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Nihilismus und russische Dichtung (1. Ursprung und Wesen des Nihilismus)

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Autor: Wilhelm Goldbaum
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Titel: Nihilismus und russische Dichtung, 1. Ursprung und Wesen des Nihilismus
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 511–514
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Teil 2: Alexander Puschkin
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Nihilismus und russische Dichtung.

Studien von Wilhelm Goldbaum.
1. Ursprung und Wesen des Nihilismus.

Mit staunendem Interesse ist die Welt den schreckhaften Erscheinungen im heutigen Rußland zugewendet. Niemals und in keinem Staate wurde eine ähnliche revolutionäre Bewegung gesehen, und die historische Vergleichung, sonst so fruchtbar und anregend, erweist sich in diesem Falle als völlig unzureichend, das Werden und das Wesen des Nihilismus zu veranschaulichen, geschweige zu erklären. Eine ganze Literatur von Büchern und Flugschriften ist binnen drei Jahren über den Nihilismus entstanden. Vertheidiger und Ankläger, die Letzteren in der Mehrzahl, entwickelten ihre Gedanken über denselben bald an der Hand der Geschichte, bald im Anschlusse an die Thatsachen, welche wir selbst noch jüngst erlebt haben. Allein es ist aus vielen Gründen mißlich, die schauerlichen russischen Vorgänge mit früheren oder gleichzeitigen historischen Ereignissen oder Zuständen zu vergleichen, weil weder das römische Kaiserreich in seinem Verfalle, noch Frankreich vor der großen Revolution sich mit dem heutigen Rußland vergleichen lassen, weil ferner die Volksindividualität, mit welcher man es hier zu thun hat, ganz anders geartet ist als jede sonstige, an welcher die große Lehrmeisterin Geschichte sich bereits erprobte, weil endlich die Grenzen der nihilistischen Bewegung nur äußerst schwer zu ermitteln sind und Niemand zu sagen vermag, ob die Wurzeln des Nihilismus politischer, ob sie socialer, ob literarischer Art sind. Man hat bisher noch immer den Sinn aller Revolutionen aus dem Verhältnisse der regierenden und regierten Schichten zu einander construiren können; diese beiden Schichten lagen eine über der anderen, und es handelte sich darum, in gewaltsamer Drehung diese Lage zu verändern; was oben lag, sollte hinunter, das Untere hinauf. So in England, Frankreich, Deutschland, so auch im Alterthume, wo Aristokratie und Demokratie ganz besonders sichtlich um den Vorrang stritten.

Jedoch in dem heutigen Rußland hat die Bewegung nicht den Charakter der Auseinandersetzung zwischen den unteren und den oberen Schichten der Gesellschaft. Der Nihilist darf weder mit dem Plebejer im alten Rom, noch dem englischen Rundkopf, dem französischen Sansculotten oder dem deutschen Demokraten verglichen werden. Zum Nihilismus stehen in gleicher Weise die Mitglieder der höchsten Aristokratie wie die Söhne und Töchter des Popen, des befreiten Leibeigenen, des jüdischen Schänkwirths. Nicht die socialen Schichten ringen mit einander, sondern die Individuen erheben sich gegen die Institutionen; die Gesellschaft kämpft wider den Staat, und weil Aehnliches noch niemals gesehen worden, weil Niemand voraus zu sagen vermag, wohin es bei solchem Kampfe kommen soll, deshalb ist der Nihilismus eine so unheimliche, mysteriöse Erscheinung, die man völlig mißversteht, wenn man sie nach den bisherigen geschichtlichen Wahrnehmungen in eine bestimmte Kategorie verweist, welche vielmehr aus allen zugänglichen Gesichtspunkten, aus dem politischen, socialen, literarischen und nationalen gefaßt werden muß, wenn sie nicht in ihrem Wesen verkannt, in ihrer Tragweite, in ihren Ursachen und wahrscheinlichen Wirkungen unterschätzt werden soll.

