Zum Inhalt springen

Menschenfresserei

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: O. Ule
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Menschenfresserei
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 446–448
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[446] Menschenfresserei. Es wird heutigen Tages von romantischen Seelen oft Klage darüber geführt, daß mit der fortschreitenden Cultur alle echte Romantik aus der Welt verschwinde, und daß man gar nicht mehr so recht anständige Abenteuer zu erleben vermöge. Nun, so ganz begründet ist diese Klage leider noch nicht. Wer Schauerliches erleben, wer gefahrvolle Abenteuer bestehen will, der gehe nur einige Schritte weit in das Innere Afrikas oder Australiens, etwa zum König von Dahomey oder nach Wadai, und selbst in dem civilisirten Amerika oder Asien wird er noch manch Stück wilder Natur oder Unnatur finden. Freilich Seeräuber dürfte man kaum noch mit Sicherheit anderswo als in den japanischen oder indischen Meeren suchen, man müßte denn ein dänisches Blokadeschiff dafür ansehen wollen; Cooper’s Rothhäute sind gar nicht mehr wieder zu erkennen, Cook’s Otaheitier sind ganz liebenswürdige Leute geworden, und die Neuseeländer, die wir uns aus den Bilderbüchern unserer Kindheit kaum noch anders, als mit Thierfellen behängt, mit wildem langem Haar und erschrecklichen Keulen vorstellen können, führen Kriege nach ganz civilisirter Weise mit Feuerwaffen, mit Tirailleurzügen, mit Schanzen und Festungen. Selbst die Menschenfresser sind nicht mehr die, welche Campe’s Robinson uns in so haarsträubender Weise schilderte. Aber es giebt doch noch Menschenfresser, und denjenigen, welche Lust haben sollten, mit dieser eigenthümlichen menschlichen Leckerhaftigkeit nähere Bekanntschaft zu machen, soll wenigstens im Folgenden Gelegenheit geboten werden.

Der bekannte Botaniker und Reisende, Berthold Seemann, befand sich vor einigen Jahren auf einer Inselwelt des Großen Oceans, die unter dem Namen der Fidji-Inseln in Betreff der Menschenfresserei immer einen hervorragenden Ruf behauptet hat und deren Bewohner wenigstens damals noch nicht ganz dieser Gewohnheit entsagt hatten. Er hat dort die großen Oefen gesehen, in denen die Leiber menschlicher Schlachtopfer gebraten und die Töpfe, in denen sie gekocht wurden. Erst vier Monate vorher war es dem englischen Consul Pritchard gelungen, den mächtigsten Häuptling der Insel, Witi Lewu, zu bereden, daß er selbst den Kannibalismus aufgebe und ihn auch in seinem Lande verbiete. Einer seiner Halbbrüder, der erst kurz vorher als Gouverneur der Stadt Namosi gestorben war, hatte eine ganz besondere Leidenschaft für Menschenfleisch. Vergebens hatte ihm sein Lieblingsweib und ein seit längeren Jahren in der Stadt ansässiger Engländer die Nothwendigkeit vorgestellt, diesem abscheulichen Gelüste zu entsagen, wenn er sich nicht körperlich ruiniren wolle. Denn man behauptet allgemein, und es scheint nicht ganz unbegründet, daß das Menschenfleisch sehr schwer zu verdauen sei und daß selbst die stärksten und gesündesten Männer nach einem Cannibalenmahl zwei bis drei Tage leidend seien. Wie viele Menschen in Namosi verzehrt worden sind, vermag Seemann nicht anzugeben; aber man kann sich wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon machen, da für jeden in die Stadt gebrachten Leichnam neben einem der Burc’s oder öffentlichen Fremdenhäuser ein Stein hingelegt wird und Seemann allein an dem großen Burc 400 solcher Steine zählte, obwohl nach der Aussage der Eingebornen eine große Zahl derselben vor einiger Zeit durch eine Ueberschwemmung des Flusses fortgerissen worden war. Die Oefen, die auf dem öffentlichen Platze stehen, sind ganz ausschließlich nur zum Braten menschlicher Leiber bestimmt; ebenso werden die Töpfe, in denen Menschenfleisch gekocht wird, in der Küche niemals zu anderen Zwecken verwendet. Merkwürdiger Weise aßen die Eingebornen das Menschenfleisch mit Gabeln, die aus dem harten Holze einer Kasuarine gemacht sind, während sie doch jede andere Speise mit den Fingern zu sich nehmen. Diese Gabeln werden hochgeschätzt und wandern als Erbstück von Generation zu Generation. Es kostete dem Reisenden viel Ueberredungskunst, um ein paar von diesen Gabeln für seine ethnologische Sammlung zu erwerben. Bei der Zubereitung [447] pflegt man das Fleisch etwas zu salzen und verzehrt es gewöhnlich in Verbindung mit drei Gemüsen, die von einem Solanum (S. anthropophagorum, das von Seemann bereits in die europäischen Gärten eingeführt ist), einer Nesselart und einer Wolfsmilchart hergenommen werden.

