädchens wurden wieder sichtbar. „Zitterte ich?“ fragte sie. „Es ist nichts drin von Afrika.“

In diesem Augenblick lief die Räthin im vollsten Zorne hinüber, um der verhaßten Kinderfrau aus nächster Nähe ihre Meinung ins Gesicht zu schleudern.

Tante Riekchen blickte starr ihre Pflegetochter an.

„Soll ich weiter lesen?“ fragte Julia – ein seltsam veränderter Tonfall war in ihrer Stimme.

„Steht wirklich nichts Neues von Afrika drin?“

Julia schüttelte den Kopf und sah dem Doktor entgegen, der von seinen Berufswegen in der glühenden Augustsonne zurückkehrte, im leichten grauen Sommeranzug, den Strohhut in der Hand und seine Stirn mit dem Taschentuch trocknend. Sie machte sich etwas hinter dem Stuhle der alten Dame zu schaffen, sah den Näherkommenden an und legte den Finger auf die Lippen.

[779] Der Doktor trat ruhig herzu, setzte sich hin und begann von diesem und jenem zu erzählen. Julia schritt den Weg hinauf der Räthin entgegen, die im Gefühl ihrer Ueberlegenheit als Siegerin und als Großmutter mit hoch erhobenem Kopfe zurückkam.

„Ich möchte Dir etwas mittheilen, Tante. bitte, geh’ einen Augenblick mit hier hinunter,“ sagte Julia. „Ich las eben in der Zeitung, daß Frieder in einem Gefecht mit den Eingeborenen verwundet worden ist. Tante Riekchen darf es nicht erfahren.“

Die alte Dame schlug die Hände zusammen. „Schwer verwundet natürlich!“ rief sie. „Und das steht wohl auch nur so da, er ist am Ende schon tot. Großer Gott!“

Julia schwieg.

„Und Du,“ ereiferte sich die Räthin, „Du stehst da und sagst kein Wort? Was bist Du für ein Mädchen! Es ist doch Dein leiblicher Bruder, den’s betrifft. Ich habe den Windbeutel nie leiden mögen, aber ’s geht doch ans Herz, wenn er so gestraft wird, wenn er da draußen so elendig umkommen muß unter den Wilden, ohne eine Seele, die zu ihm gehört.“

Julia antwortete nicht auf den Vorwurf. „Bitte, beunruhige nur Tante nicht,“ bat sie. „Geh’ jetzt lieber nicht zu ihr, sie ist so aufmerksam und so mißtrauisch, sie würde Dir gleich anmerken, daß etwas geschehen ist.“

„So schlau bin ich auch,“ gab die alte Dame zurück, „ich mag das arme Thierchem auch gar nicht sehem. Geh’, hole die Zeitung und bringe sie mir in die Küche, ich will’s lesen.“

„Ja, ja,“ sagte sie für sich im Weiterschreiten, „entweder stirbt er, oder er kommt invalid wieder und liegt uns auf der Tasche. Gott im Himmel vergeb’ es mir – ich wollte, er wäre gleich tot gewesen!“

Nach Tisch, als das alte Fräulein ahnungslos im kühlen Zimmer schlief, saß Julia in ihrer Kammer am Fenster, regungslos die Hände im Schoße und das Zeitungsblatt vor sich, das die kurze bedeutungsvolle Nachricht enthielt. Auch jetzt hatte sich kein Zug des Gesichtes verändert, nur der kleine Mund war noch fester als sonst zusammengepreßt. Das war nun einmal so. Julia hatte längst erkannt, daß kein Jammern und Ringen einen Schicksalsschlag abzuwenden vermag, und über ihr persönliches Empfinden war eine Art Erstarrung gekommen; sie fühlte nur noch in der Seele anderer.

So dachte sie auch jetzt lediglich daran, daß die Nachricht von der Verwundung oder gar dem Tode des Lieblings die alte Frau nebenan wie ein Dolchstich treffen würde, dem sie erliegen mußte; sie dachte, daß Frieder vielleicht den Tod gesucht habe, weil er Therese nicht vergessen konnte, und daß sie ganz einsam sein werde, wenn sie nun auch keinen Bruder mehr habe. Denn wie fremd stand sie inmitten dieser Menschen, in deren Gemeinschaft sie gleichwohl ihr Leben verbracht hatte! Selbst an die Kranke fesselte sie nur die Pflicht, die Pietät; sie dankte durch die Pflege, die sie der Alternden angedeihen ließ, für die Pflege, die diese ihrer verlassenen Jugend gewidmet. Aber ein wärmeres Gefühl hatte sie nie für die alte Dame za fassen vermocht.

Und der Fritz?

Ihm gegenüber hatte sie ja mit aller Kraft ihr Herz zum Schweigen gebracht, ihm gegenüber war sie gleichgültig und kalt, und nur ein ohnmächtiger Zorn loderte immer wieder in ihr auf, wenn er sie bemitleiden wollte. Aber auch diesen hielt sie verborgen. Aeußerlich zuckte es nur schier verächtlich um den Mund, wenn Fritz, besonders im Anfang seiner Ehe, bemüht war, seine Zärtlichkeit, sein Glück in ihrer Gegenwart zu verbergen; wenn er bei ihrem Hinzutreten die Hand der jungen Frau fallen ließ, die er eben noch an seinen Mund gepreßt hatte, oder mühsam seine Augen von dem rosigen Antlitz derselben loszureißen versuchte.

Sie lächelte dann mit dem herben Zucken um die Mundwinkel, und sie lächelte ebenso, als er seine Sorge um das Lebett der geliebten Frau vor ihr verbergen wollte, zu jener Zeit, als der Bube erwartet wurde. Aber sein blasses, mit Schweißtropfen bedecktes Gesicht in jenen Stunden, die dem Erscheinen des Kleinen vorausgingen, war ihr gewesen wie eine Offenbarung. Wie mußte diese Frau geliebt sein! Und die Thränen an seinen Wimpern, mit denen er endlich das wichtige Ereigniß dem alten Fräulein meldete, diese zitternde Freude, dieser dankbare Jubel erweckten wieder den einen Gedanken in ihr: wie geliebt mußte diese Frau sein!

„Zeige mir Dein Kind, Fritz!“ hatte sie damals gefordert; und war mit ihm hinaufgestiegen in die eleganten Räume, und er hatte das Bündel mit dem Neugeborenen herausgeholt und sie das kleine Geschöpf betrachten lassen. Ueber dem Köpfchen des Kleinen hatten sich ihre Blicke getroffen.

Mamsell Unnütz wußte nicht, daß sie den Mann mit einem Ausdruck angesehen hatte, davor ihm das jubelnde Herz weh that. In diesem Augenblick war ihm das stille stolze Mädchen erschienen wie ein frierendes hungerndes Bettelkind, das mit fieberndem Verlangen in eine weihnachtshelle Stube schaut und über der Herrlichkeit, die es erblickt, vergißt, wie arm es ist. In den tiefen dunklen Augen stand ein seliges Entzücken über das winzige schlummernde Geschöpf. „Ach, wie lieb!“ flüsterte sie und streckte die Arme aus. Da rief Therese mit matter Stimme aus der Nebenstube, und Julias Arme sanken hernieder, die langen Wimpern legten sich noch tiefer über die Augen.

Man hatte ihm das Kind abgenommen; er begleitete Julia bis zur Thür, das Herz voll Seligkeit und voll Mitleid, und da hatte er dem Mädcheu gegenüber eine Taktlosigkeit begangen. Er hatte ihr die Wange gestreichelt und gesprochen: „Wirst auch noch einmal glücklich, Unnütz!“

Der eisige Zug um ihren Mund, der rasche Schlag auf seine Hand und am meisten der verächtliche Blick machten, daß er jäh verstummte. Seitdem hatte sie weder nach dem Kinde gefragt, noch es jemals angesehen wenn es an ihr vorübergebracht wurde.

Sie liebte das Kind nicht! So dachten wenigstens die Hausgenossen.

„Wer Kinder nicht leiden mag, hat kein Herz!“ sagte die Räthin zu ihr und fügte verwundert hinzu. „Und der dumme kleine Bube lacht Dich trotzdem an und ruft ‚Ula!‘' – so eine Unschuld!“

Sie ahnten alle nicht, daß der Kleine und „Ula“ heimliche Freundschaft geschlossen hatten, daß der alte Drache von Kinderfrau dem stillen schönen Mädchen ohne jeglichen Widerwillen das Kleinod anvertraute. Sie hatten förmlich ein feststehendes Stelldichein, die zwei; nämlich dann, wenn die junge Frau und die Räthin zum Kaffee oder Thee eingeladen waren, der Doktor auf Berufswegen wandelte und Tante Riekchen eingenickt war. Dann huschte Julia hinauf, kniete ans Bettchen und spielte mit dem Jungen und ließ sich geduldig von den ungeschickten dicken Händchen im Haar zausen. Sie lehrte ihn die ersten kleinen Kunststückchen, sie lehrte ihn „Papa“ sagen. Und dann preßte sie den kleinen Körper mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an sich.

„O Du,“ flüsterte sie, „für Dich könnte ich sterben!“

„Lassen Sie mir den Buben ganz!“ schalt dann die Alte, die am Fenster zu sitzen pflegte und für den Kleinen Strümpfchen strickte, „und bleiben Sie lieber am Leben; der kann so eine gute Tante gebrauchen bei der Mutter.“

Frau Doris vermochte aus ihrer Abneigung gegen Mutter und Großmutter durchaus kein Hehl zu machen.

Julia antwortete nie auf dergleichen Ausfälle, und beim leisesten verdächtigen Geräusch verschwand sie aus der traulichen Kinderstube.

Einmal konnte sie nicht mehr entwischen und flüchtete sich klopfenden Herzens hinter den Vorhang, der bei Frau Doris die Stelle eines Kleiderschrankes vertrat, und da hatte sie mit geschlossenen Augen und zusammengepreßten Lippen alle die Zärtlichkeiten mit angehört, die der Vater seinem Liebling spendete. Wie klang seine Stimme so weich! Julia kannte diesen Tonfall, so hatte er vor langer Zeit auch zu ihr gesprochen! Und sie hatte gemeint, sie könne das nicht hören, sie müsse aufschreien vor Schmerz, wenn er nicht einhalte. – Gottlob, er ward abgerufen, und sie konnte entfliehen. – –

Plötzlich fuhr Julia aus ihren Gedanken empor – die Uhr im Nebenzimmer hatte die Stunde geschlagen, zu der sie ihre Besuche bei Frau Doris zu machen pflegte. Rasch erhob sie sich und huschte droben in das Kinderzimmer, aber Wärterin und Kind schliefen, die Alte auf dem Stuhle und der Kleine in der Wiege. Julia kniete vor dem Bettchen nieder und sah sich satt an dem fremden Glück. Auf einmal fuhr sie in die Höhe und suchte mit angstvollem Gesicht den Ausgang zu erreichen, aber diesmal gelang ihr die Flucht nicht. Der Doktor stand vor ihr und betrachtete sie mit erstaunten Augen.

„Du hier?“ fragte er. Und er dachte an die Aeußerung seiner Frau, daß Julia das Kind hasse.

[780] „Verzeih’!“ sagte sie trotzig und wollte an ihm vorüber.

„Warte einen Augenblick!“ sagte er ruhig, „ich suchte Dich drunten – es ist eine Depesche vom Frieder da. Man hat ihn auf seinen Wunsch an Bord eines unserer Kriegsschiffe gebracht, das nächstdem nach Deutschland zurückgeht. Das ist der lakonische Inhalt des Telegramms, das ich durch Vermittlung des Berliner Auswärtigen Amtes erhielt. Ueber sein Befinden ist nichts gesagt, aber da man den Transport gewagt hat, muß Hoffnung auf Genesung sein. – Er kommt also!“

Julia schoß eine Fluth von Gedanken durch den Kopf. „Hierher?“ stammelte sie.

„Wohin denn sonst? Er hat ja bei uns sein Heim!“

„Er soll aber nicht kommen!“ sagte sie angstvoll.

„Wie?“ fragte der Doktor, sich aus der gebückten Stellung aufrichtend. Er hatte das schlummernde Kind betrachtet.

„Nichts!“ antwortete sie und ging hinaus.

Julia fand in dieser Nacht keinen Schlaf, sie sah immer wieder zwei jugendliche Gestalten, wie sie einander gegenüber im Nachen saßen und sich anschauten mit Liebesblicken – Frieder und Therese. Konnten sie, die sich so angesehen hatten, jemals einander vergessen?

Mit schmerzendem Kopfe stand sie wieder auf. „Er darf nicht kommen, er darf nicht!“ sagte sie.

Und dann kam der alte Trotz. „Was geht’s mich an!“


„Und kurz und gut, liebe Schwägerin, der verwundete Weltfahrer wird bei mir wohnen,“ sagte Herr Krautner, der längst wieder mit seiner Tochter aus Ostende heimgekehrt war, und dabei stieß er nachdrücklich mit dem Stock auf die Diele. „Hier in diesem Hause ist einfach kein Platz, und bei mir sind zwölf Zimmer unbewohnt. Sorgen Sie sich nicht, es wird ihm bei mir nichts abgehen, und sehen können Sie den Herrn Pflegesohn, so oft Sie wollen; die Thür in der Gartenmauer, die ich für meine Kinder hab’ machen lassen, steht auch ihm offen. Also topp! Der Herr Premierlieutenant Adami nimmt sein Quartier bei mir!“

Tante Riekchen versuchte noch einige Einwendungen; es gehe ganz gut hier – er komme doch als Sohn zu seiner Mutter, sagte sie kläglich. Und die Julia könnte ins Dachstübchen hinauf – „ich würde ihr ein kleines Oefchen setzen lassen –“

„Vielleicht könnten Sie für das Mädchen auch den Kaninchenstall einrichten lassen,“ rief der alte Herr böse. „Nichts da, der Lieutenant kommt zu mir – gelt, Töchterchen,“ wandte er sich an das junge Mädchen, „so ist’s am besten?“

„Ja!“ sagte Julia und hob die Augen von ihrer Stickerei. „Ja! Jedenfalls gehe ich unter keinen Umständen in die kalte Dachstube.“

Tante Riekchen sah verwundert auf. Noch nie hatte das Mädchen sich gegen eine Anordnung, die ihre eigene Person betraf, aufgelehnt. Diese Unbescheidenheit rumorte der alten Dame in allen Nerven. „Nun, früher konnte man Dich nie aus dieser Stube heraus bekommen,“ bemerkte sie, „und jetzt willst Du nicht hinein?“

„Nein, Tante!“

„Warum nicht?“

Sie zuckte die Schultern. „Weil mich friert da oben,“ erwiderte sie kurz.

„Na, es ist abgemacht, der Lieutenant wohnt bei mir,“ begann nochmals der alte Herr – dann eine Verbeugung und er ging.

Die Znrückbleibenden sprachen nicht miteinander. Fräulein Riekchen weinte leise; Julia bemerkte es nicht. Sie sah nur dann und wann einmal von ihrer Arbeit auf in das Flockengestöber des Dezemberschnees.

„Du wirst ihn doch vom Bahnhof abholen,“ begann endlich Tante Riekchen, „und ihm schonend mittheilen, daß im Hause seiner Pflegemutter kein Platz für ihn ist?“

„Ja!“

„Du hast Dir so einen barschen Ton angewöhnt, Julia; man hat Angst, Dich um etwas zu bitten,“ klagte das alte Fräulein.

„O,“ antwortete das Mädchen, „war ich früher anders?“

„Alle im Haue klagen,“ fuhr Tante Riekchen fort. „Schrecklich ungefällig ist es doch von Dir gewesen, daß Du bei der Tanzgesellschaft oben nicht ein wenig helfen wolltest!“

„Ich verstehe ja dergleichen nicht – und dann . . . Therese kann mich nicht um sich leiden.“

In diesem Augenblick klopfte es, und Therese trat ein. Sie sei beim Weihnachtsmann gewesen, sagte sie lachend, und habe etwas mitgebracht. Und unter allerhand Scherzreden wickelte sie zwei kleine Pakete aus und reichte jeder der beiden Damen eins. Es war noch nie geschehen, daß Therese eine Aufmerksamkeit für Julia gehabt hatte. Diese blickte zuerst überrascht auf die elegante Frau in dem kostbaren Sammetmantel, auf dessen braunen Falten noch die Schneeflocken lagen.

„Für mich?“ fragte sie, und in den Mundwinkeln erschien flüchtig das gewohnte Zucken.

„Ja gewiß!“ lautete die Bestätigung; und dann eilte Therese schon wieder hinaus.

„Nun, da bist Du ’mal wieder auf der Stelle überführt von der Unrichtigkeit Deiner Behauptung, daß Thereschen Dich nicht leiden kann,“ sagte Fräulein Riekchen.

„Dadurch?“ Julia nahm sich nicht einmal die Mühe, das Päckchen zu öffnen. Sie strickte weiter, während die Kranke mit den steifen Fingern ihr Geschenk mühsam aus der knisternden Hülle wickelte und sich über das elegante Büchschell freute, das herausfiel und in dem irgend eine Näscherei sein mochte. Das Geschenk Julias lag am Abend noch ebenso da, als schon das Mädchen hinausgewandert war, um den heimkehrenden Bruder am Bahnhof zu empfangen.

„Sie wird immer unleidlicher,“ sagte die Räthin, als sie die Geschichte des unbeachteten Geschenkes hörte. „Wenn Du sie nicht so nöthig brauchtest, Riekchen, Du hättest sie längst gehen lassen müssen – aber das ist’s ja eben!“

„Daß sie so lieblos wurde, ist mein größter Kummer,“ gab Fräulein Riekchen zu, und dabei zitterte ihr altes Herz vor Freude, den geliebten Buben bald ans Herz schließen zu dürfen.

„Eine Mutter kann ihr eigenes Kind nicht ungeduldiger erwarten, murmelte die Räthin und ging in ihre Stube zurück, um nicht die „Komödie“ des Wiedersehens mit zu erleben.