Der Russe macht seine Revolution auf seine eigene Art, weil das Blut, das ihm in den Adern rollt, in ganz eminentem Sinne ein „gar besonderer Saft“ ist. Zu diesem Blute hat der Slave, der Normanne, der Tatar einen Tropfen hergegeben, und die Mischung, welche entstand, ist mit keiner anderen zu vergleichen. Im Russen liegt die Trägheit neben der Grausamkeit, der Fatalismus neben der Romantik, die Phantasie neben der Thatkraft, der denkbar roheste Realismus neben idealistischer Uebertreibung. Namentlich aber ist es der Nachahmungstrieb, welcher in dem Russen lebhaft entwickelt ist. Er lernt leicht, was sich Anderen absehen läßt; er besitzt ein unvergleichliches Sprachtalent, einen lüsternen Sinn für fremde Bräuche und Moden, ein Verständniß für Alles, was er zu seinem Vortheile der Fremde entlehnen kann. Wenn er nichtsdestoweniger sich geberdet, als bedürfe er keiner fremden Anregungen, so ist dies eine Prahlerei, welche ebenfalls zu den Grundzügen seines nationalen Wesens gehört. Seine großen Dichter haben nach fremden Mustern sich gebildet und nach ihnen geschaffen; seine Aristokraten sind in die französische Schule gegangen; seine Revolutionäre haben der Wissenschaft des Westens die fürchterlichen Behelfe abgeborgt, mit denen sie ihre Attentate verüben. Puschkin läßt sich auf Goethe und Lord Byron zurückführen wie der Adept auf den Meister; Petersburg ist ein nach Rußland verpflanztes Paris; den Dynamitattentaten von Moskau und im Winterpalaste diente die entsetzliche Thomas-Uhr von Bremerhaven zum Vorbilde und Muster. Ueber diese Thatsachen ist nicht hinwegzukommen, wenn man den russischen Nationalcharakter richtig beurtheilen will, und das Ergebniß, welches sie liefern, fällt nicht besonders günstig aus. Ist es nun den letzten Generationen in Rußland zum Bewußtsein gelangt, daß sie sich in dem Völkerreigen Europas so geringer Originalität zu berühmen haben, so sind sie bei der Abhülfe dieses Mangels auf den schlechtesten Weg gerathen, der sich ihnen jemals hätte darbieten können; denn statt sich an dem fremden Beispiele zu läutern, haben sie plötzlich dasselbe verpönt, um sich an dem Traume einer ureigenen nationalen Entwickelung [512] zu berauschen; die Lehrer wurden von den Schülern verlästert: der „verfaulte Westen“ wurde zum Gegenstand nationaler Verachtung gemacht, die fremde Cultur, welche seit zwei Jahrhunderten und darüber die oberen Schichten der russischen Gesellschaft gesittigt und „europäisirt“ hatte, für einen lästigen Eindringling erklärt, dessen Spuren von Grund aus getilgt werden müßten.

Das ist die nationale Wurzel des Nihilismus, welche er mit dem Panslavismus und dem sogenannten Altrussenthum gemein hat. Aus ihr entkeimt naturgemäß nicht blos die Oberflächlichkeit in Wissen und Denken, nicht blos die Selbstüberhebung, welche sich selbst genug sein zu können glaubt, sondern auch der Haß gegen die deutsche Dynastie, gegen Alles, was geordnete Entwickelung im Staate ist, gegen Kunst und Wissenschaft, welche den Menschen zur vornehmsten Lebensführung erziehen, gegen die Geschichte endlich, deren Lehren mehr auf eine erhaltende, als aus eine umstürzende Weltanschauung hinleiten. Der flaumbärtige Nihilist, die Nihilistin, welche sich von allen Banden der Sitte und des Familienlebens losgelöst hat, dünken sich stark und reif genug, nicht blos die Staatsordnung zu zerstören, sondern der gesammten Weltordnung den Krieg zu machen; sie jagen nach einem Martyrium, das keines ist; die Wollust der Rache, der Grausamkeit, der Tollkühnheit wird ihnen zur Inspiration; ein begreifliches Gefühl des Mißvergnügens wandelt sich in die Leidenschaft der Zerstörung, wobei jedes Mittel als das rechte erscheint.

Es ist indessen nur die Form der Revolution, welche sich aus der nationalen Beschaffenheit der Russen erklärt. Wie man auch ohne völkerpsychologische Tüftelei genau die unterscheidenden Merkmale zu finden vermag zwischen der Methode, welche der Engländer bei seiner großen Revolution gegen die Stuarts, und derjenigen, welche der Franzose bei der seinigen gegen die Bourbonen befolgte, so kann man auch mit Gewißheit sagen, daß nur in Rußland die nihilistische Bewegung möglich war mit diesen raffinirten Schrecken, diesen Orgien zügelloser Grausamkeit, dieser unerhörten Heimlichkeit, welche einen Bund von tausend Menschen stärker macht, als einen Staat mit einer Million von Bajonneten, dieser genialen Aneignung naturwissenschaftlicher Mittel zu mörderischen Zwecken.

Tiefer hinein in die Erkenntniß der russischen Revolution führt die historische Betrachtung.