Wenn gleich der Cannibalismus auf den Fidji-Inseln noch ziemlich verbreitet ist, so meint Seemann doch, man würde irren, wenn man annehmen wollte, daß alle Fidji-Insulaner, die nicht zum Christenthum bekehrt sind, noch Cannibalen wären. „Es giebt unter ihnen,“ sagt er, „eine Anzahl, die man in Ermangelung einer besseren Bezeichnung die ‚liberale Partei‘ nennen könnte, die nie Menschenfleisch ißt, auch den Bures sich nicht nähert, wenn Leichname dort hingebracht sind, und welche diese Sitte ebenso verabscheut, wie wir Europäer, und ihr die abscheulichen Hautkrankheiten zuschreibt, von denen die Kinder so oft heimgesucht sind. Aber ihre Gegner behaupten, daß es, um den Feinden und den niederen Volksclassen Schrecken einzuflößen, für einen großen Häuptling durchaus nothwendig sei, Menschenfleisch zu essen. Das Gefühl des Volkes hinsichtlich dieses Punktes scheint dem Schrecken ziemlich ähnlich zu sein, den unsere Ammenmärchen durch die Episode einflößen, in welcher die Riesen nach Hause kommen und die versteckten Kinder zu riechen anfangen. Die aufgeklärte Partei protestirt auch gegen das Tödten von Weibern und geht von der Ueberzeugung aus, daß es ebenso feig ist, ein Weib, wie ein Kind zu tödten. Aber die Advocaten der Unmenschlichkeit haben auch hier noch immer das Uebergewicht. Sie machen geltend, daß es die beste Rache an den Männern sei, wenn man ihre Weiber todtschlage, da sie sich darüber grämen müßten, und daß, da zu allen Streitigkeiten ganz unzweifelhaft stets ein Weib die Veranlassung gebe, es vollkommen in der Gerechtigkeit begründet wäre, daß die Weiber, die das Blutvergießen verschuldet haben, nicht ungestraft davon kommen.“

Eine wie scheußliche Verirrung die Menschenfresserei auch sein mag, so dürfen wir doch die Menschen, die dieser Sitte seit Jahrhunderten und mit äußerster Hartnäckigkeit ergeben gewesen sind, nicht in jeder Beziehung uns als Unmenschen und Scheusale vorstellen. Auf die Fidji-Insulaner wenigstens paßt das nicht. „Sind sie auch Cannibalen,“ sagt Seemann, der lange unter ihnen verweilt und mit ihnen verkehrt hat, „so haben sie doch viele gute Eigenschaften; wären sie auch nur halb so schlecht, wie man sie schildert, so würden sie längst zu den ausgerotteten Stämmen gehören. Das Publicum hat viel darüber gehört, daß die im Kampfe erschlagenen Feinde gefressen werden, aber sehr wenig von der allgemeinen Freude über die Geburt eines Kindes und über die gegenseitige Liebe der Familienmitglieder; es hat viel gehört über die Sitte des Vatermordes und über die Erdrosselung der Weiber bei dem Tode ihrer Männer, aber nicht über das angeborene Gefühl der Anhänglichkeit, welches in diesen Handlungen einen allerdings befremdlichen Ausdruck sucht.“ –