Eine halbe Stunde später saß Tante Riekchen zwischen ihren beiden Pflegekindern beim Abendessen. Die alte Dame konnte vor Freude nichts genießen, sie betrachtete nur immer und immer wieder den schönen stattlichen Mann, dessen gebräuntem Antlitz man kaum mehr eine Spur des Leidens ansah, obgleich er noch immer den Arm in der Binde trug.

Er gab freundlich und geduldig Antwort auf all die verwirrten Fragen der gealterten Frau, er erzählte zum vierten Male in dieser Stunde die Geschichte seiner Verwundung, er lobte die Karpfen und den Rheinwein und sagte der Schwester, er finde, sie sei schön geworden, groß und echt römisch. Er fand es „all right“, bei dem „alten Knopf“ drüben zu wohnen, nachdem er sich besonnen, daß ja droben – richtig, droben – Fritz hause mit seiner jungen Frau, und hörte mit höflicher Theilnahme die begeisterte Schilderung über das „Bubi“ an, welche die Tante in ihrer Herzensfreude vortrug.

„Und überhaupt, Frieder,“ schloß sie, „da droben wohnen glückliche Leute; so wie die zwei zusammenpassen, paßt selten ein Paar, und heute, wo sie fast drei Jahre verheirathet sind, schauen sie einander noch genau so verliebt an wie am Verlobungstag.“

Er nahm sich noch einmal Fisch. „Das frent mich herzlich,“ meinte er trocken. Julia fand nicht den Muth, ihn dabei anzublicken.

„Morgen wirst wohl droben Deine Aufwartung machen,“ fuhr Tante Riekchen fort, „und auch bei Tante Minna drüben? Da kannst Du es selbst sehen, wie Junges erblüht und Altes abstirbt. Ja, mein Bub’, viel später hättest Du nicht kommen dürfen, wolltest Du mich überhaupt noch finden.“ Und der alten Dame rannen die Thränen über die Wangen, die sie nicht zu trocknen vermochte mit den armen hilflosen Händen.

„Du mußt zu Bett gehen,“ sagte endlich Julia leise.

„Ach, nicht so rasch, ich kann doch nicht schlafen,“ bat die Tante. „Hol’ Aepfel und Nüsse, Julia, es ist dann wieder wie damals, als Ihr Kinder waret.“

Gehorsam trug Julia das Verlangte herzu, und Frieder begann wieder zu plaudern. Dann verstummte er jäh, und eine dunkle Röthe überzog sein Gesicht. Droben wurde Klavier gespielt.

„Es ist Thereschen,“ sagte die alte Dame stolz, „es gilt dem Bub’.“

[782] Julia hing mit angstvollen Blicken an seinen Zügen; von droben klangen schwermüthige Melodien, es war eine Variation über das Lied „Ein Wanderbursch mit dem Stab in der Hand.“

„Es ist ein Lieblingsstück von Fritz,“ bemerkte Julia laut und setzte geräuschvoll die Teller zusammen. Und die alte glückselige Frau sprach leise die Worte der Dichtung nach, während sie die Hand des Mannes streichelte:

„So sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug’ hat ihn doch gleich erkannt.“

„Aber anders siehst Du aus, als wie Du fortgingst, Frieder; hübscher bist Du geworden, so hübsch fast, wie Dein Vater war.“

Er erhob sich plötzlich, denn von droben ertönte jetzt der Faustwalzer.

„Nun schlaft wohl,“ sagte er, „wir sind alle müde. Auch bin ich noch nicht wieder so ganz auf der Höhe, morgen erzähle ich mehr. Hilf mir den Mantel umlegen, Julia, und dann, Gute Nacht! Den Weg weiß ich ja noch.“

„Nein, ich komme mit,“ wehrte sie. Und zusammen schritten sie durch die verschneiten Gartenwege.

„Also eine Thür ist jetzt hier,“ murmelte er. Und als wollte er gewaltsam alle Erinnerungen abschütteln, sprach er laut: „Die alte Frau ist recht hinfällig geworden – Ach, grüß’ Gott – Herr Krautner! Freut mich, daß Sie mir gastlich Ihr Haus öffnen; wie ist’s Ihnen gegangen?“

Julia, die bei der Begrüßung der beiden sofort umgekehrt war, hörte noch, wie der alte Herr sagte. Willkommen, Herr Lieutenant! Nun, wie geht’s, wie steht’s? Haben sie sich auch, wie ich Ihnen beim Abschied empfahl, ein paar solide Träger in ihren lustigen Kopf eingezogen? Ja? Na, das soll mich freuen. Nun treten Sie ein und lassen Sie es sich wohlgehen bei mir!“

Als sie zurückkam, war die Musik droben verstummt. Sie traf im Flure den Doktor, der eben aus seinem Studierzimmer trat.

„Sag’ mal, Unnütz,“ fragte er, „hab’ ich mich geirrt oder spielte Therese wirklich?“

„Ja, sie spielte.“

„Wunderlich!“ murmelte er. Dann wandte er sich noch einmal um. „Ist Dein Bruder glücklich eingetroffen?“

„Ja!“ erwiderte sie kurz und verschwand.

Oben im Boudoir fand der Doktor seine Frau aufgeregt hin und her gehend.

„Es ist gut, daß Du kommst,“ sagte sie, „ich habe so ein Angstgefühl, das muß wohl der Wind machen.“

„O Du kleine Weisheit!“ neckte er. „Draußen rührt sich kein Lüftchen; es schneit nur in großen dicken Flocken, damit Du zu Weihnachten Schlitten fahren kannst. Uebrigens, hast Du etwas gemerkt von dem Afrikaner?“

„Ich? Nein – was habe ich mit ihm zu thun?“ erwiderte sie hastig.

„Nun, sei nur nicht böse, es liegt doch keine Beleidigung in meiner Frage, Schatz!“

„So hab’ ich’s auch nicht gemeint.“

„Na also! Aber es freut mich, daß Du wieder einmal Klavier gespielt hast, liebes Herz.“

Sie antwortete nicht.


Nun war der junge Offizier bereits drei Wochen in der Heimath. Es ließ sich gar nicht leugnen, er hatte „Leben in die Bude“ gebracht, wie Doktor Roettger gut gelaunt zu seiner Frau sagte.

Die Abneigung der beiden alten Spielkameraden schien völlig geschwunden. Wenn sie sich auch nicht vor Zuneigung „aufaßen“, so war doch gegenseitige Achtung an Stelle der früheren Zurückhaltung getreten; jeder achtete im anderen den tüchtigen Mann, der für seinen Beruf alle Kräfte einsetzt. Das hochfahrende Gebahren des Lieutenants war einem liebenswürdigen bescheidenen Wesen gewichen, und des anderen Derbheit einer Milde, die ihren Ursprung in seinem häuslichen Glücke zu haben schien. Und so gab es jetzt gemüthliche Plauderstunden am Theetisch beim Doktor oben, zu denen sich die ganze Familie versammelte und wobei der Weitgereiste den Mittelpunkt bildete; es gab festliche Sonntagsbraten in der Krautnerschen Villa, und sogar die Frau Räthin hatte sich zu einer Kalbskeule aufgeschwungen.

Das Weihnachtsfest war vorübergegangen mit seinem Lichterglanz; droben im Eßzimmer des jungen Paares hatten reiche Gaben die Familie um den Tisch versammelt, und das Stimmchen des Kindes, das jauchzend vor Freude nach dem schimmernden Baum die Händchen ausgestreckt hatte, war beglückend in aller Ohren geklungen.

Selbst von Julias Brust war ein Druck gewichen, sie athmete freier jetzt; die Wunde, welche die schöne blonde Frau einst dem Herzen des Bruders geschlagen, schien völlig vernarbt, und Therese – ja Therese hatte weniger als je Ohren und Augen für jemand anders als für ihren Mann. Nie konnte Julia entdecken, daß die beiden, der Frieder und die Therese, auch nur einen Blick wechselten, der über das zwischen harmlosen Bekannten oder Verwandten übliche Maß von Vertraulichkeit hinausgegangen wäre. Sie standen auf dem Fuße gegenseitiger freundlicher Werthschätzung und verkehrten, als hätte nie dieser schöne blonde Kopf an seiner Brust gelegen, als hätte er nie den rothen Mund der reizenden Frau geküßt, als hätten nie ihre Augen die heißesten Thränen um ihn geweint.

Julia freute sich; aber sie staunte über diese Thatsache wie über etwas Unbegreifliches. Ob ihm das Herz nicht ein bißchen wehthat?


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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 26, S. 827–834

[827] Allmählich kam die bunte lustige Karnevalszeit heran. Therese saß über den neuesten Modezeitungen; der Lieutenant zeichnete ihr den Anzug einer schwedischen Bäuerin auf, den er reizend fand und wie geschaffen für ihre blonde Schönheit. Sie waren beide nach Tische allein im Eßzimmer zurückgeblieben. Papa Krautner und der Offizier hatten bei dem jungen Paare gespeist. Fritz war abgerufen worden, der alte Herr aber gegangen, sein Mittagsschläfchen zu halten. Vor den beiden standen die halbgeleerten Mokkatassen; über ihnen zogen die leichten blauen Ringel der Cigarette hin, die der Offizier rauchte. Die Luft war warm, nach Tabak, Orangen und Kaffee duftend. Im Kamin verglühte das Feuer und warf seinen Schein auf das spiegelnde Parkett bis zu dem Smyrnateppich unter dem massiven Tisch. Das fahle Licht des Januartages erhellte nur dämmerig das trauliche Zimmer. Die Zeitung knisterte in den Händen der jungen Frau und der Bleistift, welchen der Lieutenant führte, glitt hastig über das Papier. Sie blieben beide stumm, sie waren zum ersten Male ganz allein.

Nun verschränkte Therese die Arme unter der Brust und schaute unverwandt auf den Zeichnenden.

„So,“ sagte er möglichst unbefangen und doch nicht imstande, seine innere Erregung und das Beben seiner Stimme zu verbergen, „so – denken Sie sich nun die Farben dazu, die lebhafte bunte Stickerei, das wunderschöne Blau des Mieders, und Sie haben ungefähr eine Vorstellung davon. Ich sah diese Tracht auf einem schwedischen Schiffe; der Kapitän hatte seine junge Frau bei sich, eine blonde schöne Frau wie – Sie, Therese.“

Sie zuckte empor und ward glühend roth.

Dann wiederum tiefe Stille.

Sie erhob sich endlich und ging schweigend zum Kamin hinüber, ergriff den Feuerhaken und schürte in der Gluth. Er war ihr mit den Augen gefolgt, und sie mußte seinen Blick gefühlt haben, denn sie wandte sich um.

„Wollen wir ein wenig Schlittschuh laufen?“ fragte sie hastig.

„Wenn Sie befehlen!“

Therese trat jetzt in die Fensternische, um nach dem Himmel und dem Thermometer zu seheu. Er erhob sich und folgte ihr. So standen sie eng zusammen in dem abgeschlossenen Raume, fast ganz verborgen von dem bunten gewirkten Vorhang. Ein grünliches Licht quoll durch die kleinen bleigefaßten Scheiben – nur eine einzige hatte eine klarere Farbe.

„Wie oft habe ich hier gestanden,“ sagte er leise, „meinen Cornelius Nepos in der Hand, lernend und über das Buch in den Hof schauend, als wilder Junge jede Minute bedauernd, die mich hier oben hielt. Und dann, später einmal, da stand ich hier auch“ – und seine Hand streckte sich gegen die neue Scheibe aus – „Lasseu Sie die Erinnerungen!“ kam es fast bittend von ihren Lippen.

„Wollen wir also aufbrechen?“

„Ja!“ erwiderte sie; aber sie zögerte trotzdem. Und plötzlich wandte sie ihm voll ihr schönes Antlitz zu; es war mit Purpur überzogen. „Sagen Sie mir nur eins,“ klang es wie ein Hauch zu ihm hinüber, „daß Sie mir verziehen haben!“

„Nein – niemals!“

Sie sah ihn furchtsam an, dann senkte sie die Augen, zitternd und mit der Hand hinter sich greifend, um sich auf die Fensterbank zu stützen.

„Wie könnte ich der verzeihen, die mich meines Lebensglückes beraubt hat?“ fuhr er bitter fort. „Wollte ich dies Unrecht vergessen – ich müßte mich selbst vergessen können!“ Damit verbeugte er sich und ging. Therese blieb wie betäubt zurück.

Das Stubenmädchen kam nach einer langen Weile herein.

„Frau Doktor?“

Sie erhob sich schwerfällig. „Was wollen Sie?“

„Der Herr Lieutenant erwartet Frau Doktor zum Schlittschuhlaufen.“

Sie hatte die Hand an die Stirn gelegt. „Sagen Sie, ich bedaure, nicht kommen zu können, es sei zu spät geworden und – ich hätte Kopfweh. Oder nein, sagen Sie das letzte nicht!“

[828] Sie ging dann in die Kinderstube, aber der Kleine war drunten bei der Großmutter. So stieg sie die Treppe hinab und setzte sich still in den Lehnstuhl am Ofen, das Tändeln der alten Dame mit dem Kinde beobachtend.

„Was sagst Du nur zu dem Lieutenant, Therese?“ fragte diese mit einem Mal. „Er ist nach Berlin befohlen und soll dem Kaiser berichten über das Gefecht. Gelt, Bub’, der kann lachen!“

„Woher weißt Du das?“ fragte Therese sonderbar hastig.

„Vom Fritz. Der Brief ist vorhin gekommen, gerade als Du herunterschicktest, daß Du nicht mit aufs Eis wollest. Der Frieder muß heute abend schon reisen.“

Therese schwieg, sie war ganz roth geworden.

„Die Herren in der ‚Traube‘ haben ihm gestern abend auch so zugeredet, er solle über seine Erlebnisse und über das ganze Thun und Treiben in der Kolonie drüben einen Vortrag halten," fuhr die Räthin fort. „Ich glaube, er hat’s versprochen für nächste Woche. Weißt, da werden sich die Andersheimer die Köpfe schier blutig stoßen um die Plätze, denn das Afrikanische ist ja just Mode."

Mamsell Unnütz, die eben in die Krautnersche Villa ging, um Frieder beim Einpacken zu helfen, traf ein paar Minuten später mit Frau Therese im Hausflur zusammen.

„Wo gehst Du hin?“ fragte die junge Frau.

„Zu Frieder hinüber.“

„Warie, ich komme mit; das heißt, ich will zu Papa!“

Drüben in der Villa suchte Therese sofort das Zimmer ihres Vaters, Julia das ihres Bruders auf.

In der einfachen Stube des Hausherrn wogte ein blauer Tabaksdampf. Der alte Mann saß mit der langen Pfeife im Lehnstuhl; ihm gegenüber mit der Cigarre sein Schwiegersohn. Der Offizier hatte sich auf den Rand des Tisches gesetzt und hielt eine Cigarette in den schlanken Fingern.

Vater und Gatte begrüßten freundlich die junge Frau; Frieder richtete sich stumm aus seiner nachlässigen Stellung auf. „Ist Julia vielleicht auch mitgekommen?“ fragte er.

„Ja,“ erwiderte Therese, „sie will Ihren Koffer packen.“

„Brav von ihr!“

Sie trat hinter den Stuhl des Vaters; sie wolle sich nicht setzen, meinte sie, nur sehen, wie es ihm gehe; er sei bei Tisch so blaß gewesen.

„Deshalb kommst Du?“ rief der alte Herr lachend. „Ich bin munter wie der Fisch im Wasser!“ Er stand auf und ging vor den einzigen Spiegel über der Kommode. „Muß doch einmal nachschauen, es hat einen zuweilen beim Kragen, man weiß nicht wie!“ murmelte er.

„Aber, Papa, mach’ doch keine Witze!“ rief der Doktor, „Du siehst aus wie das Leben selbst.“

„Ja, das ist wohl wahr, Fritz,“ erwiderte jener und rückte sich etwas unbehaglich wieder in dem Stuhle zurecht. „Indessen – siehst Du, vorgestern erst bin ich Frau Norban begegnet, sie saß in ihrem Wagen wie die Gesundheit selber – und heute liegt sie auf den Tod.“

„Frau Norban?“ rief Therese. „Davon hast Du mir ja gar nichts gesagt, Fritz!“

„Ich selbst höre eben das erste Wort.“

„Wie? Du bist doch Arzt bei Norbans?“

Er that einen leisen Zug an der Cigarre. „Wie es scheint, nicht mehr,“ gab er dann ruhig zurück.

Die junge Frau wurde auf einmal dunkelroth. „Du kommst wohl jetzt aus der Mode?“ sagte sie scharf. „Bei Brinkmanns und Voigts bist Du seit Neujahr ja auch nicht mehr Arzt!“

Er lachte. „Seit wann bekümmerst Du Dich so eingehend um meine Praxis, kleine Frau?“

„Ich habe mich stets darum bekümmert, mehr als Du denkst! Jedenfalls läßt es mich nicht so gleichgültig, wie es Dich läßt, ob Du noch der erste und gesuchteste Arzt der Stadt bist oder nicht!“ antwortete sie erregt.

„Nun! Nun!“ murrte der alte Herr, der nicht wußte, ob es Spaß sei oder Ernst.

Der Doktor lachte noch immer; der Lieutenant zündete sich langsam eine neue Cigarette an.

„An Deiner Stelle suchte ich doch aus diesem Neste herauszukommen,“ fuhr sie fort; „es müßte Dir ja leicht werden, eine Professur in Heidelberg oder sonstwo zu erchalten. Aber Du bist ganz zufrieden mit dem alten Schlendrian hier und läßt Dir von den Leuten Unglaubliches bieten.“

„Frieder,“ sagte der Doktor etwas scharf, „frage doch einmal Seine Majestät, ob er nicht zufällig einen Leibarzt braucht; meine Gattin würde sich ungeheuer für eine Frau Leibärztin eignen.“

Der alte Herr lachte und hustete überlaut; Frieder stand auf. Ohne auf den Scherz des Arztes einzugehen, verbeugte er sich höflich und empfahl sich unter dem Vorwand, seiner Schwester helfen zu wollen.