Seit wann existiren der Name und die Sache des Nihilismus? Wie Alles wunderlich an dieser räthselhaften Erscheinung ist, so auch die Antwort auf diese Frage; denn der Name ist älter als die Sache; er findet sich schon in periodischen russischen Schriften vom Jahre 1831, und zwar nahezu in demselben Sinne, welcher ihm heute zukommt. Vom Nihilismus hat man in der Philosophie schon vorher gesprochen und als eine Form philosophischer Anschauung geht dieser Begriff schon auf das „Nil admirari“ des Horaz zurück; allein in seiner Anwendung auf das politische und sociale Leben ist der Begriff des Nihilismus von specifisch russischer Herkunft. Nur ward im Jahre 1881 ein anderes seiner Merkmale betont als heute. Der Czarenautokratie gegenüber waren bereits mancherlei Palastrevolutionen und Militärcomplote ohnmächtig geblieben. Kaiser Paul war von adeligen Hofleuten erdrosselt worden; von Alexander dem Ersten raunte man sich zu, er sei beim Baden in Taganrog gewaltsam in die Wellen hinabgetaucht worden. Czar Nikolaus hatte den Aufstand der Decembristen blutig erstickt, und die große Insurrection der Polen war unbarmherzig niedergeworfen worden. Da ergab sich denn Alles, was in Rußland der Autokratie des Czaren feindlich gegenüberstand, der Resignation. Man fand sich in das Schicksal der Sclaverei; Puschkin selbst zerbrach die Feder, mit welcher er vordem Gedichte auf die Freiheit geschrieben hatte, um fortan die Gunst des Czaren und dessen persönliche Controlle zu ertragen. Die Autokratie behielt das Heft in den Händen, und alle Versuche, sie abzuschütteln, waren vergebens. Man hoffte nichts mehr; man wollte nichts (nihil) mehr. Das war der Nihilismus von damals. Und er hatte seine Zeit etwa zwanzig Jahre lang. Da tauchte der Kritiker Belinsky zuerst in Moskau, dann in Petersburg auf, um, ein „russischer Lessing“, eine Schule von jungen Literaten um sich zu schaaren und bisher heilig gehaltene Begriffe in Kunst, Dichtung und Wissenschaft zu stürzen, sie durch neue zu ersetzen. Belinsky wies über die chinesische Mauer hinweg, mit welcher das autokratische Rußland umgeben war, nach Deutschland, dessen große Philosophen er studirt hatte. Einer von den revolutionären Sätzen, die er predigte, lockerte besonders kühn das Band der Bevormundung; Belinsky behauptete nämlich, das russische Volk habe keinen Sinn für die Religion. Von nun an war der Nihilismus als Zeichen der Resignation und Fügsamkeit überwunden; es konnte sich nur noch darum handeln, was an seine Stelle treten sollte. Ein schüchterner Versuch, sociale Umwälzungen herbeizuführen, von einem Staatsrathe Petraschewski und etwa dreißig Genossen geplant, scheiterte: die Neuerer wurden allesammt nach Sibirien „verschickt“.

Ein gleiches Schicksal oder mindestens das Loos der Verbannung in’s Ausland traf Alle, welche in Wort, Schrift oder Lebensführung einer freieren Denkweise verdächtig waren. Bakunin, Herzen, Turgenjew mußten in’s Exil, und des Czars „höchsteigene dritte Kanzelley“, die berüchtigte dritte Abtheilung, deren „hellblaue“ Gensd’armen überall in dem weiten Reiche umherspionirten, verstand nicht blos Schuldige zu finden, sondern auch Schuldige zu machen. Die Wege nach Sibiren waren gleichsam besäet von Zügen Deportirter, hinter welchen der Kantschu des Kosaken sauste, nachdem die „dritte Abtheilung“ sich ihrer ohne richterlichen Spruch und ohne Untersuchung, zumeist auf die Denunciation der „Hellblauen“ hin, bemächtigt hatte.

Dabei ging etwas dem russischen Volke verloren, was anderswo als das heiligste menschliche Besitzthum gilt: das Recht der Persönlichkeit, die Individualität. Wer im Namen des Czars eines Amtes waltete – und mochte er auch das feilste Subject sein – war der Herr; alle Uebrigen waren Sclaven. Und auch, es gab vierzehn Rangclassen des Beamtenthums, des Tschin, vierzehn Schichten, welche unbarmherzig aufsaugten, was das Volk im Schweiße seines Angesichts erwarb. Ein Appell, eine Reclamation galt nur so viel, wie ihr Urheber an Bestechung zu ihrem Nachdrucke aufzuwenden hatte. In dieser Rechtsunsicherheit seufzte die gesammte Nation: „Der Himmel ist hoch, und der Czar ist weit.“

Einem solchen Zustande konnte nur durch Ereignisse von außen her gesteuert werden, und als der Czar Nikolaus, besiegt und gedemüthigt in den Niederlagen des Krimkrieges, zusammenbrach, um den Platz auf dem Throne seinem Sohne Alexander zu räumen, schien es in der That, daß ein besserer Tag für Rußland angebrochen sei. Damals gründete Alexander Herzen in London sein berühmtes Blatt „Die Glocke“, in welchem mit unerbittlicher Schärfe alle russischen Mißstände ausgedeckt wurden.