Wie auf den Fidji-Jnseln, hat wohl auch auf den meisten oceanischen Inseln in früherer Zeit die Menschenfresserei geherrscht. Auf den Marquesas-Inseln wurden noch zu Krusenstern’s Zeit nicht blos die erschlagenen Feinde verzehrt, sondern in Hungersnoth sogar die eigenen Weiber, Kinder und greisen Eltern erwürgt, gebacken und gegessen. Im Innern Borneo’s scheint diese Unsitte noch nicht ganz erloschen zu sein, und die berühmte Reisende, Frau Ida Pfeiffer, die sich unter diese Cannibalen wagte, meint es nur ihrer Magerkeit zuschreiben zu müssen, daß sie nicht den Appetit ihrer liebenswürdigen Wirthe erregte. Aus Neuseeland kann die Menschenfresserei wohl gegenwärtig als vollständig erloschen betrachtet werden. Die Berichterstatter der „Novara-Expedition“ erzählen, daß jede Anspielung auf diese ehemalige Sitte dem heutigen Neuseeländer peinlich sei, weil sie ihn an den früheren niederen Standpunkt seiner Race erinnere. So oft die Reisenden gegen die Eingeborenen eine Erwähnung der Art machten, wandten sie sich mit dem Gefühl der Beschämung ab. Ja es scheint sogar, als ob sie, die Abkömmlinge von Menschenfressern, die von ihnen verabscheute Sitte jetzt den Europäern zutrauten. Die Novara-Expedition bemühte sich nämlich vergeblich einige der Maoris, wie die Eingeborenen Neuseelands heißen, zur Mitreise zu bewegen. Man erfuhr endlich, daß ihr Hauptbedenken darin bestand, daß sie alles Ernstes glaubten, die Weißen wollten einige ihrer Genossen nur statt frischer Provision mitnehmen, in der Absicht, wenn Mangel an Nahrungsmitteln eintreten sollte, sich durch Maorifleisch zu entschädigen und sie aufzuessen. Umsonst wies man auf einige Kaffern hin, die sich schon 15 Monate lang als Matrosen an Bord befanden und die freundlichste Behandlung erfuhren. „Wer weiß,“ warf einer der Besorgtesten unter den Maoris ein, „vielleicht hat man auch die Kaffern blos ausgespart, weil der Nothmoment noch nicht gekommen war!“ –

Weniger scheint der Cannibalismus in Australien erloschen zu sein, und hier sogar unter den nördlichen Stämmen die Sitte zu herrschen, die eigenen Familienmitglieder nach ihrem Tode zu verzehren. Der Novara-Expedition wurde bei ihrem Aufenthalte in Australien ein Fall erzählt, wo in der Nähe von Moreton-Bai ein Knabe starb, dessen Kopf und Haut vom Körper getrennt und an einem Stock über dem Feuer getrocknet wurden. Herz, Leber und Eingeweide wurden unter die anwesenden Krieger vertheilt, welche Stücke davon an den knöchernen Spitzen ihrer Speere mit forttrugen, während die gerösteten Oberschenkel, angeblich die größten Leckerbissen, von den Eltern selbst verzehrt wurden. Haut, Schädel und Knochen dagegen packten die Eingeborenen sorgfältig zusammen und nahmen sie in ihren Säcken aus Grasgeflecht auf die Reise mit. Uebrigens existirt gerade in Australien noch ein anderer eigenthümlicher Cannibalismus, der weniger in das kulinarische, als in das medicinische Gebiet gehört und auf einer abergläubischen Meinung von gewissen Heilkräften des Menschenfleischgenusses beruht, eine Meinung, die auch anderwärts vorkommt und selbst in Europa einmal dagewesen sein soll. So soll in Australien nicht selten eine Mutter ihr eigenes Kind in dem Wahne aufessen, daß jene Kraft, welche ihre Leibesfrucht ihr entzogen, auf solche Weise wieder in den Körper zurückkehre. So sollen ferner die Eingebornen, wenn ihnen ein Krieger eines feindlichen Stammes in die Hände fällt, ihrem Opfer mit fanatischer Wildheit das Fett der Nieren aus dem Leibe reißen und sich damit beschmieren, in dem Glauben, daß es dem Körper Kraft, dem Herzen Muth verleihe. Endlich ist auch Australien eines der seltenen Länder, in denen ein Theil des menschlichen Skelets zum Geräthe dient. Im südlichen Australien nämlich benutzen die Urbewohner ausgehöhlte Menschenschädel als Trinkgefäße, wie es die Geschichte ähnlich von den alten Longobarden berichtet. Jedes Weib soll dort eine solche Kalebasse besitzen, die es gewöhnlich selbst fabricirt.