„Aber nun sage mir doch um Gotteswillen, Kind, was ist in Dich für ein Hochmuthsteufelchen gefahren!“ rief nun der Doktor, rasch wieder gut gelaunt. Und er haschte ihre Hand und zog die Widerstrebende zu sich heran. „Bietet denn Frau Norban mitsamt den beiden anderen Ungetreuen schon einen Grund, meine hiesige recht angesehene Stellung aufzugeben?“

Sie warf den Kopf zurück und strich sich über die Stirn; es war, als kehre ihr langsam die Besinnung wieder. „Es thut mir nur leid, daß Du hier versauern willst,“ sagte sie leise, „und ich ärgere mich auch über die Undankbarkeit der Menschen.“

„Thörichtes Herz, überlaß das doch mir; ich habe soviel Gelegenheit, mich über Dankbarkeit zu freuen. Aber wir müssen heim, unsere Spielstunde mit Bubi kommt; es wird dämmerig. Gute Nacht, Großpapa!“

Sie gingen durch den Garten heim und traten zusammen in die Kinderstube. Die Wärterin hatte die Lampe angezündet und den großen weichen Filzteppich auf die Erde gebreitet; das Kind, das im kurzen weißen Flanellröckchen darauf saß, streckte dem Vater jauchzend die Aermchen entgegen. Leise verließ die alte Frau das Gemach, und die Stunde, die bisher für Eltern und Kind die schönste gewesen war, begann. Aber wunderlich, die Lust wollte heute nicht so recht kommen.

„Du bist gar nicht bei der Sache!“ scherzte der Doktor und warf der jungen Frau, die am einen Ende des Teppichs hockte, den Ball zu, dem das Kind eilig auf allen Vieren nachkrabbelte.

„In der That, ich – ich bin so müde heute,“ sagte sie und rollte den Ball dem Jungen entgegen, der ein ganz verwundertes Gesicht machte; dann erhob sie sich und setzte sich in einen Stuhl.

„Du hast vielleicht Kopfweh, Herz?“

„Ja, ein wenig.“

„Sei still, kleiner Krakehler, Mama hat Kopfschmerzen,“ flüsterte er nun dem Kleinen zu und ergötzte sich an dem offenen Mündchen und den fragenden Blauaugen, womit dieser erst das Flüstern anhörte, um dann laut aufzujauchzen.

„Geh’ in Dein Zimmer, Therese, dort ist’s still; ich komme Dir bald nach.“

Sie stand auf und ging hinaus. Sie wußte nicht, wie ihr war, und sie wollte es nicht wissen. Sie hätte irgend etwas thun mögen, etwas Tolles, Unvernünftiges – nur eine Ableitung, nur hinweg mit dem, was hinter ihrer Stirn tobte, was sie erregte bis aufs Blut! Seit Wochen schon, wo sie ging und stand, sah sie dasselbe – ein schönes gebräuntes Männergesicht unter blondem Haar, dessen helle Augen sie nie anzusehen schienen und ihr doch bis in den Grnnd der Seele drangen, sie in unerträglichem Banne haltend – immer diese gleich kühle überlegene Persönlichkeit, die, ohne mit der Wimper zu zucken, der größten Gefahr entgegentreten, aber auch lächelnd zu Tode verwunden konnte.

Und der hatte einst ihr gehört, ihr allein!

Sie stemmte die geballten Fäuste auf das Fensterbrett. Wie lächerlich sie doch war! Was ging er sie denn noch an! Sie hätte ihn ja haben können, wenn sie gewollt – sie hatte ihn eben nicht gewollt und war die vergötterte Frau eines anderen geworden – eines anderen ....

„Nun, Kleine, noch immer ohne Licht?“ erklang in diesem Augenblick die Stimme ihres Gatten.

„Noch immer!“ sagte sie müde.

Er ließ sich aufs Sofa nieder und gähnte vernehmlich. „Schatz,“ bat er, „sei nicht böse – aber die heutige Geschichte hat mich fertig gemacht.“

[830] Sie fragte nicht: „Was für eine Geschichte?“ und erfuhr somit auch nicht, daß er eine schwere Amputation hatte vollziehen müssen.

„Komm ein wenig zu mir, Therese!"

Sie stand langsam auf und kam herüber, aber sie schmiegte sich nicht wie sonst an ihn. Er zog sie an sich. „So, nun will ich weiter nichts in der Welt.“

Sie antwortete nicht, sie zuckte nur unmerklich die Schultern, so unmerklich, daß er es nicht fühlte, obgleich er sie im Arme hielt. So saßen sie schweigend, und endlich nach langer Zeit sagte sie halblaut. „Es wäre aber doch schön!"

„Was denn?“

„Wenn Du irgend etwas thätest, um irgend etwas –“

„. . . Ordentliches zu werden,“ ergänzte er. „Bist doch ein närrisches Ding! Lassen Dich denn Frieders Lorbeeren nicht ruhen?“

Sie zuckte abermals die Schultern, und nach einer Weile kam es tonlos und schwerfällig von ihren Lippen. „Was geht mich der Frieder an!“


Der Frieder war wirklich in die Mode gekommen. Die Blätter hatten lange Artikel über ihn gebracht, die ausführlich berichteten, daß er nach Berlin befohlen worden und wie es zugegangen sei bei der Audienz. Und dann hatte der Bürgermeister des Städtchens angezeigt, daß Lieutenant Adami zum Besten des Baufonds für Wiederherstellllng der Elisabethkirche in Andersheim einen Vortrag über seine Erlebnisse im deutschen Schutzgebiet Ostafrikas halten werde.

Der Gefeierte selbst veränderte bei alledem keine Miene, er blieb genau so formell und so freundlich wie immer; er rauchte ebenso seelenruhig seine Cigaretten in ununterbrochener Folge, lief mit Frau Therese Schlittschuh und tanzte mit ihr in den Gesellschaften, die man ihm zu Ehren gab. Aner er tanzte mit ihr durchaus nicht häufiger als mit anderen.

Dabei wurde Therese blasser und gereizter denn je, und der Doktor gerieth in ernstliche Sorge; ängstlich besprach er sich mit seiner Mutter über diese seltsame Veränderung.

„Nun, Du bist der richtige Doktor für die Famille,“ erklärte diese gelassen; „ich gebe Dir den Rath, stelle Dir einen Hausarzt an. Als ob’s etwas wäre, wenn eine junge Frau einmal Launen hat! Als ich jung verheirathet war, da habe ich Deinem seligen Vater – meiner Seel’ – einmal den Stiefelknecht am Kopfe vorbei geworfen.“

Er mußte lachen und war ein paar Tage beruhigt, um dann desto besorgter zu werden.

Aber plötzlich schien alles verschwunden, was Theresens Laune getrübt hatte, und diese Umwandlung geschah an dem Tage, an dem Frieder Adami seinen Vortrag im Kasino hielt. Therese kam gegen Abend noch ziemlich mißmuthig in Tante Riekchens Stube, um mit Julia zu dem Vortrag zu gehen, denn die Räthin war zu ihrem Kummer durch Migräne ans Bett gefesselt und Tante Riekchen, in Kissen und Decken eingemummt, war in ihrem Rollstuhl schon zur „goldenen Traube“ gefahren; dort sollten einige Männer sie unter Anleitung des Doktors mitsamt dem Stuhle in den Saal tragen. Seit Jahren war sie nicht mehr aus dem Hause gegangen, aber heute – sie hätte um keinen Preis fehlen mögen bei dem Vortrag ihres Lieblings.

Julia konnte nicht anders, sie mußte mit. Gern wäre sie zu Hause geblieben, aber Tante Riekchen hatte fast geweint, als sie Einwendungen machte, und so zwängte sie sich in ihr bestes Kleid, das ihr allerorten zu knapp geworden war. Sie fühlte sich unbeholfen und unglücklich darin und Therese sagte auch sofort, sie wolle ihr ein Tuch borgen, denn die Taille sitze ja unter jeder Kritik. Die stolze Frau hätte um die Welt nicht mit dem schlecht angezogenen Mädchen in den Saal treten mögen und half nun selbst, Julia ein weißseidenes Tuch mit zarter Goldstickerei in geschmackvollen Falten umzustecken; auf der linken Schulter befestigte sie es mit einer kleinen römischen Mosaikbrosche in Form eines Dolches – es war das einzige Andenken, das Julia von ihrer Mutter besaß und das sie zögernd hervorgesucht hatte.

So kamen sie in den bereits gefüllten Saal des Gasthauses, in dem sämtliche Gaskronen brannten.

Die Honoratioren von Andersheim waren vollständig erschienen Für Therese fand sich ein Platz in der vordersten Reihe belegt; Julia setzte sich zur Seite des Podiums neben den Fahrstuhl des alten Fräulein Trautmann. Sie konnte den ganzen großen Raum bequem übersehen, wagte aber nicht, die Augen zu heben; sie hatte Angst, große Angst, wie wenn sie die volle Verantwortlichkeit für das zu tragen hätte, was ihr Bruder rede und thue; und ihr Vertrauen war gering, sie zweifelte, daß er imstande sei, gut zu sprechen.

Schon beim Hereinkommen hatte sie flüchtig gegenüber an der Wand neben einigen anderen Herren Fritz bemerkt, aufmerksam gemacht durch Theresens ärgerlichen Ausruf: „Bitte, sieh nur, wie mein Mann ausschaut. Er hat sich nicht mal umgezogen!“ Dann hatte Julia nicht mehr hinübergesehen. Endlich wagte sie es und bemerkte, daß seine Augen groß und wie verwundert auf sie gerichtet waren. Der Blick traf sie verwirrend; sie glaubte darin zu lesen, daß sie sich zu auffallend geschmückt habe, und erröthend senkte sie aufs neue den Kopf.

Irgend ein Sonett, er konnte sich nicht besinnen, wo er es gelesen, kam dem Doktor drüben unabweisbar in den Sinn:

„Sie stieg vom Kapitol die Stufen nieder,
Da purpurn schon die Sonne Roms versank.
Nie sah mein Auge, seit es Schönheit trank,
So stolzes Haupt, so königliche Glieder.
Als trüg’ ihr Reiz nach keines Menschen Dank,
Hielt sie gesenkt die breiten Augenlider.“

Und er wandte sich zu dem alten „Onkel Doktor“, dem Vormund des Mädchens, und sagte ehrlich verwundert zu ihm:

„Sehen Sie nur, was aus dem kleinen schwarzbraunen Püppchen für ein stolzer Schmetterling geworden ist und wie gut das goldgestickte Tuch sie kleidet!“

Und dann sandte er die Blicke zu seiner jungen blonden Frau hinüber, und ein Zug von Rührung ging über sein Gesicht. Das Reizendste, Süßeste, Beste in diesem ganzen Saale gehörte ja doch ihm! Er liebte sie, liebte sie jetzt, wo sie blaß, gereizt, nervös war, vielleicht noch zärtlicher als sonst. Er bemühte sich, einen Blick, einen Gruß von ihr zu erhaschen – vergebens; sie sah nicht herüber.

Und nun erschien der Redner. Seine Verbeugung war tadellos, seine äußere Erscheinung nicht minder. Der Frack saß ganz vorzüglich, und die leichte Blässe seines Gesichts machte sich sehr interessant.

„Wenn man,“ begann er, „etwas erzählen will, so soll man es vollständig thun! Nun ist mir seit jener Stunde, da ich wieder deutschen Boden betrat, keine Frage häufiger gestellt worden als die: ‚Wie kamen Sie auf den Gedanken, nach Afrika zu gehen?‘ Und ich vermuthe, daß auch hier in diesem Saale mancher zunächst den Grund kennenlernen möchte, der mich hinübertrieb in den Dunklen Erdtheil. Ich will ehrlich sein – ich habe mich immer für Afrika interessiert, habe mit Begeisterung unsere Fortschritte dort verfolgt. Nichts gleicht der Bewunderung, die ich unseren kühnen Pionieren zollte, welche Gefahren, Mühen und Entbehrungen nicht scheuten und nicht scheuen, jenes Land zu erforschen. Natürlich ging aber dem Entschluß, selbst an dem gewaltigen Werke theilzunehmen, ein besonderer Anstoß voraus. Welcher Art dieser war, das zu wissen ist kaum von Werth für zweite und dritte – nehmen wir an, ich wollte ‚alten Gram heilen in neuer Luft‘. Also genug davon! Daß es mir nebenbei nicht an dem ehrlichen festen Willen fehlte, zu nützen, zu lernen und zu lehren, ja Blut und Leben für ein großes Ziel einzusetzen, glaube ich bewiesen zu haben.

Gestatten Sie mir denn, verehrte Herrschaften, in meiner Schilderung mit dem Augenblick zu beginnen, da ich, an der Treppe der Kommandobrücke eines mächtigen Kriegsschiffes stehend, die Thürme und Dächer der guten Stadt Kiel im Winternebel verdämmern sah und das heimathliche Wasser unter dem Buge rauschen hörte, der einem südlichen Meere zustrebte. Eine wahrhaft klägliche Abschiedsstimmung hatte sich meiner bemächtigt, die mir das, was ich in der Heimath besessen, was ich verlor und meiden sollte, zauberischer und unersetzlicher als jemals vormalte, so daß ich mich als den unglücklichsten Menschen des Erdballs betrachtete. Und ganz wahr ist’s nicht, was die Philosophen behaupten, daß Entfernung von dem Orte, wo einem Leid geschehen, die Schmerzen mildere. Mir persönlich hat die Sehnsucht nach der Heimath viel zu schaffen gemacht.“

[831] Julia hatte unwillkürlich Therese angeschaut. Das Gesicht der jungen Frau war fast weiß; wie verzehrend hingen ihre Blicke an dem schlanken Manne dort oben. Und nun wandte er langsam sein Gesicht ihr zu und sekundenlang tauchten vier Augen ineinander in einem Blick, der Julias Herz wie wahnsinnig pochen machte, der ihr das Blut in die Wangen trieb, bis ein Schwindel sie erfaßte. Sie hörte nicht, was ihr Bruder noch sprach, sie hatte die Hände ineinander verschränkt, so fest, daß es sie schmerzte. Sie dachte nur eins – ob Fritz diesen Blick bemerkt hatte, und was denn nun werden solle, nachdem die Zwei sich so angeschaut und – großer Gott! Bisher hatte sie ja immer nur Angst gehabt, daß Frieder sich abermals von seiner Liebe hinreißen lassen, daß er unglücklich sein könnte, wenn er sie sähe – an Therese hatte sie nicht gedacht, sie war ja die Frau, die geliebte Frau eines andern, glücklich und beneidenswerth. Und nun – – nein, es war ja nicht möglich! Sie zwang sich, ruhig zu sein, sie blickte zu der jungen Frau hinüber. Die saß setzt mit rosigem Gesicht da, langsam den Fächer bewegend, und schien ernst aber unbewegt zuzuhören. Keine Spur mehr von jenem blitzartigen Austausch verborgenen Verständnisses wie vorhin. Sie sah auf Fritz; er saß ruhig zwischen seinem Schwiegervater und dem Onkel Doktor und folgte eifrig den Worten des Redners. Und sie sah über die ganze Versammlung hin – lauter der Situation angemessene gespannte Mienen. Sie athmete auf. Das Schreckliche hatte niemand gemerkt als sie – war es denn wirklich gewesen, war’s nicht ein Traum?

Und doch konnte sie das Auge nicht mehr von den beiden lassen. Aber sie schauten sich nicht mehr an. Ein paarmal bei heiteren Schilderungen lief beifälliges Lächeln die Reihen entlang, um Theresens Mund aber zuckte es nicht einmal, und Julia meinte, sie höre gar nicht, was er sage, sie denke – o sie denke – mein Gott, an was? Und das erstickende, athembeklemmende Gefühl überkam sie wieder.

Nun hatte er geendet; ein lautes Beifallklatschen hallte durch den Saal. Julia sah, wie ihr Bruder die zwei Stufen des Podiums herunterschritt und die ausgestreckte Hand Theresens mit unbewegtem Gesicht an die Lippen führte – dann trat er zu der alten Dame und küßte ihr ebenfalls die Hand.

„Schön! Sehr schön!“ flüsterte Fräulein Riekchen matt. „Aber – Frieder – nein, nicht hier – später!“

„Was wünschest Du, Tante?“

„Ach, mein Bub’, ich hatte gar nicht gewußt, daß Dich ein Kummer fortgetrieben hat,“ sagte sie mit Thränen im Auge.

Er lächette. „Man muß seine Rede ein wenig ausschmücken; beunruhige Dich nicht, Tante!“

Er schob selbst den Fahrstuhl den schmalen Gang zwischen den Sitzen hin, und Julia schritt hinter ihnen, stumm, mit glühenden Wangen und gesenkten Augen.

In der Nähe der Thür, wo sich noch die Menschen drängten, traf man mit Papa Krautner zusammen. Dieser lenkte plötzlich den Fahrstuhl auf eine Seitenthür zu und winkte den anderen, nachzukommen; ein paar Sekunden später befand sich die Familie allein in einem kleinen Nebenzimmer. In dessen Mitte unter dem brennenden Kronleuchter stand ein gedeckter Tisch. auf dem, verheißungsvoll genug, jedem Teller eine Anzahl Gläser zugesellt war.

Der alte Herr Krautner schien ganz berauscht von den Erfolgen seines Gastes und hatte sich vorgenommen, den netten tüchtigen Kerl, der sich so brav herausgemacht hatte, ordentlich zu feiern.