Die Palastcreaturen, welche den neuen Czar umgaben, thaten alles Mögliche, damit dieses Blatt nicht unter die Augen ihres Herrn komme, aber alle Verbote und Confiscationen blieben fruchtlos. Der Czar fand dennoch jede neue Nummer der „Glocke“ in seinem Gemache, ohne daß Jemand zu sagen wußte, wie sie dorthin gelangt sei. Ob nun Herzen’s Mahnungen oder andere Impulse es waren, welche den Czar bestimmten, neue Bahnen einzuschlagen, gleichviel, es geschah ein Schritt von großartiger reformatorischer Bedeutung: die Befreiung der Leibeigenen. Schade nur, daß er nicht sorgsam genug vorbereitet war und daß die Bahn, auf welche er führte, nicht festgehalten wurde. Der Muschik, dieser arme, unwissende, an dumpfes Dahinleben gewöhnte Bauer, war frei; er empfing auch einiges Land. Aber man nahm ihm Steuern ab, welche zwei Drittel seines Einkommens aufzehrten, und gab ihm nicht neue ehrliche Beamte zum Schutze auf dem Pfade, auf dem er wie ein Halbblinder in die Freiheit hineintaumeln sollte, sondern die nichtswürdigen Tschinowniks von ehedem blieben in ihren Aemtern und saugten an der Habe und dem Erwerb des Volkes. Das war die eine verhängnißvolle Lücke in der Reform, aber die andere war noch empfindlicher.

Das Recht der Persönlichkeit ward nicht gesetzlich verbürgt, das System der „administrativen Verschickung“ nicht beseitigt. Zwar auf dem Papier wurden noch manche Justiz- und Verwaltungsreformen entworfen, aber das Beamtenthum blieb ungesäubert. So lange aber der Tschinownik nicht zum Menschen umgewandelt, der Bestechlichkeit, der Brutalität, der Lüderlichkeit entwöhnt war, so lange mußte jede Reform im Reiche des Czaren ein frommer Wunsch sein. Wenn zwischen Staat und Gesellschaft, welche zusammengehören wie zwei verschiedene Erscheinungsformen desselben Inhaltes, nicht ein unnatürlicher Gegensatz entstehen soll, so muß der Staat der Gesellschaft mit dem Beispiele der Pflichterfüllung und des ernsten Bewußtseins der Verantwortlichkeit voranleuchten. In Rußland bot der Staat das entgegengesetzte Bild.

Die Gesellschaft ward durch ihn und seine Vertreter corumpirt. Und so konnte es geschehen, daß fast gleichzeitig mit der [513] Aufhebung der Leibeigenschaft die ersten Spuren des Nihilismus in seiner heutigen Gestaltung zu Tage traten. Damals – etwa im Jahre 1881 – bildeten sich die ersten geheimen Gesellschaften und zwar selbstverständlich zumeist aus den Reihen der Jugend. Die „Glocke“ Herzen’s hatte nicht umsonst geläutet. Was diese Gesellschaften wollten, das war zunächst noch bescheiden genug: Beseitigung der administrativen Verschickung, Säuberung des Beamtenthums und – ein wenig Verfassung.

Man hatte nicht viel daheim gelernt, aber man hatte, was unter dem Czar Nikolaus nicht so leicht gewesen war, Pässe zu Reisen in’s Ausland erhalten; da hatte man gelernt, wessen sich die übrige Welt an politischer Reife und persönlicher Freiheit erfreuen durfte. Man hatte auch popularisirte Naturwissenschaft zwar nicht „durchaus studirt“, aber aus den Büchern eines Moleschott und Louis Büchner in sich aufgenommen, wobei eine Art von krausestem Materialismus sich der Seele bemächtigte. Da kam man sich denn daheim doppelt unselig vor, und weil der Russe zum „Weltschmerze“ nicht disponirt ist, so übersprang man diese Stufe und kam zur Verzweiflung, welche, im Gegensatze zur Resignation des alten Nihilismus, den wesentlichen Inhalt des neuen Nihilismus bildet.