Wir müssen nun den Leser noch in ein anderes Land hinübergeleiten, das in neuester Zeit das Dorado aller derer geworden ist, die das Gruseln lernen wollen, und in dem seit Menschengedenken auch die Menschenfresserei sich einer besondern Gunst und Gnade erfreut hat, nach Afrika. Schon Claudius Ptolemäus berichtete vor 1700 Jahren von einem schwarzen Cannibalenvolke, das an den Küsten des barbarischen Meerbusens im Osten der Nilquellen wohnen sollte. Auch die Portugiesen, welche auf ihren Entdeckungsfahrten nach Ostindien sich für längere Zeit an der afrikanischen Ostküste festsetzten, erzählen von Negerstämmen, welche „die Hände und Köpfe ihrer erschlagenen Feinde im Triumph vor ihren Häuptling brachten und das Fleisch ihrer blutigen Trophäen dann kochten oder brieten und verzehrten, während die Schädel ihnen zu Trinkgefäßen dienten.“ Die Sage von den afrikanischen Menschenfressern hat seitdem nie geschwiegen, und ihre Existenz in den verschiedensten Theilen Afrika’s konnte kaum in Zweifel gezogen werden. Leider aber wollte es lange keinem Reisenden gelingen, bis zu ihnen vorzudringen und ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Erst ganz neuerdings haben wir durch Männer wie Vogel, du Chaillu, v. Heuglin, welche diese vielleicht mehr interessanten als liebenswürdigen Völker besucht haben, zuverlässige Nachrichten über deren Existenz, wie über die Sitten und Gewohnheiten derselben erhalten.

Ganz so schrecklich, wie die Fama sie machte, haben sich diese Menschen denn doch nicht erwiesen. Als Vogel auf seiner Reise zum Benue nach Jacoba, der Hauptstadt von Bautschi, kam, wurde er vor Cannibalenstämmen gewarnt, die an den Ufern des Benue hausen sollten, und die man allgemein als Njem-njem bezeichnete, unter denen aber die Tangala die schlimmsten sein sollten. „Diese Stämme,“ schreibt Vogel (5. Dec. 1855), „habe ich besucht und bin recht wohl aufgenommen worden. Die Tangala, der Schrecken der umliegenden Gegend, sind wirklich wilde Burschen, die Menschenfleisch allem Anderen vorziehen. Entweder war ich ihnen aber zu mager, oder meine Flinte flößte ihnen einen heilsamen Schrecken ein; kurz, sie hielten sich in ehrfurchtsvoller Entfernung, und nur einige der Kühnsten kamen nahe genug, um die Perlen u. s. w., die ich ihnen entgegenhielt, in Empfang zu nehmen. Daß sie aber die Kranken ihres Stammes essen,“ schreibt er weiter, „ist unwahr; ich habe zufällig zwei Leute in ihren Dörfern sterben sehen und gefunden, daß sie mit äußerster Sorgfalt gepflegt wurden. Dagegen essen sie alle im Kriege erlegten Feinde; die Brust gehört dem Sultan, der Kopf, als der schlechteste Theil, wird den Weibern übergeben. Die zarteren Theile werden an der Sonne getrocknet und dem gewöhnlichen Mehlbrei als Pulver beigemischt.“