„So,“ sagte er, „und nun wollen wir auf das Wohl des Redners trinken – bitte die Herrschaften, Platz zu nehmen, die Austern kommen bald.“

Tante Riekchen erklärte aber sofort aufs bestimmteste, sie wolle heim, und der Doktor sagte, er müsse so wie so noch rasch zu einem Schwerkranken und wolle dann gleich die Tante nach Hause bringen. Nun befahl der Gastgeber, man solle mit dem Servieren warten, und benutzte die Pause, um drinnen in der Gaststube ein Glas „Echtes“ zu trinken.

Julia fand sich plötzlich mit Frieder und Therese allein. Es war nicht sehr warm in dem Zimmer, das eine schäbige Gasthofeleganz zeigte, dennoch schien es ihr furchtbar schwül. Therese saß auf dem mit rothem Plüsch bezogenen Sofa, Frieder stand vor dem gedeckten Tisch und las die Speisekarte.

Zerstreut schaute Julia im Zimmer umher, sie betrachtete die Oeldruckbilder des Kaisers und der Kaiserin und die schrecklichen Tapeten.

Sie hätte nach Hause gehen müssen, um die erregte alte Frau zu beruhigen, nach der Räthin zu sehen, deren Kopfweh nach solchen Migränetagen sich gegen Abend in Eigensinn und Schelten aufzulösen pflegte, und es hielt sie doch wie mit eisernen Klammern auf ihrem Platze; sie wollte nicht, daß die beiden allein bleiben sollten – wurden sie heute vor sich selbst bewahrt, dann mochte morgen im nüchternen Tageslicht der tolle Spuk verschwunden sein.

Und endlich kam der Doktor wieder, und nun war ja alles gut.

Sie erhob sich.

„Bitte, nehmt es mir nicht übel, wenn ich gehe,“ sagte sie, „ich glaube, es ist nicht recht, daß ich die Tante allein lasse.“ Und schon war sie an der Thür.

„Aber, Julia!“ rief der Doktor und folgte ihr.

Doch sie eilte mit dem Rufe. „Ich bitte Dich, Fritz, bleibe!“ die Treppe hinunter, ergriff ihren Mantel, der in der Garderobe noch einsam neben Theresens Sachen am Nagel hing, und eilte hinaus auf die dunkle Straße.

Plötzlich fühlte sie sich gehalten.

„So erlaube wenigstens, daß ich Dich nach Hause begleite,“ sagte der Doktor, „der Weg ist weit, und es liegt ein Stückchen einsamer Chaussee dazwischen.“

„Ich bitte Dich, Fritz, geh’! Dein Schwiegervater wird anfangen wollen zu speisen,“ bat sie ungeduldig.

„Papa Krautner? Der sitzt jetzt noch hinter einem frisch bestellten Glas und disputiert so eifrig mit Onkel Doktor, daß er nicht eher daran denken wird, er habe Gäste, bis ich ihn am Rockärmel nehme. Die paar Minuten machen nichts mehr aus.“

„Ich will aber nicht, daß Du mitgehst!“ rief sie außer sich, „hörst Du, ich will nicht!“ Sie stampfte hörbar auf den Boden. „Ich kann mich allein schützen!“ – Und im Scheine der Straßenlaterne sah er ein aufgeregtes ängstliches Gesicht, aus den Augen aber leuchtete ein entschiedener Wille.

Sie wandte ihm den Rücken und ging raschen Schrittes davon.

Er zuckte die Schultern und kehrte zurück. „Wunderlich,“ sagte er, „nicht die kleinste Gefälligkeit nimmt sie an. Meine Mutter würde es ‚Bettelstolz‘ nennen – oder steckt ’was anderes dahinter? Ich weiß doch, daß sie ungern abends allein auf der Straße geht.“

Er trat in die Gaststube und holte den Schwiegervater, der mit rothem Kopfe seine kolonialpolitischen Ansichten verfocht. „Du Papachen, wir wollen essen; droben warten Therese und Frieder mit Schmerzen auf uns.“

Als sie eintraten, stand die junge Frau an dem eisernen Ofen, hatte ihren Fuß auf den Vorsprung der Ofenthür gesetzt und ließ den Flammenschein darüber spielen. Frieder kam eben vom Fenster zurück.

„Endlich!“ murrte Therese, „wir haben eine Ewigkeit gewartet.“

Fritz zog sie zum Tische. „Du glühst ja förmlich,“ sagte er, „wie kannst Du Dich so dicht an den eisernen Ofen stellen? Du wirst Dir Deinen schönen Teint verderben, Du Leichtsinn!“

Sie schauerte zusammen. „Mich fror so sehr,“ murmelte sie und betrachtete angelegentlich die Nummer in ihrer Serviette.

*               *
*

„Fritz,“ bat am anderen Tage Fräutein Trautmann, „weißt Du denn nicht, ob Frieder etwa eine unglückliche Liebe gehabt hat?“ Die alte Dame kam gar nicht zur Ruhe seit gestern. „Wie hat er doch gesagt – ‚Ich wollte alten Gram heilen in neuer Luft‘?“

Der Doktor lächelte.

Weißt Du, Tante, Klappern gehört zum Handwerk. Frieder hat’s verstanden, sich sofort der hiesigen Damenwelt interessant zu machen. Meines Erachtens sieht er nicht aus wie ein Liebeskranker, und – ehrlich gestanden – wenn einer wirklich deshalb fortgeht, so hängt er es nicht an die große Glocke. Vielleicht ist’s ja auch möglich, daß er hier noch eine alte Flamme hat, der er aufbinden wollte, daß er ihrer Sprödigkeit halber [832] übers Meer hinüber sei. Gieb Dich also zufrieden, Tantchen – Dein Frieder ist ein Spaßvogel!“

„Julia sagt das auch; aber sonst ist er doch so ernst,“ seufzte Fräulein Riekchen, „und mir will er nicht Rede stehen.“

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Der Karneval zog ins Land. Bunt und lustig wie immer am Rheine, füllte er die Luft mit Schellenklang, Pritschenschlag und Musik und blendete die Augen durch leuchtende Farben.

Therese erschien plötzlich wie ausgewechselt. War sie vordem allzu still und gereizt gewesen, so hatte sich ihrer jetzt ein wahrer Uebermuth bemächtigt. „Das echte rheinische Mädchenblut,“ meinte lachend der Doktor, als sie in einem kurzen Kostüm aus hellblauem mit weißen Rosen durchwirkten Atlas, mit Puderfrisur und hohen Stöckelschuhen im Salon umherlief und sich von ihm haschen lassen wollte.

„Drunten wartet der Wagen,“ mahnte er dann, ihr nacheilend, „und was noch schlimmer ist, die Mutter. Komm, laß Dir den Mantel umhängen!“ Aber sie floh von einer Ecke in die andere, und zuletzt sprang sie auf das Sofa, alles mit einem sonderbaren Lachen, das er noch nie von ihr gehört hatte. Und als er, auf den Scherz eingehend, den Tisch dicht heran schob, um sie zu fangen, da sprang sie gar auf den Tisch, und er nahm sie glückselig auf den Arm, wie er es mit seinem Jungen zu thun pflegte.

Nun musterte sie ihn plötzlich von oben herab mit kalten Augen und verändertem Gesicht. „Dieses altdeutsche Barett kleidet Dich entsetzlich!“ sagte sie.

„Du siehst um so reizender aus, Therese.“

„Bitte, laß mich los!“ forderte sie.

„Ja, unter einer Bedingung.“

„O, ich weiß schon!“ Und sie hatte sich blitzschnell hinuntergebeugt und ihn in die Wange gebissen, daß die Spur ihrer kleinen Zähne dunkelroth darin zurückblieb. Ebenso rasch stand sie auf der Erde und sah ihn mit einem Blicke an, in dem sich Ekel mit Zorn mischten.

Er bemerkte ihn nicht. „Nun, das ging schon über den Spaß,“ sagte er ruhig und wischte mit dem Taschentuch die schmerzende Stelle ab.

„Du weißt doch, ich kann diese Albernheiten nicht leiden,“ erwiderte sie, und auf einmal begann sie zu schluchzen. „Ach, es ist ja alles so gräßlich dumm auf dieser Welt, alles, alles! Und heute ist – Karneval!“

Er schüttelte den Kopf.

„Weißt Du, Deine Nerven sind sehr angegriffen,“ sagte er, „und wärst Du meine Patientin, so müßtest Du hier bleiben.“

Ein Weilchen darauf lag das Haus still da, das junge Paar und die Frau Räthin waren zum Ball gefahren; das Kind schlief und ebenso drunten das alte Fräulein. Nur aus Julias Fenster schimmerte noch Licht; sie saß und sorgte sich um fremdes Glück und schalt sich selbst ob ihrer spukhaften Phantasie. Ihr reiner Mädchensinn sträubte sich heftig gegen das, was immer aufs neue ihr Mißtrauen wachrief. Hätte sie nur jenen Blick nicht gesehen, hätte sie nur nicht gewußt, daß Therese schon einmal die Treue gebrochen! – Aber das war keine Treue, die am Altar beschworen war, sagte sich das Mädchen, keine, die durch das Heiligste auf der Welt befestigt wurde. Und sie dachte an den blonden Buben droben in seinem Bettchen und wurde ruhiger. Lange blieb auch der Frieder nicht mehr hier, und dann würde Theresens oberflächliches Herz sich wieder auf sich selbst besinnen. Wenn er nur erst abgereist wäre! Schlecht ist Therese nicht, sicher nicht; sie läßt sich nur so hinreißen durch alles, was sie bewundern zu müssen glaubt – nein, schlecht ist sie nicht! – –

Am andern Tage gegen Abend kam der Doktor aus dem Hause seines Schwiegervaters, den er täglich zu besuchen pflegte. Auf der Freitreppe der Villa zögerte er, besann sich und beschloß durch den Garten zu gehen, anstatt am Rheine entlang. Die Ballnacht lag ihm noch in den Gliedern. Man war erst in der Morgenfrühe heimgekehrt, und als er kaum schlief hatte man ihn schon wieder herausgeklingelt, um einem Opfer des Karnevals die Wunde zu verbinden, die ihm das Bierseidel eines Nebenbuhlers geschlagen. Die unerquickliche Scene, die sich in einer Gesellenherberge abspielte, hatte ihm die ohnehin nicht rosige Stimmung vollends verdorben.

Therese war unbestritten Ballkönigin gewesen und hatte die Huldigungen der jungen Männerwelt hingenommen wie ein Mädchen, das noch über Herz und Hand verfügen darf. Und er hatte viertelstundenlang in irgend einer Ecke gestanden und sich geärgert, daß einer vernünftigen Frau solche Thorheiten Vergnügen machen konnten, hatte sich vorgenommen, ihr in aller Ruhe zu erklären, daß jetzt mit dem Besuch der Gesellschaften aufgehört werden müsse, denn sie sei ihm zu nervös und das Tanzen für sie ein Unding. Sie war in der That nach jedem Tanze bleicher geworden und ihre Augen immer fieberhafter.

Heute früh war er noch nicht dazu gekommen, mit ihr zu reden, denn sie hatte geschlafen, und bei Tisch hatte er zu seiner Ueberraschung die Mutter oben gefunden. Therese hatte sie eingeladen, ragout fin mitzuessen, das Lieblingsgericht der alten Dame. Und ehe noch der Nachtisch gekommen war, hatte sich die junge Frau abermals schlafen gelegt. Wenn er jetzt nach Hause kam, konnte er endlich wohl mit ihr reden.

Blaugrüne Dämmerung umgab ihn, zu dunkel, um die Gegenstände noch deutlich zu erkennen, doch hell genug, um gerade noch sehen zu können. Hie und da schimmerte ein Streifchen liegen gebliebenen Schnees am Rande der Rasenflächen, und seitwärts leuchteten die weiß angestrichenen Baumstämme des Obstgartens wie Gespenster durch das Dunkel. Er ging, seine Cigarre rauchend, nicht den nächsten Weg, sondern um das große Rasenrund herum und kam an dem Gartenhäuschen vorüber, das unmittelbar an der Mauer gegen den Rhein lag. Der alte Herr hatte, als er den Garten kaufte, das alterthümliche Ding wieder ausgebessert und möbliert, da es vom Fenster aus eine köstliche freie Aussicht über den Strom gewährte. Er weilte hier gern im Vorfrühling, wenn es noch nicht möglich war, im Freien zu sitzen oder im Spätherbst, wenn kalte Winde den Rhein heraufzogen. Zur Winterszeit war es verschlossen.

Fritz schritt gedankenvoll vorüber und stolperte fast über die breiten Sandsteinstufen, die sich kaum von dem Gartenweg abhoben. Dann verließ er den Garten und stand ein Weilchen vor der Thür des eigenen Grundstücks am nachtdunklen Strome. Da hörte er seitwärts ein scharfes kratzendes Geräusch und gewahrte einen Schatten, der unterhalb des Gartenhäuschens an der Mauer hinunterglitt; er mußte fast aus dem Fenster des Häuschens gekommen sein. Mit langen Schritten begann der Doktor dem Flüchtling zu folgen, allein Dunst und Nebel hatten dessen Gestalt im nächsten Augenblick verschlungen. So hielt er es für gerathener, umzukehren und nachzusehen, ob etwa in das Gartenhaus eingebrochen worden sei, um nöthigenfalls den Hausherrn zu benachrichtigen. Vielleicht hatte da auch ein Flößer ein komfortables Nachtquartier gesucht.

Der Garten lag jetzt finster und spukhaft einsam da, nur meinte er aus der Verbindungsthür mit dem eignen Garten etwas Lichtes huschen zu sehen – oder doch nicht? Er mußte sich wohl geirrt haben, denn als er eben wieder hinblickte, glaubte er bestimmt, den leuchtenden Birkenstamm neben der Pforte damit verwechselt zu haben, und schritt nun rasch nach dem Gartenhaus hinüber. Es überraschte ihn, die Thür, die in dieser Jahreszeit immer verschlossen zu sein pflegte, nur angelehnt zu finden.

Er zündete im Vorflur sein Taschenlaternchen an und betrat die winzige Stube.

Niemand hler.

Er öffnete den Wandschrank – der Gartenrock des alten Herrn hing da, der Strohhut darüber. Auf der anderen Seite standen Tassen, Fidibusbecher und ein altes Messingkohlenbecken in ungestörter Beschaulichkeit beieinander. Er leuchtete an die Fenster; sie waren geschlossen, nur ein Laden war nicht zugeriegelt und klaffte etwas. Er befestigte ihn vollends und sah dann weiter umher; der Fußteppich vor dem Sofa lag schief gerückt, sonst – –

Plötzlich richtete er sich empor und starrte wie gebannt auf einen Gegenstand zu seinen Füßen, dann bückte er sich und erfaßte ein leichtes weißes, mit Goldstickerei verziertes seidenes Gewebe.

„Julias Tuch,“ sagte er und wußte selbst nicht, warum ihn so jählings ein tiefer innerer Zorn packte. „Julias Tuch!“ wiederholte er und lachte kurz auf.

Er löschte das Licht in der Laterne und setzte sich auf das [834] ächzende kleine Möbel, als müsse er erst Kraft sammeln, das unerhörte fassen zu können. Ein Mann, der aus dem Fenster springt; und Julia mit ihm in diesem abgelegenen Winkel – allein! Das stolze Mädchen, das ihm bis jetzt so rein und klar erschienen war wie – ja, es fiel ihm gar kein Vergleich ein. „Aber das kommt von der Lieblosigkeit, mit der sie aufgezogen wurde,“ murmelte er bitter. „Und doch – trotz alledem ist’s unbegreiflich! Aber warnen muß ich sie, ihr helfen, rathen!“

Er sprang auf und eilte ins Freie, das Tuch in der Hand. Es war völlig dunkel geworden. Eins der Krautnerschen Dienstmädchen begegnete ihm in der Nähe der Verbindungsthür beider Grundstücke.

„Ist vielleicht meine Frau bei ihrem Vater?“

Frau Doktor war heut’ noch gar nicht hier,“ antwortete das Mädchen; „es ist überhaupt gar niemand bei uns gewesen außer Ihnen, Herr Doktor. Der Herr Lieutenant sind schon seit ein paar Stunden fort; ich glaube, er wollte zu Fuß nach“ – sie nannte ein Städtchell in der Nähe – „ich hört’ es nur, wie er es zum Herrn sagte.“

„Ja, ich weiß,“ antwortete er zerstreut und ging.

In seinem eigenen Hause sah er Licht, im Kinderzimmer und im Boudoir seiner Frau. Bei Tante Riekchen war es dunkel. Er öffnete die Thür zu ihrem Zimmer und fragte hinein: „Ist Julia da?“

„Ja!“ antwortete die tiefe klangvolle Stimme des Mädchens.

„Warst Du bis jetzt daheim?“

Ein kurzes Schweigen, dann ein „Nein!“

„Verzeih – wo warst Du, Julia?“

„Ich –“ wieder eine Pause, „wie kann Dich das interessieren?“

Er antwortete nicht darauf. „Willst Dll in einer Viertelstunde auf einige Minuten in mein Zimmer kommen – in das Studierzimmer?“

„Gern!“ scholl es zurück.

Fritz begab sich in sein Zimmer, legte das Tuch sorgsam auf den Schreibtisch und ging zu seiner Frau.

Therese lag auf ihrem Sofa im Boudoir, die Lampe war mit einem dunklen Schleier verhängt. Sie sah bleich aus und ein Frösteln schüttelte ihren Körper.

„O weh!“ sagte er besorgt, „willst Du meine Praxis vermehren?“

„Ich bin so müde,“ klagte sie.

„Du hättest ein wenig an die Luft gehen sollen – warst Du heute gar nicht aus?“

„Nein!“ stieß sie hervor.