Das Unglück wollte, daß in dieser Zeit der Gährung die Polen sich erhoben und von einem Murawiew, dem feigsten Henker, zertreten wurden, daß die geheime Nationalregierung von Warschau der russischen Jugend als ein Ideal von Verschwörerorganisation erschien, daß endlich der Czar, mißtrauisch gemacht und durch schlechte Rathgeber irregeführt, auf der Bahn reformatorischen Wollens und Schaffens anhielt und nach dem Despotismus des Selbstherrscherthums sich zurücksehnte, der bekanntlich in Rußland „durch den Meuchelmord gemildert wird“.

Nun hatte der Nihilismus leichte Arbeit. Von Hause aus war er etwas Unbestimmtes, ein politisches und sociales Mißvergnügen, das Bedürfniß nach persönlicher Freiheit, der Haß gegen feiles Beamtenthum gewesen; jetzt empfing er einen bestimmten Inhalt, ein Programm. Die Dynastie wurde proscribirt, die Anarchie als Sehnsuchtsideal dem Despotismus gegenübergestellt, die Vernichtung des Staates zum Berufe der Gesellschaft erklärt. Kleine Verschwörergesellschaften bildeten sich, denen von überallher Proselyten zuströmten - die Gesellschaft „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit) stammt schon aus jenen Tagen - und die Reihe der Attentate auf Alexander den Zweiten begann mit demjenigen Karakasow’s, um nach Jahrzehnten mit der furchtbaren Dynamittragödie am Petersburger Katharinen-Canal zu enden.

Ein Dunkel schwebt bis zum heutigen Tage über den Organisationen der nihilistischen Propaganda. Wo hat sie ihren Sitz, wo ihre Häupter? Ist jenes sogenannte Executivcomité, ein vervollkommnetes Abbild der polnischen Nationalregierung des Jahres 1863, ein fester Kern, um den sich bestimmte Kategorien von Zugehörigen gruppiren? Giebt es Statuten? Und wie stark mag die Zahl der beständigen Verschwörertruppe sein, über welche das Excecutivcomité verfügt?

Ja, auf alle diese Fragen fehlt eine verbürgte Antwort. Eine Unzahl von Personen, des Nihilismus verdächtig und geständig, ist seit zehn Jahren von allerhand Gerichten, von Schwur- und Militärgerichten, verurtheilt und dann nach Sibirien gesendet oder gehenkt worden. Immer wieder glaubte man, in einzelnen Schuldigen die Häupter der unheimlichen Revolution ergriffen und unschädlich gemacht zu haben. Aber es war wie mit den Kopfen der Hydra; einen Kopf hatte man abgeschlagen, hundert Köpfe wuchsen nach. Und dabei tauchte bald da, bald dort, bald im Süden, bald im Norden des ungeheuren Reiches, bald in den Städten, bald auf dem Lande dieses Schreckenshaupt der Revolution auf.

Vor zehn Jahren etwa begann der Nihilismus, „Blut zu lecken“. Netschajew, ein Verschworener, erschlug einen Polizisten, der sich als Spion in eine nihilistische Versammlung geschlichen hatte. Netschajew entfloh in die Schweiz, ward ausgeliefert und ist seitdem verschwunden. Das war die Krise; denn bis dahin hatte der Nihilismus sich einer Blutthat noch nicht schuldig gemacht. Dann aber ging die schreckliche Erweiterung der Mittel mit reißender Schnelligkeit von statten. Es ist ein Unterschied zwischen dem Nihilismus vor und demjenigen seit Netschajew’s Auslieferung, wie zwischen einem theoretischen Revolutionär und einem Barricadenkämpfer, zwischen dem blasirten Studenten Bazarow, den Turgenjew in dem Roman „Väter und Söhne“, und dem verrückten Neschdanow, den er anderthalb Jahrzehnte darauf in dem Roman „Neuland“ als nihllistischen Typus construirte. Es blitzt ein Pistolenschuß in Petersburg; die Nihilistin Wjera Sassulitsch hat den Polizeimeister Trepow in seinem eigenen Bureau schwer verwundet. Eine Heldin meint der russische Geschworene in ihr zu erblicken; denn er hat noch nie eine Revolutionärin an der Arbeit gesehen; er spricht sie los, und sie flüchtet in die Schweiz. Dann knallt es in Charkow, der südlichen Universitätsstadt; der Gouverneur Krapotkin, der von einem Balle heimkehrte, liegt als blutiges Opfer am Boden. Der Türkenkrieg hat das Antlitz des Nihilismus entsetzlich gewandelt, ihn vom leidenschaftlichen Widerstande gegen den Despotismus zum blutigen Angriffe auf denselben getrieben.