Unter den vielen Uebertreibungen, welche sich die Afrikaner in Betreff ihrer menschenfressenden Nachbarn erlauben, ist eine der gewöhnlichsten die auch von Vogel berührte, daß sie Kranke und halbverweste Leichen äßen. Auch du Chaillu hat sich von den Küstenstämmen am Gabun dies Märchen aufbinden lassen und erzählt sogar in dieser Hinsicht Manches, was er mit seiner etwas lebhaften Phantasie erlebt zu haben glaubt. So sei, während er sich bei dem Könige der menschenfressenden Fans aufhielt, eines Tagen der todte Körper eines Mannes aus einem benachbarten Orte gebracht worden, der angekauft war und nun zertheilt und verschmaust ward, obgleich er noch die Spuren der Krankheit, an welcher er gestorben, an sich trug. Es wurde ihm ferner von den Fans selbst erzählt, daß sie beständig die Todten von einem benachbarten Stamme kauften und ihnen dagegen die ihrigen überließen, ja, daß in ihrem eigenen Stamme die Familien gegenseitig ihre Todten verkauften und sie selbst die Körper der gestorbenen Sclaven von Nachbarstämmen um eine Kleinigkeit an Elfenbein einzutauschen suchten. Das Aeußerste glaubt du Chaillu selbst nicht mehr, daß nämlich ein Trupp Fans nach der Seeküste gekommen sei und von dem Kirchhofe der Mission einen frischbegrabenen Leichnam gestohlen und verzehrt habe. Im Uebrigen unterliegt es keinem Zweifel und wird auch durch andere Gewährsmänner bestätigt, daß die Fans arge Menschenfresser sind. Ueberall in ihrem Dorfe sah du Chaillu Knochen und blutige Ueberreste von Menschen liegen, und „war ich noch ungläubig,“ erzählt er, „so beseitigte ein Weib, dem ich begegnete, jeden Zweifel; sie trug, wie bei uns eine Köchin eine Kalbskeule, ein Stück von einem menschlichen Schenkel.“

Auch Ladislaus Magyar erzählt von Cannibalenstämmen Westafrika’s, die er auf seiner Reise von Benguela nach seiner neuen Heimath, dem Königreich Bihe, angetroffen. Bei den Hambo oder Munano, sagt er, werde das Menschenfleisch öffentlich feilgeboten, aber nur für die Einheimischen, da man Fremden gegenüber überhaupt diese Unsitte verleugne. Sie pflegen Kranke, Greise, Kinder und Sclaven zu schlachten, wie Magyar selbst wiederholt mit angesehen. Vom Mann wird der Kopf, vom Weibe der Oberschenkel weggeworfen, warum, weiß der Erzähler nicht anzugeben. Von den Kiakka in derselben Gegend berichtet er, daß sie bei festlichen Gelegenheiten Kriegsgefangene schlachten und ihr Fleisch mit Hundefleisch und Rindfleisch vermischt verzehren. Auch sollen sie von ihren Nachbarn Kinder stehlen, um sie zu essen.

Wären es nicht Augenzeugen, die über solche Gräuel berichten, so würden wir kaum dem Leser zumuthen, etwas davon zu glauben. Denn was Neger darüber erzählen, ist selten sehr glaubhaft. Es ist ganz gewöhnlich in Afrika, daß man benachbarte Stämme, mit denen man in Feindschaft lebt, von denen man durch Sitte, Abstammung, vielleicht auch Religion geschieden ist, deren Ueberlegenheit man überdies vielleicht oft empfunden hat, als Cannibalen, als Njem-njem bezeichnet. Es ist das oft nichts, als ein nationaler Schimpf, durch den man seinem Hasse oder seiner Furcht einen Ausdruck giebt. An der Westküste Afrika’s gilt der Europäer sehr gewöhnlich als Menschenfresser, und zwar einfach, weil man sich seinen Menschenhandel nicht recht hat ohne Menschenfresserei erklären können. Der englische Reisende Reade erzählt eine amüsante Geschichte, die mit diesem Verdacht [448] in Verbindung steht. Als er sich längere Zeit am Kongo aufhielt, hatte er, um nicht gegen die Sitte des Landes anzustoßen, einige Frauen genommen – Sclavinnen wäre unanständig gewesen. Eines Abends sitzt er mit einer dieser Frauen, einer jungen, liebenswürdigen Schwarzen, vor der Thür seiner Hütte und der Anblick der wundervollen Natur erfüllt ihn mit solchem Entzücken, daß er in einem Augenblick der Erregung sich zu seiner Schwarzen niederbeugt und einen Kuß auf ihre Lippen drückt. Mit einem fürchterlichen Schrei springt das arme Weib auf und flüchtet jammernd und hülferufend unter die Bewohner des Dorfes. Nur mit Mühe gelingt es dem nacheilenden Engländer, sie zu beschwichtigen, und er erfährt nun, daß die arme Schwarze den Kuß – der in Afrika völlig unbekannt ist – für das erste Symptom des ausbrechenden Cannibalismus ihres weißen Gatten gehalten hat!