„Immer hier auf dem Sofa? Dann wundert mich Dein Frieren nicht. Hast wohl gelesen? Wenn Du das doch lassen wolltest, sobald Du angegriffen bist.“

„Ich möchte so gern schlafen.“

„Das heißt wohl, ich soll Dich verlassen, Kind? Gut, aber morgen habe ich ernsthaft mit Dir zu reden; so geht das nicht weiter, Therese!“

Sie fuhr empor. „Was geht nicht so weiter?“

„O! O! Heute nicht, morgen! Sei vernünftig und schlafe Dich aus – ich werde sorgen, daß alles ruhig bleibt!“ Er nickte ihr ernst zu und verließ das Zimmer.

„O, diese Frauen!“ murmelte er und klopfte an Tante Riekchens Thür.

„Willst Du kommen, Julia?“

„Sofort!“ antwortete sie.

Er ging voran, setzte sich an seinen Arbeitstisch und schraubte die angezündete Lampe höher, dann stützte er die Wange auf die Hand. Er hatte Herzklopfen wie ein Schuljunge. Gleich darauf trat sie ein.

Er betrachtete sie, wie sie nun vor ihm stand, ohne ein Wort zu sprechen. Sie sah leidend aus; es war ihr kindliches Gesicht nicht mehr. Er meinte auf einmal, etwas in den schönen Zügen zu erkennen, das an innere Kämpfe, an heimliche Leidenschaft mahne.

„Julia,“ begann er, und das Sprechen ward ihm schwer, „Du weißt, daß Du in mir immer einen Freund, einen Bruder gehabt hast – oder war ich es Dir nicht, Julia?“

Sie blickte ihn an und das Zucken ihrer Mundwinkel verstärkte sich; es sah fast hochmüthig aus.

„O, gewiß!“ antwortete sie.

„Du wirst Dir denken können, daß es einen Bruder aufs schmerzlichste und peinlichste berühren muß, entdeckt er an der Schwester –“

Er stockte und ging im Zimmer auf und ab; er wußte nicht, wie er ihr kundthun sollte, daß er ihr Geheimniß entdeckt. „Sieh das Tuch!“ sprach er endlich heiser und deutete auf das Gewebe neben der Lampe.

Sie sah es an und dann ihn, ruhig, mit einem Ausdruck von Verwunderung in den Blicken.

„Ich fand es eben – Du hast es wohl vergessen bei Deinem Stelldichein im Gartenhaus – im Schmerz des Abschieds, vielleicht auch –“ Und gereizt durch ihre Ruhe. „Ach, Julia, Kind, wie konntest Du Dich soweit vergessen!“

Ihre Augen hatten sich unheimlich erweitert. „Das Tuch – ich, ich soll es –?“

„Sei aufrichtig gegen mich, Julia!“ bat er. „Daß Du einmal lieben würdest – das mußte ja kommen, aber ich habe gemeint, es würde da, wie es Brauch und Sitte ist, bei Tante Riekchen oder bei mir ein achtbarer Mann anklopfen, der frank und frei Deine Hand begehrt; niemals habe ich gedacht, daß Du einem – Liehhaber gehören würdest, mit dem Du Dich verstecken mußt, der durch das Fenster seinen Weg nimmt!“

Sie fuhr empor.

„Du bist wahnsinnig!“ schrie sie. „O, das ist – das ist –“ Dann verstummte sie jäh, und ihre Hand tastete nach der Lehne des Sofas, während sie die andere vor die Augen legte, als sei ihr schwindlig geworden. „Mein Gott!“ klang es durch das Gemach.

„Ja, es ist besser, Du leugnest nicht und schenkst mir Vertrauen, es kann ja noch alles gut werden. Ich bitte Dich, Julia, sage mir alles, laß mich mit dem Manne reden! Ich bin bereit, wenn auch mit schwerem Herzen, Dich zu entschuldigen. Du hast keine Mutter gehabt, Tante Riekchen hat nicht verstanden, Deine Liebe zu gewinnen – Du bist herzenseinsam gewesen all die Zeit her, hast vielleicht den Muth nicht gehabt, der Tante zu sagen: ‚Ich liebe und werde geliebt!‘ – Ich will Dein Vertrauen ehren, Dir helfen – aber beichte, Kind, sage mir, wer es ist! So kann es ja doch nicht fortgehen; es ist Deiner und unsrer unwürdig!“

Er war neben sie getreten und streichelte ihr das Haar. „Sprich doch, Unnütz, sprich!“ sagte er bittend.

„Ich kann nicht! Ich kann nicht! Laß mich!“ rief sie, seine Hand zurückstoßend; ihre verstörten Augen irrten durch das Zimmer, als wisse sie nicht, ob sie wache oder träume.

„Du kannst nicht?“

„Nein! Nein!“

Und sie brach in ein kurzes nervöses Lachen aus. „Gieb das Tuch her, ich will gehen!“

„Nein, Du gehst nicht!“ rief er heftig, gereizt durch das Lachen. „Du entkommst mir nicht! Ich als Herr dieses Hauses dulde nicht, daß man mit Fingern auf die deuten darf, welche Kindesrechte hier genoß – also rede, sprich!“

Sie eilte vor ihn hin mit aufgehobener Hand, als wollte sie den Schimpf durch einen Schlag rächen. „Mit Fingern auf mich deuten?“ stieß sie hervor.

Er erfaßte die Hand und zog sie nieder. Julias kreideweißes Gesicht hatte einen unheimlichen Ausdruck.

„Besinne Dich! Dieses Tuch trugst Du vor ein paar Tagen; ich sah Dich darin, als Dein Bruder den Vortrag hielt. Irre ich mich? Ja oder nein!“

Sie senkte plötzlich den Kopf. „Es ist mein Tuch,“ sprach sie tonlos.

„Und wer war bei Dir?“

„Ich kann es nicht sagen.“

„Du willst es mir nicht gestehen?“

„Nein!“

Da stieg ihm der Zorn heiß zu Kopfe. „Ich hab’s nie für möglich gehalten, daß Du auf lichtscheuen Wegen gehen könntest,“ rief er empört. „So geh’ – wir sind geschieden!“

Sie schritt hinaus, das Tuch in der schlaff herabhängenden Hand, die ganze Gestalt wie gebrochen. Erst an der Thür warf sie den Kopf in den Nacken und richtete sich empor.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 27, S. 841–847

[841] Festen Schrittes ging Julia, nachdem sie das Zimmer des Doktors verlassen, aus dem Hause, durch den Garten. Athemlos langte sie in der Villa drüben an und fragte nach ihrem Bruder. Er war zu Hause; sie fand ihn auf dem Sofa, Cigaretten rauchend und lesend. Er erschrak vor dem bleichen drohenden Mädchengesicht.

„Was ist denn los?“ fuhr er auf.

„Du wirst Deinen Koffer packen und sogleich abreisen,“ sagte sie, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend.

„Weshalb denn?“

„Weil Du nicht länger einen anständigen Menschen betrügen sollst. Ich weiß alles! Du hast mit Therese ein Stelldichein gehabt – man hat Dich gesehen!“

Er machte ein erstauntes Gesicht, aber seine Blässe bestätigte vollauf, daß dem so sei. „Der Teufel auch, was ist denn da weiter?“ brummte er ärgerlich. „Uebrigens – wer hat mich denn gesehen?“

„Fritz!“

Er lachte kurz auf. „Na, dann kommt’s eben schon jetzt [842] zum Klappen. Woher weiß übrigens der Doktor, daß es Therese war?“

„Er weiß es nicht.“

„Na, was lamentierst Du dann so?“

Sie blickte ihn entsetzt an. „Fritz glaubt, ich sei da gewesen mit einem –“ Die Stimme versagte ihr.

„Ach, das ist ja köstlich! Du hast ihn hoffentlich bei dem Verdacht gelassen?“

„Ja!“ sagte sie bebend, „weil er es nicht überleben würde, daß Therese sich so schamlos benimmt.“

Frieder richtete sich in seiner ganzen Größe auf. „Schamlos? Nein, mein liebes Kind, diese Angelegenheit verstehst Du nicht, deshalb erlaube Dir auch kein Urtheil! Es ist viel von Dir, die Schuld auf Dich zu nehmen, ich bin Dir dankbar dafür und werde Dir diesen klugen Streich nie vergessen – Therese aber verschone mit Deiner Kritik! Sie kam auf meine Bitte in das Gartenhaus, damit wir endlich ungestort besprechen konnten, wie unsere Zukunft sich gestalten soll; sie liebt mich und beabsichtigt, sich von Fritz zu trennen – voilá tout!“

„Sie liebt Dich?“ fragte das Mädchen, vor deren Augen wirre Schatten tanzten, „das ist nicht wahr, das kann sie nicht gesagt haben, und wenn, so hat sie sich’s nur eingeredet. Du mußt fort, Frieder, heute noch, wenn Du ein Ehrenmann bist! Ich schicke Dir Deine Sachen nach. Therese wird zur Besinnung kommen, ich weiß es – – aber so mach’ doch Anstalten, es eilt!“ Und sie holte in fieberhafter Hast seinen Hut und Ueberzieher.

„Rege Dich nur nicht auf,“ sagte er gelassen, „es geht alles seinen richtigen Weg. Ich reise, wenn es Zeit ist und die Verhältnisse sich geklärt haben.“

„‚Seinen richtigen Weg‘ nennst Du das?“ rief sie und trat vor ihn mit sprühenden Augen. „Ist das recht, dem besten edelsten Menschen sein Glück abwendig zu machen?“

„Es ist die Vergeltung!“ antwortete er und drehte sich eine neue Cigarette. „Er hat mir die Braut abwendig gemacht; wie er es fertig gebracht, weiß ich nicht, jedenfalls aber unter der Maske des Biedermanns, die ihn trefflich kleidet. Uebrigens ist die Vergeltung ohne mein Zuthun gekommen – Therese hat mir gestanden, in ihr sei beim ersten Wiedersehen die alte Liebe erwacht.“

Julia wandte sich mit einer stummen Gebärde des Abscheus zum Gehen; sie fühlte sich zum Sterben elend.

„Wo willst Du denn hin?“ rief er ihr nach. „Ich rathe Dir, mache keine Thorheiten, sonst –“

Sie gab keine Antwort. Ihre Absicht war mißglückt, nun gab es nur noch einen Weg – Therese! Aber wie sie oben vor der Thür des Boudoirs stand, hörte sie die Stimme des Doktors, der sich besorgt nach dem Ergehen der Frau erkundigte, die ihn verrathen. Julia biß die Zähne zusammen und stieg wieder hinunter.

In ihrer Herzensangst wollte sie zur Räthin gehen, aber dann hatte sie doch soviel Besinnung, sich zu sagen, daß diese Frau das ganze Haus sofort in Aufruhr bringen würde, ja daß keine Möglichkeit mehr sei, das geschehene Unrecht gut zu machen, daß sein Glück doch verloren sei für immer. Und dennoch, es mußte etwas geschehen! Auf einmal fiel ihr der alte Krautner ein, und sie lief zur Hausthür.

„Wohin, wohin?“ erscholl da die Stimme der Räthin hinter ihr. „Bei uns ist Nachtwandeln nicht Mode, mein Fräulein! Die Mädchen aus unserem Hause bleiben abends ehrbar in der Stube.“ Und an ihr vorüber gehend, schloß die Räthin die Thür ab und steckte mit geflissentlicher Deutlichkeit den Schlüssel in die Tasche.

Nun wußte Julia, daß die alte Frau gehorcht hatte, daß noch heute abend die Mädchen in der Küche die willkommene Neuigkeit mit allen möglichen Ausschmückungen sich zuflüstern würden. Sie hätte aufschreien mögen vor Zorn und Weh. In diesem Augenblick kam der Doktor von oben herunter. Er schritt nach seinem Arbeitszimmer und wandte den Kopf nicht nach ihr, als er sagte. „Ich bitte, daß meine Frau heute abend nicht mehr gestört wird.“

Sie sah ihm stumm nach, dann ging sie in ihre Schlafstube; es war ihr nicht möglich, Tante Riekchen „Gute Nacht“ zu wünschen, nicht möglich, das Lager aufzusuchen. Ihr war, als müßten die engen Wände sie erdrücken, die Luft schien ihr unerträglich heiß. Mit nervöser Hast riß sie das Fenster auf. Dann begann sie im Zimmer auf und ab zu schreiten, ruhelos, mit gerungenen Händen. Von Zeit zu Zeit fuhr sie mechanisch über die schmerzende Stirn, auf der fencht das kurze Haar lag. Es war längst Mitternacht vorbei, als sie das stumme Wandern endlich aufgab.

Sie trug einen Stuhl an ihre Kommode und zog die oberste Lade heraus. Dort lagen sie alle wohlgeordnet, die kleinen Schätze ihrer freudenarmen Jugend. Gedankenlos nahm sie dies oder jenes Pappkästchen in die Hand und musterte den Inhalt. Da waren die geliebten verbotenen Ohrringe, da war die Nadel der Mutter, der kleine Dolch mit dem Mosaikgriff; dort ein paar Gedichtbücher, die hatte ihr Fritz geschenkt zur Konfirmation, endlich ein Buch mit leeren Blättern, das auf braunem Lederdeckel den goldgepreßten Titel „Tagebuch“ zeigte.

Es war eine Weihnachtsgabe Theresens gewesen, eines jener Geschenke, die gedankenlos ausgesucht und nur gegeben werden, weil doch nun einmal etwas geschenkt werden muß; sie hatte es am ersten Feiertag mit den übrigen mehr oder weniger nutzlosen Gaben in die Kommode gelegt, nicht ohne es vorher mit bitterem Lächeln zu betrachten. Was sollten ihr die Blätter, die so leer bleiben würden wie ihr Leben! Was hatte sie aufzuschreiben! Und dann hatte sie doch einmal die Feder eingetaucht und mit der großen kräftigen Schrift, die ihr eigen war, ein paar Worte hineingeschrieben:

„Wie meine Tage vergehen?
Ich will es künden Euch gleich –
Es macht mich kein einziger ärmer,
Und auch kein einziger reich!

Und wißt Ihr, warum ich so trübe,
Warum ich so trotzig mag sein?
Ich hatte viel Durst nach Liebe,
Und niemand schenkte mir ein.

Wohl sah ich im Glase blinken
Des Lebens goldigen Wein,
Sah alle die andern trinken –
Mich aber lud keiner ein.

Nur einmal hat es geschienen,
Als käm’ urplötzlich das Glück –
Es bot mir einer den Becher,
Den vollen, mit freudigem Blick.

Und zaub’risch spielten die Farben
Wohl auf des Kelches Grund –
Fassen wollt’ ich ihn, heben
Und trinken mein Herze gesund.

Doch wie ich mich beugte, zu nippen,
Da brach das Glas in Stück’ –
Und durstig blieben die Lippen
Und ferne blieb das Glück.

Das ist’s, warum ich so träbe,
Warum ich so trotzig mag sein;
Ich wollte nicht Mitleid für Liebe –
Nun bin ich ewig allein!“

Sie lächelte über das Gedicht, aber fast mitleidig, und wunderte sich, daß sie einmal etwas Gereimtes zustande gebracht hatte. Dann kam ihr der Gedanke, wie sie sich schämen müsse, wenn jemals eines anderen Menschen Auge das lese, und ihre Finger zuckten, das Blatt aus dem Buche zu reißen, es zu vernichten. Aber sie ließ die Hand doch wieder sinken – ein Gedanke packte sie, den sie vergebens abzuwehren trachtete. Warum denn, warum wollte sie durchaus das Opferlamm, den Friedensengel spielen? Warum jene Frau zwingen, ihrer Treue eingedenk zu bleiben? Was ging es sie an, wenn Therese sich von ihm trennte, um einem anderen anzugehören? Wurde er dann nicht frei? Und er würde den Schlag überwinden, gewiß! Ein Mann wie er stirbt nicht, wenn er etwas verliert, das ohnehin werthlos für ihn sein mußte. Und selbst wenn er nie von der Treulosigkeit seiner Frau erführe – was konnte ihm fernerhin eine Frau sein, die erst zurückgeführt werden mußte zu ihrer Pflicht, gewaltsam zurückgeführt? Eine glückliche Ehe konnte das nie wieder werden, nie! Er hätte der feinfühlige Mensch nicht sein müssen, der er war, um nicht zu empfinden, daß ein nur mühsam zusammengeflicktes Pflichtgefühl die Frau an seiner Seite hielt! War es also das Schlechteste für ihn, wenn er schonungslos jetzt erkannte, daß er betrogen sei? Hatte sie denn überhaupt das Recht, ihm die Wahrheit zu verschweigen? Die Sorge, ihn vor dem Verlust des Liebsten zu bewahren, Mitleid, Erbarmen, das für sich selbst nichts mehr will, nichts mehr sucht – das alles war heute auf sie eingestürmt, als sie das Tuch für ihr Eigenthum erklärt hatte. Aber war sie dabei nicht eine Thörin gewesen, das Opfer einer überspannten Anwandlung?

Ihr Herz bäumte sich auf gegen die Trostlosigkeit der Zukunft, die nun noch öder, einsamer für sie werden mußte – es raunte ihr allerhand süße hoffnungsselige Träume ins Ohr. Frei würde er sein, ihr würde er eines Tages gehören, und bei Gott, sie wollte ihm die Hände unter die Füße breiten, ihn alles vergessen machen, ihm alles verzeihen und sein Kind, das –

Ach, das Kind!

[843] Das Kind sollte seine Mutter verlieren?

Und was für eine Mutter! sagte das rebellische Herz.

Aber sie war doch seine Mutter, und so ganz verkümmert konnte Theresens Seele doch nicht sein, daß sie nicht einst um des Sohnes willen die Stunde segnen würde, in der sie ihrem Lieblingstraum entsagt hatte, um bei dem Gatten zu bleiben. –

Und Julia hob den Kopf, und die heißen trockenen Augen sahen entschlossen in dem kleinen Raume umher.

Was wird aus Dir? fragte die verlockende Stimme.

Sie wußte es nicht. Sie hatte schon so vieles ertragen, warum nicht auch das noch, daß man sie für eine leichtsinnige, ehrvergessene Person hielt? – Doch nein, das würde sie nicht ertragen, seine Verachtung nie! Es wäre am besten, wenn sie sterben würde! In diesem Falle wäre es doch keine Feigheit, gewiß nicht!