Wie harmlos, fast ein Spiel mit äußeren Formen, ist der Nihilismus noch in den sechsziger Jahren gewesen! Man lese nur jene berühmte Verordnung des Generalgouverneur Ogarew von Nischnei-Nowgorod, in welcher amtlich zum ersten Male die Nihilistinnen eine Rolle spielen. Da heißt es: „Es ist von mir bemerkt worden, daß auf den Straßen Nischnei-Nowgorods zuweilen Mädchen und Frauen sichtbar sind, welche sich in einem eigenthümlichen, gewöhnlich den sogenannten Nihilistinnen zugeschriebenen Anzuge zeigen, der aus einem runden Hute, abgeschnittenem Haar, blauer Brille und einer Kapuze (Baschlyk) zusammengesetzt und wegen des Mangels der Crinoline auffällig ist.“ Diese Verordnung datirt aus dem Jahre 1867. Und zehn Jahre später, nach dem Orientkriege, welcher die Revolution ablenken sollte, sie aber in Wahrheit an Mord und Blut gewöhnte – welche grauerhafte Wandlung! Jene maskirten Frauenspersonen von Nischnei-Nowgorod sind zu Hyänen geworden, nach Zürich und Genf gegangen, um unter dem Vormunde medicinischer Studien das Revolutionshandwerk zu erlernen. Wjera Sassulitsch ist eine Stümperin im Vergleiche mit Sophie Perowski, der Mitschuldigen an dem Czarenmorde vom 13. März.

Wenn zuerst die Hand der Nihilisten sich blos wider verhaßte Beamte, wider einen Trepow und Krapotkin erhoben hatte, so vergreift sie sich gar bald an dem Czar selber. Solowiew schießt auf den Monarchen, der arglos durch die Anlagen des Winterpalastes wandelt, und da der Schuß gefehlt hat, verfolgt er sein Opfer auf den schneebedeckten Wegen wie ein Wild , bis zwei Kosaken herbeieilen und die entsetzliche Jagd durch die Ergreifung des Verfolgers beenden. Bald darauf wird die Eisenbahn zwischen Moskau und Kursk unterminirt, um den Train in die Luft zu sprengen, welcher den Czar von Livadia nach Moskau bringen soll. Im Winterpalast selbst explodirt direct unter dem Speisesaale eine Dynamitladung, und nur ein glücklicher Zufall rettet den Czar. Bleicher Schrecken erfüllt ganz Rußland. Bis wohin reicht der Arm des Nihilismus? Hat er seine Werkzeuge im Kaiserpalaste selbst? Und giebt es kein Mittel, ihn zu bändigen? Ein Dictator wird bestellt in der Person des Generals Loris-Melikow. Die Polizei schläft weder Tag noch Nacht. Aber es ist wie ein Geisterspuk, der sich nicht verscheuchen läßt. Auf Loris-Melikow selbst richtet sich der Revolver des Nihilisten Mlodetzky. Revolutionäre Proclamationen schießen aus dem Boden. Eine geheime Druckerei wird entdeckt; zehn andere setzen die Arbeit fort. Der Nihilismus ist hier, da und allerorten. Und am 13. März ereilt den Czar das Verhängniß; Dynamitbomben platzen unter seinem Wagen, während er aus der Michaels-Manége heimkehrt, und zerreißen seinen Leib.

Und wie viele von den Schuldigen man auch hängt, der Nihilismus bleibt unversehrt in seiner gespensterhaften Schreckhaftigkeit. Es hat den Anschein, als ob ganz Rußland von ihm überzogen wäre, von der Hütte des Muschiks bis hinauf zu den Gemächern der kaiserlichen Schlösser, von dem Hause des Popen bis zu den Casernen. Sophie Perowski, welche auf dem Smolensker Felde in Petersburg zum Galgen geführt wurde, ist eine Gräfin, die Tochter eines Senators und ehemaligen Ministers; Isajew, der ihr Schicksal theilt, ist der Sohn eines vordem leibeigenen Bauers, Mlodetzky der Sohn eines jüdischen Uhrmachers.

Es kommt aber im Grunde wenig darauf an, die Grenzen festzustellen, innerhalb deren der Nihilismus seine Kreise zieht. Der Widerwille der Gesellschaft gegen das politische Regiment ist die Quelle der nihilistischen Bewegung; die Corruption des Beamtenthums hat jede Autorität untergraben. Anfangs hatte auch der Nihilist noch Ideale; er sprach von Freiheit, von Verfassung, von Menschenrechten. Aber man corrigirte seine Sehnsucht durch die [514] Knute; man schleppte ihn nach Sibirien, an dessen Eingang er als sicheres Opfer vom Tode begrüßt wurde. Da ward er blutdürstig wie ein wildes Thier, rachsüchtig bis zum Wahnwitz, ein Mörder, dem das eigene Leben nur noch dazu gut zu sein schien, um anderes Leben zu zerstören. Und die Verzweiflung ist ansteckend.