Wir wollen den Leser nicht mit weiteren Cannibalenbräuchen unterhalten. Selbst wenn er von dem, was er gehört hat, Manches streicht, wird noch genug übrig bleiben, ihn mit einigem unheimlichen Grauen zu erfüllen, wie es jeder Reisende empfunden hat, der unter diesen Völkern verweilte. Seinem gebildeten Geschmacke wird schwerlich zusagen, was von jener jungen Dschagga-Königin am Kongo erzählt wird, die, ein wahres Muster weiblicher Launenhaftigkeit, an dem einen Tage einen Liebhaber umarmte, am andern Tage ihn aufaß. Um so ausfallender contrastirt mit diesem Grauen die übereinstimmende Beobachtung aller Reisenden, daß diese menschenfressenden Stationen keineswegs zu den rohesten und auf tiefster Culturstufe stehenden Völkern gehören, daß sie im Gegentheil sittlich wie geistig ihren Nachbarn meist weit überlegen sind. Aehnliche Erfahrungen sind ja schon an den Caraiben Westindiens, an den alten Mexicanern und den Kanaken der Sandwichgruppe gemacht worden. Von den Fidji-Insulanern und den Maoris Neuseelands ist schon oben bemerkt worden, daß sie zu den edelsten und intelligentesten Stämmen der braunen Race gehören. Aber auch Heuglin, der seine Reise bekanntlich in Gesellschaft von drei Damen, Madame Tinne, deren Schwester und Tochter, machte, berichtet in ähnlich günstiger Weise über die gefürchteten Njem-njem des westlichen Bahr-el-Ghasal-Gebiets. „Alle ihre Produkte,“ sagt er, „zeigen auf den ersten Blick, daß das Volk auf einer weit höhern Stufe steht, als seine Nachbarn im Osten und Norden, und die Form ihrer Wurfmesser, Säbelmesser, Schilde etc. erinnert stark an die Producte der Länder um den Tsadsee.“ Selbst du Chaillu, der so schaudererregende Schilderungen von den Sitten der Fans in der Gabun-Gegend gegeben hat, vermag ihnen nicht eine bedeutende geistige und physische Ueberlegenbeit abzusprechen. „Bei allen den abschreckenden Gebräuchen der Fans,“ sagt er, „haben sie doch bei mir den Eindruck als den vielversprechendsten Volkes in ganz Westafrika hinterlassen. Sie kamen mir mit unwandelbarer Gastfreundschaft und Güte entgegen, und es schienen mir in ihnen Keime zu liegen, welche dieses rohe Volk für Civilisation empfänglicher machen, als irgend einen andern mir in Afrika bekannten Volksstamm. Kräftig, stolz, kriegerisch, ebenso muthig als edel, sind sie gefährliche Feinde, und ich bin der Meinung, daß die große Familie, von welcher sie nur ein kleiner Zweig sind und welche die große Bergkette (?) bewohnt, die sich meinen Forschungen nach quer über den ganzen Kontinent hinzieht, es gewesen ist, welche die Fortschritte der muhammedanischen Eroberer in diesem Theile Afrika’s aufgehalten hat.“’ Ganz besonders überraschend war bei den Fans wie bei den Njem-njems ihre Geschicklichkeit in der Bearbeitung des Eisens, das sie aus den eignen Erzen des Landes durch ein zwar noch sehr einfaches und langwieriges Verfahren, aber in so vortrefflicher Weise gewinnen, daß sie es dem europäischen Eisen vorziehen.

Dies Zusammentreffen einer gewissen Cultur und einer ziemlich hohen physischen und geistigen Begabung mit einer von allen gebildeten Völkern mit Recht auf das Tiefste verabscheuten Unsitte ist eines der merkwürdigsten Räthsel auf dem Gebiete der Menschenforschung. Es klingt befremdend, daß man in der Menschenfresserei nicht mehr den Beweis völlig verthierter Rohheit und absoluter Unfähigkeit zu höherer Civilisation erblicken soll. Unsern empfindsamen Lesern wird aber damit zugleich der Trost geboten, daß in dieser Bildungsfähigkeit der Menschenfresser ihr unnatürliches Laster sich selbst eine Grenze steckt und daß es bei den Fans und bei den Njem-njems ebenso schwinden wird, wie bei den Maoris auf Neuseeland, wenn die europäische Civilisation es verstanden haben wird, sich dieser Völker wahrhaft zu bemächtigen.
O. Ule.