O, das schöne Leben, die goldene Jugend! Wieviele Jahre lagen noch vor ihr, und wenn sie hinausginge, auf freien Füßen, irgendwo in der Welt mußte sie doch einen Platz finden, wo es Ruhe für sie gab, wo sie athmen konnte und die Sonne sehen und die schöne, schöne Welt!

Da – was war das? Droben über ihrem Zimmer wurde eine Thür heftig zugeschlagen, und nun war deutlich die weinende Stimme Theresens vernehmbar. Jetzt wohlbekannte Tritte durch den Flur herunter, das Knarren einer Thür – Fritz war in seine Studierstube gegangen. Was mochte das bedeuten? Sollte Therese – – Julias Glieder waren plötzlich schwer wie Blei; sie stand unbeweglich und lauschte. Das Schluchzen droben ward immer heftiger, jetzt unterschied sie auch die Stimme der alten Kinderfrau.

Julia war auf einmal entschlossen, wandte sich kurz um und ging hinauf. Im ganzen Hause war tiefe nächtliche Stille. Die Lampe im Flur brannte, sie wurde immer erst des Morgens ausgelöscht; Fritz wünschte dies so, für den Fall, daß er nachts zu einem Kranken gerufen würde. Julia stieg die Treppe empor; auf der obersten Stufe saß die schwarze Hauskatze und blinzelte sie verschlafen an; die alte Dielenuhr schlug drei Uhr, als Julia vorüberging.

Die Schmerzenslaute Theresens klangen jetzt ganz deutlich heraus, unangenehm wie die eines verwöhnten Kindes, das seinen Willen nicht durchsetzen kann. Julia nahm ihren Weg durch die Kinderstube. Im Schimmer der Nachtlampe sah sie das goldige Köpfchen des kleinen schlummernden Buben in den weißen Kissen und das leere Bett seiner Wärterin. Die Thür nach dem Schlafzimmer Theresens stand angelehnt, und die Stimme der alten Frau sagte gerade: „Aber, Frau Doktor, so beruhigen Sie sich doch nur und trinken Sie das Wasser! Was nutzt denn so ein Weinen? Sie werden sich nur krank machen.“

Julia ging ohne weiteres hinein. „Was ist Dir denn Therese?“ fragte sie, an das Bett der jungen Frau tretend, die ganz aufgelöst in Thränen schien und wie eine Verzweifelnde die Hände rang.

„Na, Gott sei Dank, Fräulein, daß Sie kommen!“ brummte jetzt die alte Frau, setzte das Zuckerwasser auf die Platte des Betttischchens und verschwand in ihrer Kinderstube.

Therese war emporgefahren und starrte Julia an.

„Ich hörte Dein Weinen unten,“ sagte diese, indem sie vorsichtig die Thür hinter der Alten schloß. „Was ist Dir? Bist Du krank?“

„Nein, aber ich werd’s schon werden nach dieser Behandlung!“ stieß Therese hervor und zupfte an den Spitzen, mit denen die blaue seidene Bettdecke besetzt war.

„Wer hat Dich denn so schlecht behandelt?“

„Wer? Lächerlich! Fritz natürlich! Wenn man sich nicht alles gefallen läßt, so ist man eben ungezogen, kindisch! Und ich habe weiter nichts gesagt als das: Warum er so ewig lange zu schreiben habe – er kam wieder einmal erst vor einer halben Stunde. Und da“ – sie begann wieder zu schluchzen – „da gab ein Wort das andere, und da hab’ ich schließlich gesagt – –-“

Die junge Frau verstummte und ein trotziger entschlossener Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

„Da hast Du gesagt,“ sprach Julia sehr langsam, „es wäre das Beste, Du würdest Dich von ihm trennen und den Lieutenant Adami heirathen.“

Therese sah die Sprecherin an, als stände ein entsetzliches Gespenst vor ihrem Lager. „Was willst Du damit sagen?“ stieß sie hervor.

„Nichts weiter als das, was Du seit heute nachmittag bestimmt weißt und worauf Du schon seit Wochen hinarbeitest. Nur fängst Du das jammervoll kleinlich an,“ fuhr sie fort. „Mit solch erbärmlichen Plänkeleien den Mann, der Dich mit seiner ganzen Seele liebt, soweit bringen zu wollen, daß er in eine Scheidung willigt, ist grausam, sinnlos. Hast Du nicht den Muth, es ihm ruhig zu sagen? Du hattest doch den Muth, mit Frieder bereits alles zu bereden!“

Therese war wie ohnmächtig zurückgesunken. „Wer hat Dir das verrathen?“

„Der Zufall – und Frieder bestätigte es.“

Es war jetzt ganz still im Zimmer. Julias Augen irrten durch das trauliche Gemach; dann heftete sie ihren Blick wieder auf die Frau, die unbeweglich dalag und sie mit angstvollen verstörten Augen anstarrte.

„Willst Du mich anhören?“ fragte Julia, ohne ihre Stellung am Fuße des Bettes zu verlassen; sie stützte nur leicht ihren Arm gegen den dunklen Nußbaumknauf. „Ich möchte Dich bitten Therese – –“

„Mach’ mir keine Vorwürfe,“ unterbrach die junge Frau sie heftig, „ich kann nichts dafür, daß ich den Frieder liebe – Du verstehst das freilich nicht – Du nicht.“

„Ich verstehe es nicht, nein! Das heißt, ich verstand es einst, daß Du den Frieder liebtest – –“

„Ihr habt ja alle nicht gewollt, daß ich ihn heirathen sollte,“ murmelte sie.

„Das ist nicht wahr!“ antwortete Julia fest.

„Nicht wahr? Mein Vater drohte mir sogar mit Enterbung, und Du – weigertest Dich, mir zu helfen.“

„Ehrliche, standhafte Neigung hätte Deinen Vater bezwungen – –“

„Lächerlich! Du hast gut reden – aber jung wie ich damals war . . .“

„Das ist keine Entschuldigung für Dein Verhalten. Und jedenfalls – Du hast den Fritz genommen und wirst ihn auch behalten, Therese.“

„Nein! Ich kann nicht, ich liebe ihn nicht mehr! Ich bitte Dich, verlasse mich! Du hast nie ein Herz für mich gehabt und fühlst nicht mit mir, willst es nicht! Geh’, bitte, geh’!“

„Nicht eher, als bis Du mir versprichst, an Frieder zu schreiben, daß er sofort abreise!“

„Nein! Nein!“

„Aber kannst Du denn überhaupt einen Athemzug thun in der zweifelhaften Stellung, in der Du Dich befindest?“ rief Julia außer sich. „Also entweder schreibst Du jetzt an Frieder und machst dieser Thorheit für immer ein Ende – oder aber Du sagst Fritz morgen alles wahr und offen!“

„Niemals – ich fürchte mich!“ stieß Therese hervor, und die Zähne schlugen ihr zusammen.

„Dann werde ich zu Deinem Vater gehen.“

„Das wirst Du nicht thun! Was geht Dich die Sache an? Mit welchem Rechte spielst Du Dich als Sittenrichterin über mich auf, Du, die Du selbst nicht besser bist!“

Julia sah die junge Frau hilflos an. „Ich?“ sagte sie.

„Ja, Du! Oder denkst Du, ich weiß nicht, daß Du Fritz leidenschaftlich liebst? Daß Du ihn mir nie gegönnt hast?“

Eine fahle Blässe legte sich auf Julias Gesicht.

Wieder eine Pause. Aus dem Nebenzimwer tönte das weinerliche Stimmchen des Kleinen herüber.

„Therese,“ sagte Julia, und herzustürzend kniete sie am Bette nieder. „Hör’ doch – an Dein Kind hast Du nicht gedacht, an Dein Kind, das Ihr beide liebt!“

Da warf sich die junge Frau ungestüm zur Seite. „O, ich wollte, es wäre nie geboren!“ schrie sie auf.

„Du versündigst Dich, Therese –“

„Es mag sein; es mag auch sein, daß ich schlecht bin, aber ich kann, ich will nicht anders.“

„Und Dein alter Vater?“

„Mein Vater?“ Und Therese lachte höhnisch auf. „Mein Vater, der ist verliebter in Deinen Bruder als ich – hast Du das noch nicht bemerkt?“

„Ja, er hat ihn gern; aber wüßte er, daß er einem Betrüger Gastfreundschaft gewährt –“

„Einem Betrüger? Wir betrügen keinen! Wenn Fritz nicht so grenzenlos von sich eingenommen wäre – seit Monaten hätte er es merken müssen, daß ich ihn nicht mehr liebe.“

Julia rang nach Fassung. „Noch einmal, Therese, willst Du Frieder schreiben, daß er reise?“

[846] „Nein, kein Wort! Und als Mann von Ehre würde er auch gar nicht gehen. Glaubst Du, daß er mich jetzt in dieser Lage allein läßt? Die Bitte wäre vergebens. – Aber sei beruhigt; ich kehre in das Haus meines Vaters zurück, und alles wird sich in Frieden ordnen lassen – nur quäle mich jetzt nicht länger! Uebrigens,“ setzte sie hinzu, „die Sache muß bald ihren Abschluß finden, damit es sich entscheiden kann, ob Frieder wieder Soldat wird oder ob wir auf Reisen gehen, je nachdem – –“

„So will ich morgen früh noch einmal zu Frieder hinüber,“ unterbrach Julia. „Ein Funke von Besonnenheit wird ja noch in ihm sein und von Rücksicht auf das Haus, dessen Gastfreundschaft er genießt.“

Therese zuckte die Schultern und lehnte sich in die Kissen zurück. An der Thür zögerte Julia und blickte noch einmal hinüber zu der verblendeten Frau, aber die hielt die verweinten Augen fest geschlossen, und die Hände lagen zur Faust geballt auf der Decke. Da schloß sie wortlos die Thür.

„O, Du armer Bub’!“ flüsterte das Mädchen, im Kinderzimmer über das Bett des Knaben gebeugt, und aus den Kissen heraus schluchzte die Wärterin. „Ach, Fräuleinchen, wenn eines so muthwillig sein Glück zerschlagen will – – Sie glauben’s nicht, was der Herr die Zeit her ausgestanden und welche Engelsgeduld er gehabt hat mit der Frau.“

„Sie ist krank, Doris, es wird wohl wieder anders!“

„Ja, ja – wenn sie ihren Willen kriegt, sonst nicht!“ –

Julia ging hinunter in ihr Zimmer, aber sie wußte nicht, was beginnen. Schlafen? Ihre Nerven waren überreizt, sie hätte es nicht vermocht. Sie begann Toilette zu machen; das kühle Wasser that ihren heißen Wangen gut, die noch brannten von der Unterredung mit Therese. Wie gräßlich war diese Welt! An was konnte man denn noch glauben, wenn nicht mehr an die Treue der Frau, an die Liebe der Mutter?

Sie war ans Fenster getreten und schaute über die Gärten weg, die im Nebel lagen. Nichts vom Strome und von der Aue war zu sehen, nur ein bläuliches Dunstmeer, das alles verbarg. Was würde der Tag heute bringen? Noch lag er verschleiert. Aber wenn der Abend sinkt – wer weiß, wie anders es dann hier ist. –

Im Studierzimmer saß bei der erlöschenden Lampe, deren gelblichrother Schein sich mit dem fahlen Morgenlicht mischte, der Doktor, vor sich die Hefte, darin er geschrieben, die Feder noch in der Hand.

Er dachte an ganz anderes als an die wissenschaftliche Frage, über die er vorhin geschrieben hatte und über die er auf dem nächsten ärztlichen Kongreß reden wollte. Was war mit Therese vorgegangen? Das war kein Eigensinn und keine Laune mehr, das war ein ernstliches Nervenleiden, und baldige Abhilfe that noth! – Wo war sein goldenes Glück geblieben? Die reizenden Stunden droben in ihrem kleinen Boudoir, die jauchzende Freude von Mutter und Kind, daran er sich nicht satt sehen konnte? Er grübelte. Wann hatte er nur die ersten Anzeichen ihrer veränderten Stimmung bemerkt? Und dann tauchte ein blasses schönes Antlitz vor seinem Auge auf, ein paar blitzender dunkler Augen – Julia. Er schüttelt unmuthig den Kopf und greift zur Feder, ein Gemisch von Verachtung und schmerzlichem Mitleid überkommt ihn.

Wohin mit ihr?

Läßt man sie hier? Aber man weiß ja nicht, welcher Art ihre Beziehungen sind – wer soll sie hüten? Die alte gelähmte Tante? Die strenge, dem Mädchen gegenüber allzustrenge Mutter?

Ja, das kommt davon – sie ist nicht besser als ein Dienstmädchen gehalten worden; sie hat keinerlei Vergnügen beanspruchen dürfen wie andere junge Mädchen ihres Alters, nun rächt sich’s. Und doch – es kann ja nicht möglich sein! Ihre Züge können so nicht täuschen!

„Ach, was hat man für Noth mit dem Weibervolk!“ sagte er laut, als wollte er versuchen, sich mit einem Scherz aus seinen trübseligen Gedanken zu reißen. „Die eine krank, die andere – noch schlimmer!“

Und er erhob sich mit den schweren Gliedern eines Menschen, der die Nacht anstatt im Bett auf einem Stuhle verbracht hat, schob die Papiere zusammen und schickte sich an, hinaufzugehen.

Im Flure stand seine Mutter mit verärgertem Gesicht, das graue Morgenkleid flüchtig zugeknöpft, die Haube mit den lila Bändern schief auf dem lässig gekämmten Haare.

„Nun ist’s aber doch an der Zeit, Fritz, daß Du mit Julias Vormund redest, und wenn Du es nicht thust, werde ich hingehen. Heute früh, wie die Mädchen aufstehen, ist die Hausthür nach dem Garten unverschlossen und das Zimmer von Fräulein Julia leer. Haältst Du sie abends fest, so läuft sie des Morgens davon – ums Himmelswillen, wer hätte das gedacht!“

Er sah traurig überrascht aus. Da erblickte er in der Hand der Mutter zusammengeknüllt das unselige Tuch von gestern.

Sie bemerkte seinen fragenden Blick. „Das hab’ ich eben aufgehoben, dort an der Treppe hat’s gelegen,“ fuhr sie empört fort. „So geht die Julia mit den Sachen um. Und wenn’s noch ihr Tuch wär’, aber das hatte ihr die Therese geborgt aus Gnad’ und Barmherzigkeit, und –“

„Das Tuch gehört Therese?“ fragte er.

„Ja wohl!“ ertönte von oben die Stimme der Jungfer Theresens, und die robuste Blondine kam die Treppe herunter und streckte die Hand nach dem Tuch aus. „Frau Doktor haben’s gestern abend schon vermißt und haben gesagt, ich sollt’ es suchen.“

„Das Tuch gehört meiner Frau?“

„Ja, Herr Doktor, das Fräulein hat’s nur einmal an dem Abend getragen, als der Herr Lieutenant in der ‚Traube‘ geredet hat. Am andern Tage hat sie’s schon wiedergebracht, und nun –“

„Wann hat meine Frau das Tuch verloren?“ Die Stimme des Mannes klang so tonlos, daß die alte Dame ihn verwundert ansah.

„Ich weiß nicht,“ berichtete das Mädchen; „aber ich meine, gestern abend hat’s die gnädige Frau noch umgehabt, als sie in den Garten gegangen ist.“

„Es ist gut, ich selbst will das Tuch meiner Frau geben.“

Er nahm es und that ein paar Schritte der Treppe zu, drehte sich dann unschlüssig wieder um und endlich stieg er doch hinauf. Der Räthin war es, als strauchle er, und sie sah, wie er tastend nach dem Geländer griff.

Therese lag noch im Bett; das Zimmer roch nach Eau de Cologne und Aether. Mit schweren Schritten kam Fritz herein, ging zum Fenster und riß die Vorhänge auseinander, daß das Tageslicht hereinströmte. Und nun wandte er sich zu der jungen Frau, und seine Hand hielt ihr das Tuch entgegen, aber sie zitterte, diese Hand.

„Ist dies Dein Tuch. Therese?“

„Weshalb denn?“ fragte sie. „Warum?“

„Ist dies Dein Tuch, Therese?“

„Ja!“

„Und seit wann vermißt Du es?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich glaube, seit gestern,“ antwortete sie gleichgültig. Dann erweiterten sich ihre Augen schreckhaft. „Um Gotteswillen, Fritz!“ stieß sie hervor – das war der Blick, der ihr schon einmal ein Grauen eingejagt hatte!

„Besinne Dich,“ sagte er, „Du wirst mir nachher genau erzählen, wo Du das Tuch verloren hast. Ich komme wieder, wenn ich ruhiger geworden bin.“

Und das Tuch auf einen Tisch schleudernd, verließ er das Zimmer. Drunten im Flure suchte er nach Stock und Hut, und dann schritt er durch die Gassen auf die Landstraße hinaus. Rechts bog ein Feldweg ab, von kahlen Obstbäumen umsäumt; in diesen lenkte er ein. Er riß im Gehen den Hut vom Kopfe und ließ sich den Februarwind um die Stirn wehen, immer weiter wandernd – immer weiter. Und vor seinen Augen flatterte es wie ein weißes goldumsäumtes Tuch, vor seinen Augen stand der Platz, an dem er es gefunden – das kleine halbfinstere Gemach mit dem altmodischen Sofa, so weltentrückt, so heimlich wie möglich. und da, vor dem Sofa, hatte das Tuch gelegen! Und nun kamen sie, die Erinnerungen, und schlangen Glied um Glied zu einer unheilvollen Kette.

War er denn blind und taub gewesen? Alles, alles fiel ihm ein. Da war er einmal rasch in das Eßzimmer getreten, und da hatte sich der Frieder just mit möglichster Gelassenheit von seinen Knien erhoben und gesagt, er könne das Zwirnknäuel nicht finden .... ja, ja, der Frieder – der Frieder!