Der Nihilismus hat auf solche Weise in alle Schichten der Gesellschaft sich eingeschmuggelt, alle Behelfe, welche ihm Wissenschaft, Geschichte, Erfahrung gewähren konnten, sich angeeignet; er arbeitet nicht blos mit Dynamit und Revolver, unterminirt nicht blos ganze Straßen, er hat auch seine literarischen Sendlinge, welche mit raffinirter Bedachtsamkeit alle guten Instincte in der Seele des Volkes vergiften. Da wird geschmäht und verhöhnt, herabgesetzt und entwürdigt, was die Weltliteratur Großes hervorgebracht hat; ein Goethe, ein Shakespeare, ein Schiller, ein Puschkin – sie alle werden verlästert. Da wird ferner der Diebstahl als etwas Menschenwürdiges erklärt, dem Mörder eine Aureole um die Stirn gewunden. Der heutige Nihilist weiß nicht mehr, was er will; er weiß nur noch, was er nicht will. Seine Seele ist verthiert; seine Augen sind mit Blut unterlaufen. Er will nicht den Staat, nicht die Sitte, nicht die Religion, nicht einmal sich selbst. Da sich der Staat in seinen Werkzeugen ihm von der verächtlichen Seite zeigte, da sein Leben, seine Freiheit zum Spielballe in der Hand des Tschinownik wurden, da ein Kosak dem Czar mehr werth zu sein schien, als tausend nach politischem und geistigem Fortschritte lechzende Jünglinge, so verlor er den Respect vor den Institutionen, vor den Menschen, vor sich selbst.

Wo aber, fragt man, sind die besonneneren Elemente in Volk und Gesellschaft? Warum stehen sie nicht ein für die Erhaltung von Staat, Sitte, Religion?

Die besonneneren Elemente in Rußland sind nur die feigeren Elemente. Wer im Czarenstaate denken kann, ist allemal ein „unfreiwilliger Nihilist“. Der Bauer zählt nicht; denn er ist in den zwanzig Jahren seit seiner Befreiung aus der Leibeigenschaft noch nicht zum politischen Menschen herangereift. Und wenn er dereinst mitzählen wird, so fragt es sich, ob er nicht ebenfalls, in der Erinnerung dessen, was er gelitten, zum Nihilismus schwören wird. Einen bürgerlichen Mittelstand hatte Rußland nicht bis zur Alexandrinischen Reform-Aera, seitdem aber haben die wechselnden Unterrichtssysteme unter der heranwachsenden Jugend unberechenbares Unheil angestiftet.

Bald war es ein Aufklärungsminister, der die Realien, bald ein anderer, der die classischen Unterrichtsgegenstände bevorzugte, bald einer, der den Studenten alle akademischen Freiheiten einräumte, den Studentinnen alle Zügellosigkeiten nachsah, bald ein anderer, der die Knaben militärisch erziehen, die Mädchen auf den Elementarunterricht beschränken wollte. Das vierzehnclassige Beamtenthum will an dem Staate sich bereichern; es betrügt diesen ebenso wie das Volk, je nachdem dort oder hier die Gelegenheit eine günstige ist. Justiz und Verwaltung sind nur dem Namen nach, nicht thatsächlich getrennt. Der Adel, einst durch die Leibeigenschaft reich, ist verarmt oder vergeudet die Reste seines Vermögens im Auslande; er drängt sich nicht, wie anderswo, zum Staatsdienste, oder wenigstens nur, wenn seine Existenz es gebieterisch von ihm fordert. Viel haben seit zwanzig Jahren die „privilegirten“ Classen in Rußland gelernt; mitunter möchte man staunen über das Maß von wissenschaftlicher Aneignung, aber es ist immer nur die Arbeit des Autodidakten, des Sammlers auf fremdem Kornfelde. Nirgends erquickt der Anblick einer Originalität, es wäre denn, daß man dieselbe an jenen Schriftstellern rühmen wollte, welche kunstgerecht die Kritik des eigenen Volksthums und Gesellschaftswesens bis zur Selbstdenunciation treiben. Iwan Turgenjew, die leuchtende Ausnahme, gehört dieser Generation nicht an, er hat vor ihr begonnen, und steht himmelhoch über ihr, seitdem er sich im freiwilligen Exil von ihr losgelöst.

Es ist klar, daß eine aus solchen Bestandteilen zusammengesetzte Gesellschaft jeder Thatkraft ermangeln muß, wenn ihr die Aufgabe zugemuthet wird, zur Rettung des Staates mitzuwirken. Zur Moralität ist sie vom Staate nicht erzogen worden und durch eigenes Bedürfniß nicht herangereift; der Patriotismus, der ihr gelehrt wurde, wechselte seine Ziele, je nachdem Herr Katkow, der einflußreiche Redacteur der „Moskauer Zeitung“, dem „Westen“ den Krieg erklärte, die Panslavisten das Gelüste nach den Süßen Wässern reizten, der Hof in Petersburg an der Freundschaft Deutschlands Gefalle fand. Nun steht diese Gesellschaft eingekeilt zwischen den beiden gewaltigen Gegensätzen, der Dynastie und dem Nihilismus, und wenn man erwägt, daß der politische Kern des Nihilismus, losgeschält von den Unthaten und Excessen der letzten Jahre, immerhin einem allgemeinen Bedürfnisse näher liegen muß als der Despotismus mit seiner Beamtencorruption, wenn man bedenkt, daß das System der „Verschickung“ aus allen Bevölkerungsschichten in gleicher Weise lastete und die „dritte Abtheilung“ keinen Unterschied zwischen Westlern und Altrussen machte, so hat man wohl ein Recht, zu glauben, daß die ungeheure Mehrheit der Denkenden in ihrem Inneren für den Nihilismus Partei nimmt, daß die Stärke des letzteren in der Abwendung der intelligenten Bevölkerung vom Staate wurzelt. Ist dies aber der Fall, so versteht man auch, warum es im Grunde müßig ist, zu fragen, über wie viele Hände der Nihilismus verfügt. Ganz Rußland ist ein einziger Herd der Revolution. Hier flackert sie auf und dort; ein Schuß lenkt die Aufmerksamkeit auf sie; ein Mord bezeichnet ihre Spur, eine Mine ihre unausgesetzte unterirdische Arbeit. „Verstand ist stets bei Wenigen nur gewesen,“ sagt unser großer Dichter, und dies gilt auch von den Nihilisten. Die energischen unter ihnen organisiren sich; die anderen folgen nach, verheimlichen, was sie wissen und sehen, lenken die Polizei von der richtigen Fährte ab. So erbt sich das Unheil einer allen billigen Forderungen trotzenden autokratischen Regierung fort; das Mißvergnügen nimmt ungeheure Formen an; die Ohnmacht der Persönlichkeit schlägt in Verzweiflung um, und Verwirrung erfaßt die Köpfe, sodaß ihnen die frevelhafteste That als die beste erscheint.

Der Nihilismus ist das Ergebniß einer dynastischen Politik, in deren Programm niemals die Volkserziehung stand. So lange vom Westen her sittigende Einflüsse in Rußland wirksam waren, enthielt er nichts, was nicht auch anderswo zu den Merkmalen der Revolution gehört hätte. Als aber die russische Gesellschaft diese Einflüsse abzuwehren begann, empfing der Nihilismus jene specifisch russische Signatur; er verwilderte bis zu solchem Grade, daß an ihm das demüthigende Wort sich bewahrheitete: „Kratze den Russen und es kommt der Tatar zum Vorschein.“

An politischen Weisen fehlt es nicht, welche ganz genau wissen, was geschehen muß, um den Nihilismus zu bändigen und Rußland vor einer Revolutions-Katastrophe zu bewahren. „Eine Verfassung, ein Parlament!“ rufen die Einen, „Repression!“ die Anderen. Die Frage ist nur, ob die Wurzel des Uebels eine politische und mit politischen Maßregeln auszurotten ist. Der Nihilismus dünkt uns aber eine volkspädagogische Krankheit zu sein, und zwar eine solche, deren Heilung zugleich von der nationalen, von der politischen und von der socialen Seite in’s Werk gesetzt werden muß. Fünfzig Jahre und darüber zehrt diese Krankheit bereits an dem Leibe Rußlands; Puschkin und Gogol sind an ihr zu Grunde gegangen wie die Czaren Nikolaus und Alexander der Zweite. Am deutlichsten lassen sich die Zerstörungen, die sie angerichtet, an dem Verlaufe der russischen Literatur aufzeigen, in welcher sich die einzelnen Stadien getreulich widerspiegelten, und deshalb mag es uns vergönnt sein, in einigen weiteren Betrachtungen Alexander Puschkin als den literarischen Vorläufer, Nikolaus Gogol als den Propheten und Iwan Turgenjew als den Psychologen des Nihilismus dem Leser vorzuführen.