Der Doktor war wie ein Toller gelaufen; er stand plötzlich am Eingang eines kleinen Dorfes, in dem er eine Schwerkranke hatte. – Mochte sie sterben und verderben! –

Er wandte wieder um. Da rannte ihm ein Kind nach, ein Bübchen mit blondem Haar und blauen Augen. „Herr Doktor, [847] Du sollst doch hereinkommen zur Mutter,“ bat es, ihn am Rock fassend. Und der Mann starrte das Kind an und ging hinter ihm her in das kleine Haus. Er hatte an seinen Buben denken müssen.

Als er wieder hinaustrat, schlug er den kürzesten Weg nach Hause ein. Das Kind! Ja freilich, das arme Kind! Und es stieg ihm feucht in den Augen auf.

Er befand sich in kürzester Frist wieder in der Stadt, und wäre er nicht von seinen eigenen Gedanken so hingenommen gewesen, er würde bemerkt haben, daß ihn die Leute groß anstarrten und daß die Frauen in den kleinen Bürgerhäusern klirrend die Fenster hinter ihm aufrissen. – Aus einem Fischerhause am Rhein trat ein alter Mann heraus. Er triefte vor Nässe und sein weißes Haar war ohne Bedeckung. Als er des Doktors ansichtig ward, stand er erst verlegen still, dann kam er näher.

„Herr Doktor,“ sagte er stockend, „ich glaube, daheim werden Sie erwartet.“

„Ich? Bei mir zu Hause?“

„Ja, Herr Doktor; man hat Sie überall gesucht, weil – aber erschrecken Sie nicht, Herr Doktor, ich mein’, es ist eines von Ihren Leuten krank geworden.“

Der Doktor griff mechanisch an den Hut und eilte heimwärts, eine tödliche Angst im Herzen. Da hörte er, wie eine alte Frau sagte. „O Gott! Ich möchte der auch nicht sein, der ihm das verkünden muß!“ – Was war geschehen? Hatte Therese . . .?

In wenigen Sekunden hatte er sein Haus erreicht. Wohin sich wenden? Von der Hinterthüre her zogen sich nasse Spuren über die Treppe in den ersten Stock. Also droben . . .

An der Mündung der Treppe stand sein Schwiegervater. Der alte Mann faßte krampfhaft den Arm des Heraufstürmenden. Man sah, er wollte sprechen, aber er konnte nicht; die Thränen rannen ihm über die Wangen. „Im Salon,“ stieß er endlich hervor und winkte mit der Hand. „Geh’ nicht zu hart mit ihr ins Gericht, sie ist gräßlich bestraft.“

Inmitten des reichen, blau dekorierten Gemaches hatte man das Bett des Kindes hingestellt, daneben einen Tisch mit Kissen und Tüchern. Der Mann schwankte plötzlich und stützte sich stöhnend auf das Gitter des Bettchens.

„Du bist es?“ schrie er auf und riß den kleinen starren Körper empor, „Du – Du mußt es sein?“

Auf der anderen Seite des Bettes, die Hände in das halb aufgelöste Haar gekrallt, lag eine bebende schluchzende Frau. „Fritz, vergieb, vergieb!“

Er sah sie nicht an, noch immer hielt er das Kind im Arme, mit bleichem Gesicht nach einem Lebenszeichen suchend. Umsonst! Das kleine Herz hatte für immer aufgehört, zu schlagen!

Stumm legte er den Toten auf das Lager zurück, raffte ein Tuch vom Dache, deckte es über das stumme kalte Gesichtchen und verließ das Zimmer. Hinter ihm blieb es ganz still.

Drunten schloß er sich in seine Studierstube ein und warf sich dann mit einem dumpfen Stöhnen auf das Sofa. Stundenlang lag er so, ohne sich zu rühren, ohne zu denken, ohne sich auch nur zu fragen, wie das Entsetzliche habe geschehen können. Man pochte an die Thüre – er gab keine Antwort.

Endlich am späten Abend kam seine Mutter und rief mit zitternder Stimme: „Fritz, Fritz – komm zu Julia, sie braucht Deine Hilfe!“

Die alte Frau fuhr förmlich zurück, als ihr Sohn öffnete und sie die Verstörung in seinem Gesicht sah. „Gott im Himmel, Fritz,“ schluchzte sie, „Fritz, nimm Deinen Verstand zusammen, denke doch an Deine alte Mutter!“

„Was ist’s mit Julia?“ fragte er hart.

„Lieber Gott, sie hat ja doch das Würmchen retten wollen und ist selbst beinah’ ertrunken! Vorhin war sie bei Besinnung, aber jetzt liegt sie wieder so starr da!“

Er fuhr mit der Hand an die Stirn, dann ging er in das Stübchen des Mädchens. Die alte Dame schloß die Thür hinter ihm, und er trat allein an das Bett. Auf der Kommode flackerte eine Kerze und beleuchtete das blasse Mädchengesicht, das mit einem unheimlich starren Ausdruck in den Kissen ruhte.

„Julia!“ sagte er leise. Da schlug sie die Augen auf und erkannte ihn.

„Fritz!“ Und sie streckte ihm die Hände entgegen. „Fritz, ich wär’ so gern an seiner Statt gestorben.“ Und jahrelanges Leid brach sich Bahn in dem heißen Schluchzen, das nun folgte.

Er vermochte nicht zu sprechen, aber er bückte sich und zog ihre Hand an seine Lippen.

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„Ja, siehst Du, Fritz,“ sagte die Räthin eine halbe Stunde später zu ihrem Sohn, als die alte Doris „ihren Bub’“ in den kleinen Sarg gelegt hatte, „siehst Du, Fritz, sie hatte das Kind an der Hand, ich traf sie noch an der Treppe und fragte: ‚Therese, willst Du das Kind bei dem Winde mit hinausnehmen?‘ ‚Nur bis zu Papa,‘ antwortete sie mir. Und da beruhige ich mich denn und gehe in die Küche und sehe noch, wie sie den Mittelweg so hastig dahinläuft, daß das Kerlchen ihr kaum folgen kann. Und dann habe ich noch einmal das rothe Mützchen hinter dem Strauchwerk schimmern sehen, aber an weiter nichts gedacht. Auf einmal hör’ ich das Julchen schreien und sehe sie hinausrasen den Weg entlang, und wie ich alte Frau dahinter herkomme, da liegt das Julchen im Wasser, und ich sehe das rothe Mützchen des Buben schwimmen und die Leute in einem Nachen herankommen. Und das Julchen ist ganz verschwunden gewesen, und endlich hat sie’s heraufgebracht, das Kind, und wie sie’s ihr abgenommen hatten, da ist sie noch einmal verschwunden und dann wieder aufgetaucht, und da hat sie nach der Stange gestoßen, nach der sie hätte greifen sollen, und der alte Fischer sagte, sie hätte sich um keinen Preis retten lassen wollen, und ganz wie tot haben sie sie hereingetragen. Und den alten Onkel Doktor und den neuen Kollegen, die hatten wir gleich, aber Du warst nicht zu finden. Freilich – es hätte ja auch nicht geholfen bei unserem Engelchen.“

„Willst Du denn nicht zu Therese hinaufgehen?“ fragte sie dann. „Gott im Himmel, sie ist ja schuld daran, denn sie hatte es ganz vergessen, daß sie den Buben mitgenommen, und da ist das kleine Dingelchen allein an den Rhein gepaddelt – aber denke doch, wie nöthig sie ein bißchen Trost hat!“

„Laß, Mutter,“ sagte er, „meinen Trost braucht sie nicht.“

Da band sie sich ein schwarzes Tuch über das Kleid und ging selbst hinauf zu ihrer Schwiegertochter. Aber als sie ein Zimmer nach dem andern öffnete, da war es überall leer, unheimlich leer und still.

„Wo ist die Frau Doktor?“ fragte sie endlich mit klopfendem Herzen in die Küche hinein, wo die Mädchen müßig saßen mit verstörten Gesichtern.

„Drüben bei ihrem Vater,“ antwortete die Köchin.

Die alte Frau ging in die Villa hinüber. Therese war in ihrem Mädchenzimmer; sie wolle niemand sehen hieß es, Herr Krautner aber lasse bitten. Die Räthin trat bei dem alten Herrn ein. Erschreckt sahen sich die beiden an. „Um Gotteswillen, ist’s noch nicht genug an einem Unglück?“ fragte die Räthin, in banger Ahnung das unheilverkündende Gesicht des Alten betrachtend.

Dieser wandte sich kurz um, und da er nicht sprechen konnte, begann er zu pfeifen. Endlich trat er wieder vor die Frau.

„Damals, als mein Hannchen gestorben ist, Frau Nachbarin, da hab’ ich gemeint, etwas Schlimmeres könnt’s nicht geben. Heute weiß ich, daß das ein kleiner Schmerz gewesen ist, gar kein Vergleich zu dem, der mein Herz jetzt zerreißt. Es trifft auch Sie. Meine Tochter – Gott weiß, wie sie so geworden – ist heute morgen zu mir gekommen und hat gesagt, sie will fort vom Fritz – – Sonst habe ich schelten können und zanken, heut’ aber ist mir’s so gewesen, daß ich keine Silbe gefunden habe. Und wie sie gesagt hat, daß sie den Frieder Adami liebt und ihn nach der Scheidung heirathen will, da habe ich erst recht nichts sagen können; nur inwendig, da habe ich mich angeklagt und mich einen Esel geheißen, der da meinte, alles gut zu machen, und nicht bedachte, daß man kein Menschenherz auskennt, selbst nicht sein eigen Fleisch und Blut. Und erst zuletzt habe ich gefragt: ‚Und Dein Kind, Therese?‘ Und da ist’s gerade gewesen, wie sie das Bübchen tot aus dem Wasser gefischt haben.“

Die alte Dame war sprachlos in einen Stuhl gesunken. „O mein Bub’! Mein armer Bub’!“ kam es dann langsam von ihren Lippen. Und der alte Mann drückte ihr die Hand und nickte still mit dem grauen Kopf. Endlich sagte er:

„Ich kann nichts dafür, von mir aus ist sie rechtlich gewöhnt, und ich war so glücklich, als sie den braven Mann bekam. Wenn es helfen könnte – wie gerne wollt’ ich mein altes Leben hingeben! Aber, Frau Nachbarin, es giebt einen über uns, welcher die Schicksale lenkt, sagte mein Hannchen immer. – Stillhalten, Frau Nachbarin, stillhalten!“


Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 28, S. 873–876

[873] Bei der Begräbnißfeierlichkeit erschien Therese noch einmal im Hause ihres Mannes; sie hatte den langen Kreppschleier dicht vor das Gesicht gelegt. Der alte Mann, der sie begleitete, war plötzlich zum Greis geworden, seine sonst so stramme Haltung war gebrochen; er suchte sich die entfernteste Ecke des Hausflurs aus, in dem die Feierlichkeit stattfand. Alle Welt wußte ja, alle Welt urtheilte – sein ehrlicher Name schien ihm in den Schmutz getreten.

„Wenn der Bub’ am Leben geblieben wäre,“ murmelte er, „sie hätte sich noch zurückgefunden, und er hätte ihr vergeben – aber so –“ Und er blickte scheu zu dem kleinen Sarg hinüber, der vor Blumen kaum zu sehen war und an dessen beiden Seiten die Leidtragenden standen – er hüben und sie drüben – das tote Glück zwischen ihnen!

Die alte Räthin hatte sich mit blassem starren Gesicht neben die Schwiegertochter gestellt. Sie wollte die Leute mit Gewalt zu dem Glauben bringen, daß all das Gerede müßig sei – das Gerede von einem großen Skandal, wie ihn die Chronik von Andersheim seit Menschengedenken nicht aufzuweisen hatte. Wenn sie neben der jungen Frau stand, dann konnte es ja niemand glauben, sicher nicht!

Der Prediger sprach von gemeinsamem Schmerze, der die Herzen fester verbinde als alle Lust des Lebens – es klang wie Hohn.

In des Doktors bleichem Gesicht zuckte keine Muskel. Es war ihm alles genommen, der Glaube an Gott und an die Menschen, das Vertrauen und – seines Lebens Wonne!

Der Prediger schloß seine Ansprache; der Sarg ward hinausgetragen, [874] und der Zug der Leidtragenden ordnete sich. – Fritz trat zu dem alten schluchzenden Manne. „Komm, Großpapa,“ bat er, „wir gehen zusammen.“

Dann war es mit einem Male still im Hausflur; nur Therese stand noch da, unbeweglich vor dem schwarzen Gestell, das den Sarg getragen, und neben ihr die Räthin.

„Komm mit in meine Stube!“ sagte die alte Frau. Und Therese folgte ihr; sie war wie ohnmächtig. Drinnen setzte sie sich auf die kleine Erhöhung am Fenster und lehnte den Kopf an den Nähtisch, dann griff sie gierig nach dem Glase Wein, das ihr die alte Dame bot.

Als sie getrunken hatte, saß sie stumm, bis der Doktor wiederkam.

Die Mutter trat ihm im Flur entgegen. „Fritz, sie ist noch da drinnen, wollt Ihr Euch nicht versöhnen?“

Er sah die alte Frau an von oben bis unten. „Nein!“ war die kurze Antwort, dann ging er in sein Zimmer.

Die Räthin kehrte zu Therese zurück. „Fritz ist da – willst Du nicht hinübergehen zu ihm?“

Therese erhob sich.

„Du bist die Schuldige, vergiß das nicht, wenn Du vor ihm stehst!“

Aber Therese antwortete nicht. Sie hielt den Schleier unter dem Kinn zusammen und ging hinaus.

Die Räthin lauschte, aber sie hörte keine Thüre gehen. Und als sie den Kopf hinaussteckte, da sah sie eben die schwarze Wollschleppe von Theresens Trauerkleid über die Schwelle des Hauses gleiten. Die Schwiegertochter war gegangen, ohne einen Versuch zur Aussöhnung zu machen.

Voll Verzweiflung lief die Räthin in das Zimmer ihres Sohnes hinüber. Er saß in der Ecke des Sofas, den Kopf in die Linke gestützt, und sah wie abwesend zu ihr empor.

„Du hättest wohl das erste Wort reden können,“ schluchzte sie. „Du weißt, Therese ist ein verzogen Kind. Nun ist sie fort, und Ihr werdet Euch nicht wieder versöhnen.“

Er schüttelte unwillig den Kopf. „Sprich nicht davon,“ sagte er, „bitte, laß mich allein!“

„Ach, Du bist gewiß recht barsch mit ihr gewesen! Gelt, sie hat doch eigentlich noch nichts Böses gethan – der Frieder war eben einmal ihr Schatz; sie wäre gewiß wieder zur Vernunft gekommen –“

„Ich bitte Dich – laß mich!“ stöhnte er.

Da ging sie weinend. Sie hatte zum Guten reden wollen – –

Im Vorzimmer stand Luischen mit einem Briefe. „An den Herrn Doktor,“ sagte sie. Die Mutter kehrte noch einmal um und trug ihm das Schreiben hinein. Fritz erbrach es, als die alte Frau gegangen war. Es war ein Brief von Adami: er stehe zur Verfügung und erwarte weitere Nachricht.

Fritz zuckte die Achseln und lachte kurz auf. Dann versank er wieder in sein Brüten. Die Ehre verlangte es, daß er sich mit dem Verderber seines Glückes schlug – gut, er würde nicht fehlen, Ordnung mußte sein! Aber es war ihm grenzenlos gleichgültig, ob der Mensch, der sein Feind gewesen von Kindesbeinen an, am Leben blieb oder nicht; ob er dies Leben mit der theilte, die sich von ihrem Manne gewandt, oder nicht. Was ging ihn das alles noch an? Nicht eine Spur des leidenschaftlichen Verlangens, den Räuber seines Weibes zu züchtigen, wie es ihn noch gestern durchtobte, rührte sich mehr in ihm. Seit jenem Augenblick, wo die Erdschollen auf den kleinen Sarg rollten, war alles still und tot in ihm, nur der verzehrende Schmerz lebte um den verlorenen Liebling.

Das Dasein lag vor seinen Augen wie eine öde Schneefläche im Dämmerlicht; und auf dieser sollte er wandern, sollte er allein wandern ohne Ziel, ohne Zweck – grauenvoll!

Er stöhnte auf wie ein zum Tode getroffenes Thier, und als draußen die Schelle klang, verriegelte er seine Thür. Was gingen ihn noch die Leute an, die seine Hilfe begehrten? Ihm half ja auch keiner – mochten sie klopfen, klopfen – –

Und endlich neigte sich der Tag, die Dämmerung füllte allmählich die Winkel des Zimmers – er saß noch immer da. Plötzlich schreckte er empor, er hatte so deutlich ein süßes Stimmchen „Papa!“ jauchzen hören.

Ach, der trostlosen Täuschung! Der kleine rothe Mund war verstummt für immer, es gab kein Spiel mehr im Hause, kein helles Jubeln, keinen trauten Wiegengesang. und droben die Stätte des Glückes, der Liebe, des friedlichen Lebens zu Zweien lag leer und verlassen – nur ekler Nachgeschmack war geblieben nach all dem Süßen. O, wäre doch etwas da auf der Welt, an das er sich noch zu halten vermöchte! Aber was hatte er noch? Die Mutter zürnte ihm, daß er nicht „fünfe gerade sein“ ließ, um ein Leben des Scheines weiter zu schleppen – selbst der Hund war Therese nachgelaufen.

Da tastete es draußen an der Thür, dann ein schüchternes Klopfen und eine matte, aber unendlich weiche Stimme: „Fritz, willst Du nicht zu Tisch kommen? Es wäre doch gut, wenn Du etwas essen möchtest.“

„Julia!“ murmelte er, und aufstehend öffnete er die Thür.




Drei Jahre sind vergangen, drei wunderlich stille Jahre. Droben in dem alten Hause sind die Läden geschlossen, und die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen lugen, sehen leere Räume. Auf dem Parkett liegt der Staub. Der Garten ist schattiger geworden, denn die Boskette und die Reben dürfen nicht verschnitten werden – der Doktor Roettger will den Strom nicht mehr sehen; er hat auch noch nie wieder den Garten betreten. Wo früher die Verbindungsthür hinüber zu dem Krautnerschen Grundstück war, breitet ein Pfirsichbaum seine Aeste in Spalierform über das neue Mauerwerk, und hoch sind die Akazien aufgeschossen, die längs der Mauer angepflanzt wurden.

Im Hause ist’s sehr still. Fräulein Riekchen wurde in voriger Woche begraben, ihr Fahrstuhl steht nun oben auf dem Boden neben dem ersten kleinen Gitterbettchen „Bubi’s“, und Julia hat eine Decke darüber gebreitet.

Es ist wieder einmal Mai geworden, ein wonniger, sonniger Maitag. Die Fenster in Tante Riekchens Stube sind weit geöffnet, und Julia steht da und liest die Briefe auseinander, die sie auf Wunsch der alten Dame verbrennen soll. Auch der Brief liegt dort, der eine halbe Stunde vor ihrem Tode eintraf und den Poststempel „Rom“ trägt.

„Liebe Tante,“ schreibt Frieder, „meine Frau ist seit einigen Tagen aus Deutschland zurückgekehrt. Es thut ihr leid, Dich nicht gesehen zu haben, aber wie die Verhältnisse liegen, war es ja unmöglich, Dich zu begrüßen. Herr Krautner ist unversöhnt mit uns aus der Welt gegangen und hat uns unliebsam überrascht durch sein Testament; er hat einen Neffen, von dessen Dasein Therese kaum eine Ahnung besaß, zum Miterben eingesetzt, und zwar so, daß er der Bevorzugte ist. Nun werden wir unser herrliches ungebundenes Leben einschränken müssen. Ein Glück, daß wir keine Kinder haben!

Therese gefällt es nicht besonders in Rom; sie will einen anderen Platz suchen. Die italienischen Städte haben wir so ziemlich alle durchprobiert, nun gehen wir noch nach Florenz, nach Deutschland mag sie nicht wieder zurückkehren.

Es thut mir leid, daß der alte Mann sich so unversöhnlich gezeigt hat; ehrlich gestanden, ich bin außer mir! Gern hätte ich Dir den Abend Deines Lebens durch Ueberweisung einer kleinen Rente verschönert, aber nun ist’s unmöglich. Als Therese nach Eisenach kam – sie war Tag und Nacht gereist – fand sie den Miterben bereits in der Villa vor, die sich der alte Herr am Fuße der Wartburg erbaut hatte. Ein junger bildschöner Mann soll er sein, seines Zeichens Oberförster. Sie scheinen sich leidlich verständigt zu haben, die beiden.

Ich fühle mich sonst unsäglich wohl hier, es ist Heimathluft.

Behüt’ Dich Gott!
Dein treuer Neffe 
Fr. Adami. 

P. S. 0 Ich suchte das Grab meines Vaters, konnte es aber nicht mehr finden. Du siehst, mein Versprechen wollte ich halten.“

Julia legte auch diesen Brief zu den anderen in das bereitstehende Körbchen. Der alten Dame konnte sein Inhalt nicht mehr mitgetheilt werden, Julia ließ er kalt.

Frieder hatte seinen Abschied genommen und Therese geheirathet. Was weiter aus den beiden geworden war, darüber hatte man fast nichts erfahren, denn Tante Riekchen theilte nur wenig mit aus den Briefen, die sie selbst spärlich erhielt. Sie hatte sich nach der Katastrophe damals nicht wieder erholt; sie war stiller und stiller geworden, dann litt ihr Gedächtniß und sie sprach vom Frieder nur noch als von einem Kinde und klagte, daß Fritz und er sich nicht vertragen wollten. Aber für Julia hatte sie [875] eine rührende dankbare Liebe gefaßt. Das schöne stille Mädchen wußte nun, daß sie für Eine nöthig war, daß Eine schon auf ihren Tritt, ihre Stimme lauschte; und unermüdlich schien ihr Streben, der Leidenden zu helfen. Bevor die Kranke für immer entschlief, richtete sie mit jener Klarheit, die noch einmal die scheidende Seele durchleuchtet, die Augen auf das Antlitz ihrer Pflegetochter und ihre Lippen bewegten sich. Julia beugte sich hinunter, und da verstand sie es:

„Hab’ Dank! Gott vergelte Dir Deine Treue!“

Die Hand des weinenden Mädchens in der ihren haltend, schlief Tante Riekchen ein.

Jetzt war auch das vorüber. Julia war frei, frei wie der Vogel, der sich eben da draußen auf dem Zweige des blühenden Apfelbaums wiegte und seinen Gesang erschallen ließ. Nun breitet er die Flügel aus und fliegt davon, hinein in den blauen Himmel, in die lachende blühende Welt.

Auch sie mußte ihre Flügel heben, aber – es würde ein banger, ein zager Flug werden. Hier bleiben konnte sie nicht. Wer wollte sie? Die Räthin dort drüben in ihrer mürrischen Abgeschlossenheit brauchte sie nicht. Und er? Ach, er hatte nur noch Sinn für seine Bücher und seine Kranken! Mit der Regelmäßigkeit einer Uhr ging er früh fort, kehrte er zurück und hielt seine Sprechstunden, und war er damit fertig, dann wartete der Wagen draußen und er machte seine Besuche in der Umgegend, denn er war der gesuchteste Arzt weit und breit geworden seit dem Tod von „Onkel Doktor“ und kaum imstande, seine Praxis zu bewältigen. Die halben Nächte aber verbrachte er am Schreibtisch. Er lebte nur der Pflicht – die Leere des Hauses empfand er nicht mehr, er ging durch die Oede seines Lebens mit sicherem Schritt und unbewegtem Gesicht. Und doch liefen ihm alle Kinder nach, und doch hatten ihn die alten Frauen so gern und sagten, er sei auch ein Arzt für das Herz. Nur hier, hier schienen ihm die Lippen versiegelt, wo die Erinnerung an vergangenes Glück aus allen Winkeln grüßte.

Julia sah traurig umher, ehe sie den alten Schreibtisch wieder verschloß und den Korb nahm, um in der Küche die Briefe den Flammen zu übergeben.

Sie mußte gehen, sie war hier überflüssig!

Gegen Abend kam sie in die Stube zur Frau Räthin. Die alte Dame saß strickend hinter ihren Geraniumtöpfen und schaute auf den stillen Hof. Sie hatte vor einem Weilchen für das Abendessen Spargel gestochen und ruhte nun aus; sie war noch immer flink in der Wirthschaft und ließ sich nichts abnehmen.

„Nach dem Abendbrot will ich auf den Friedhof gehen,“ sagte sie, das Mädchen gewahrend; „falls der Fritz später nach Hause kommt, soll ihm das Luischen frische Spargel kochen. Bist Du fertig mit dem Ordnen der Sachen?“

„Ja, Tante, ganz fertig, und eben wollt’ ich mit Dir sprechen – sieh, Tante Riekchen hat mich zur Erbin ihres kleinen Nachlasses eingesetzt – es war so gut von ihr – –“

„Nun, es war eben ihre Schuldigkeit,“ erklärte die Räthin trocken.

„Aber,“ fuhr Julia fort, „ich muß Dich bitten, Tante, den lieben alten Möbeln hier im Hause ein Plätzchen zu gönnen, denn mitnehmen kann ich sie doch nicht.“

„Mitnehmen? Wohin denn?“

„Mein Gott, Tante, in die Welt hinaus – was soll ich denn hier?“

„Ja freilich, wenn man’s recht überlegt, was sollst Du hier, ’s ist wahr. Na, meinetwegen können sie da stehen bis an der Welt Ende, die Sachen; Platz ist ja genug im Hause. Lieber Gott!“ Sie nahm die eben abgestrickte Nadel und fuhr damit in ihr weißes Haar, und die Brillengläser wurden feucht; sie mußte sie abwischen, ehe sie weiter strickte. „Hab’ nicht gedacht, daß ich ’mal so ein einsam Alter haben würde,“ murmelte sie. „Aber es ist nun so, und recht hast Du, was sollst Du hier! Ich bin noch rüstig. – Na, da wünsch’ ich Dir denn Glück, man kann es Dir auch gönnen. Und noch einmal – was die Sachen anlangt, laß sie nur stehen da drüben, mich geniert’s nicht; und sollt’ der Fritz noch ’mal vernünftig werden, so hat’s ja droben Platz genug für das neue Glück.“

Damit stand sie auf und rief, das Luischen solle das Essen besorgen, denn sie wolle bald gehen. „Wirst doch noch keinen Hunger haben,“ sagte sie zu Julia, „kannst mit Fritz essen, wenn er kommt.“

Und Julia nickte ihr zu und ging hinaus in den Garten, und da saß sie müßig und schaute mit verträumten Augen auf die Sonnenfunken, die rothgolden durch das Geäst des Nußbaumes fielen und auf dem alten Gartentisch tanzten.

Die Räthin kam nach einem Weilchen durch den Mittelweg und schnitt ein paar der eben erblühenden Rosen ab. „Das waren Riekchens Lieblinge,“ sprach sie, auf die halb verwilderten Centifoliensträucher deutend, „ich werd’ ihr die ersten davon mitnehmen.“ Dann wanderte sie hinaus dem Kirchhof zu, und als sie an einer Straßenecke plötzlich den Sohn traf, sagte sie nur: „Ich will zu den Gräbern, Fritz. Iß nur allein zu Nacht! – Ach, und weißt’s schon? Das Julchen will fort, in die Welt hinaus. Nun, wir können sie nicht halten, jetzt, wo das Riekchen tot ist.“

Er stand da und sah die düstere schwarze Gestalt mit den Rosenknospen in der Hand an, sprach aber kein Wort, er nickte ihr nur zerstreut zu und ging weiter durch die belebte Gasse, auf der die Kinder lärmten und die unter den Strahlen der Sonne in goldigen Staub gehüllt schien. Nur noch ein paar Krankenbesuche waren zu machen, aber während er sonst geduldig an den Betten saß, nahm er heute kaum Platz, und seine Mienen drückten Unruhe und Abspannung aus. Er wußte selbst nicht, wie es kam, daß er den kürzesten Weg nach Hause einschlug durch ein Seitengäßchen, das unmittelbar zu dem Strome hinunterführte. Nie mehr war er hier gegangen seit jenem Schreckenstage; heute sah er das blaugrüne herrliche Wasser wie erstaunt an. Die Wellen waren ja längst hinabgeflossen, die ihm das Kind geraubt, in die sich muthig ein junges Leben geworfen, um ihm das Liebste zu retten – konnte er die anderen dafür anklagen, die jetzt krystallrein dahinrauschten und nichts von damals wußten?

Ach, wie weit trug der Blick heute, wie wunderbar weit! Da kam ein Dampfer hergebraust, nun machte er einen großen Bogen und legte seitwärts an der Landungsbrücke an; und dort oben auf dem Verdeck stand eine weibliche Gestalt, groß und schlank, und in ihrer Hand wehte ein weißes Tuch – Abschiedsgrüße? Ihm zitterte plötzlich die Gestalt vor den Augen – wenn es Julia wäre!

Er riß im eiligen Vorwärtsschreiten den Hut vom Kopfe, und das Haar, auf dessen Blond es wie ein leichter Reif schimmerte, streifte die Fliederdolden, die sich so üppig wie nie auf den Garten über den schmalen Pfad neigten. Und als er die Stufen hinaufgehen wollte zu seinem Garten, da lag eine Rosenknospe auf den zerbröckelnden Steinen – die Mutter hatte sie wohl verloren – und er bückte sich und hob sie auf. Ach, Rosenduft! War er denn tot gewesen, jahrelang tot?

Und nun stockte sein Fuß – unter dem Nußbaum saß Julia. Sie blickte zu ihm herüber mit den süßen dunklen Augen, so mild, so schwesterlich geduldig wie all die trübe Zeit her. Und jetzt stand sie auf und kam ihm entgegen.

„Fritz!“ Es war etwas wie Jubel in ihrer Stimme, „Du im Garten? Aber, gelt, es ist ein schöner Abend? Möchtest Du nicht hier draußen essen?“

Er nickte, setzte sich auf die Bank und verfolgte mit wehmüthigen Augen, wie sie den Gang hinaufschritt, rasch und elastisch. Wie würde es sein, wenn dieser Schritt nicht mehr im Hause erklang?

Und auf einmal flog etwas durch die Luft, gerade vor des Mädchens Füße, sie bückte sich und hielt einen bunten Kinderball in der Hand, und gleich darauf tauchte hinter der Mauer des Nachbargartens ein blondes Köpfchen auf und lugte mit sehnsüchtigen Augen herüber. „Fang!“ rief Julia und warf den Ball zurück, und als das Kind lachend der Aufforderung nachkam, da lachte auch sie, und dieser Doppelklang traf des Mannes Herz, daß es aufwachte aus dem langen Schlummer, daß es schwoll vor Sehnsucht nach Glück, nach vollem goldenen Menschenglück.

Nach wenigen Minuten kam Julia zurück mit dem Tischgeräth, sie sah noch lieblicher aus als sonst in der Freude, ihn wieder im Garten zu sehen nach drei langen Jahren.

Er saß da und drehte die Rosenknospe zwischen den Fingern; in seinem Antlitz zuckte und arbeitete es seltsam. Die Speisen die sie ihm bot, rührte er kaum an. Und dann ward es still zwischen ihnen; auch ihr Mund verstummte, sie sah schweigend in die untergehende Sonne.

Plötzlich stand Fritz auf und trat vor Julia hin.

„Julia, die Mutter sagt, Du wollest uns verlassen.“

[876] Sie senkte bejahend den Kopf.

„Warum denn, Julia?“

„Warum? Ich bin so vollständig unnütz hier,“ antwortete sie und lächelte dazu, aber in ihren Augen schimmerten Thränen.

„Unnütz – Du?“ sagte er und faßte ihre Hände. „Ach, Julia, mit dem nämlichen Rechte könntest Du die Sonne am Himmel verlöschen und fragen, was sie denn der Erde nütze.“

Und bewegt bog er sich hernieder und preßte ihre Hände an seine Augen, und als sie verwirrt aufsprang, da zog er sie sanft an sich und schaute ihr bang fragend in das bleiche Antlitz, mit Schrecken die feinen Linien bemerkend, die Gram und Schmerz hineingezeichnet.

„Julia, Du darfst nicht fort – bleib’ bei mir – wenn Du dem blind verbitterten Thoren zu verzeihen vermagst. Julia, was hast Du für mich gethan! Und ich habe nicht einmal gedankt!“

„Sei barmherzig – nur nicht Mitleid für Liebe,“ sagte sie leise.

„Ach!“ Er lachte kurz auf. „Mitleid! Wer von uns beiden ist denn des Mitleids bedürftiger? Von Dir will ich Barmherzigkeit, Mitleid, Geduld – alles – alles. Laß mich nicht allein, Julia, wenn Du nicht willst, daß ich zu Grunde gehe – denn Du allein, Du allein kannst mir den Glauben wiedergeben an Treue und Liebe.“

„Ich?“

„Ja Du, Du allein!“

Sie hob wie träumend den Blick. Drüben jubelten die Kinder beim Ballspiel und draußen rauschte der Rhein und in der Luft wogte der Duft von tausend Blüthen. Endlich der Lenz! Der süße berauschende Lenz!

„Mamsell Unnütz! Mamsell Unnütz!“ lockte der Pirol im Nußbaum.

Da lächelte sie. „Hörst Du es?“ fragte sie leise. „So rief er schon in unserer Jugend.“

„Quäle mich nicht!“ erwiderte er ungeduldig. „Ich weiß es genau in dieser Minute, ich kann ohne Dich nicht leben, Julia. Und Du?“

Da legte sie still die Arme um seinen Hals. Und aus ihren Augen lösten sich zwei klare Tropfen und flossen über die Wangen.

O, welch unnütze Frage! – –

Als die Räthin nach Hause kam und hörte, daß der Herr und Fräulein Julia im Garten gespeist hätten, lenkte sie verwundert ihre Schritte dorthin. Dann stockte ihr Fuß. Unter dem Nußbaum stand – na, sie hätte eher des Himmels Einsturz vermuthet – stand der verbitterte griesgrämige Geselle und hielt das Mädchen, die Mamsell Unnütz, im Arme und küßte sie, und beide schienen die ganze Welt um sich vergessen zu haben.

Sie machte eine kurze Wendung und ging wieder dem Hause zu. „Ja, ja – Wunder und Zeichen geschehen immer noch,“ flüsterte sie. Und in der Stube angelangt, löste sie vor dem Spiegel die schwarzen Bänder ihrer Ausgangshaube, legte sie mit gewohnter Umständlichkeit in die Kommode, stülpte ebenso gelassen die Alltagsmütze auf und band die Schürze vor.

„Na,“ murmelte sie, „bei Licht besehen ist’s die einfachste Lösung. Wäre freilich nicht darauf verfallen – hm. Und wunderbar ist’s doch auch,“ setzte sie hinzu, „wie einem etwas ins Herz hineinwachsen kann, ohne daß man’s merkt. Wie sie da heute sagt, sie will fort, hat mir’s inwendig ordentlich einen Ruck gegeben. Na, da ist’s denn nun doch so gekommen, daß aus der Mamsell Unnütz meine Schwiegertochter wird! Und eines muß wahr bleiben, brav ist sie, sehr brav, und sie hat ihn lieb – und –“

„Mutter, da hast Du eine Tochter!“ unterbricht sie die Stimme des Sohnes. Und sie treten über die Schwelle, Hand in Hand, der Doktor und seine Braut.