12) Erzbildner und Toreut, wahrscheinlich aus Chalkedon, denn trotz Schubarts Widerspruch (Jahrb. f. Philol. LXXXVII 1863, 308) spricht fast alles dafür, dass bei Pausanias V 17, 4 mit C. O. Müller Καλχηδόνιος statt des überlieferten Καρχηδόνιος zu lesen ist. Von seinen statuarischen Bronzearbeiten ist die berühmteste der mit einer Gans ringende Knabe, infans vi annisus (so Bücheler Archaeol. Zeit. XIV 1856, 221; sex [VI] annis Β² sex anno Β¹ eximia V) anserem strangulat Plin. n. h. XXXIV 84. Mit höchster Wahrscheinlichkeit wird auf dieses Werk eine in mehreren Repliken erhaltene, sicher nach Bronze copierte Marmorgruppe zurückgeführt, die sich durch ungemeine Frische und Lebendigkeit auszeichnet; gute Exemplare im Louvre, in der Glyptothek (Brunn Glypt.⁵ nr. 140. Friederichs-Wolters Gipsabg. nr. 1586), im capitolinischen Museum (Helbig Führer 514); vgl. Furtwängler Der Dornauszieher und der Knabe mit der Gans, Berlin 1876. Dasselbe Motiv zeigte ein von Herondas IV 31 erwähntes, also spätestens aus der 1. Hälfte des 3. Jhdts. stammendes Anathem im Asklepiosheiligtum von Kos – πρὸς Μοιρέων, τὴν (so der Papyrus, die Änderung τὸν ist unstatthaft) χηναλώπεχ’ ὡς τὸ παιδίον πνίγει –; doch kann dieses schon deshalb mit dem in Rede stehenden Werke des B. nichts zu thun haben, weil das Material Marmor und das gewürgte Tier keine gewöhnliche, sondern eine ägyptische Entengans war. Gurlitts Versuch (Arch.-epigr. Mitt. XV 1892, 178), dessen ungeachtet einen Zusammenhang irgend welcher Art mit dem Werk des B. herzustellen, ist daher sehr bedenklich. Eine zweite Arbeit des B. stand im Heraion zu Olympia, die vergoldete Statue eines [605] sitzenden Knaben (Paus. V 17, 4 ἐπίχρυσον, wofür Wieseler Gött. Anz. 1877, 32 unnötig und darum verkehrt ἐπίκυρτον liest). Ohne Zweifel war es ein genrehaftes Anathem, keinesfalls, wie Purgold (Hist. phil. Aufs. f. Curtius 235) annahm, das göttliche Kind Sosipolis, s. über dieses Robert Athen. Mitt. XVIII 1893, 97ff. Overbeck Plast. II⁴ 182ff. will, indem er sich Wieselers Änderung aneignet, auf dieses Werk den Castellanischen Dornauszieher des Britischen Museums (Mon. d. Inst. X 3. Rayet Monuments de l’art I 4 pl. 9 (36). Brunn-Bruckmann Denkm. 322) zurückführen, dessen Naturalismus aber auf eine ganz andere Kunstrichtung hinweist, wie die des Meisters jenes Knaben mit der Gans, ganz abgesehen davon, dass seit der Entdeckung der Olympia-Sculpturen das höhere Alter der capitolinischen Bronze und die Abhängigkeit jener Marmorstatue von dieser heute nicht mehr, wie es früher auch von mir geschehen ist, bestritten werden kann. Eine dritte Knabenstatue, Asklepios als Kind, kennen wir durch die frühestens dem 3. Jhdt. n. Chr., möglicherweise einer noch späteren Zeit angehörige Weihinschrift einer in Rom bei den Traiansthermen gefundenen Basis, nach der ein Arzt Nikomedes aus Smyrna dies Werk des B. dem Asklepios geweiht hat (Loewy Inschr. griech. Bildh. 535. Kaibel Ep. gr. 805 a. IGI 967). Ansprechend hat man vermutet, dass dies Weibgeschenk, gegen dessen Authenticität Kaibel wohl kaum gerechtfertigte Bedenken äussert, in dem von Diocletian nahe bei den Traiansthermen errichteten Asklepiostempel aufgestellt war. Vergleichen lässt sich der kleine Asklepios auf dem Discus aus Studio Altini (Mem. d. Inst. II tav. 4. Matz-Duhn Röm. Bildw. nr. 3615) und etwa auch der auf dem Lateranensischen Brunnenrelief (Schreiber Reliefb. 14. Benndorf-Schoene Lateran nr. 11. Helbig Führer nr. 618). Die Hauptstärke des B. war indessen die Toreutik (argento melior Plin. XXXIV 84); in dem auf Varro zurückgehenden Abschnitt bei Plin. ΧΧΧΙII 155 werden seine Leistungen auf diesem Gebiet denen des Mys und Akragas gleichgestellt, die unmittelbar nach dem unerreichbaren Mentor kommen; vgl. Boethi toreuma Culex 67. Eine besondere Art von Speisesofas, vermutlich mit ciselierter und eingelegter Arbeit, nannte man lecti Boethiaci, Porphyrio zu Hor. epist. I 5, 1 (a Boetho Boethiacos Pauly, aboeoto oboeotos Hs.; a Boeoto Boeotos W. Meyer). Auf Rhodos besass der Tempel der Athena Lindia toreutische Werke von seiner Hand. Ausserdem erwähnt Cicero (Verr. IV 40) eine vorzügliche von Verres geraubte Hydria, die sich mehrere Generationen hindurch im Besitz des Lilybaeers Pamphilos befunden hatte. Hieraus ergiebt sich als spätester Termin für die Lebenszeit des B. die Mitte des 2. Jhdts. v. Chr. Eine genauere Datierung würde gewonnen werden, wenn sich die namentlich von Benndorf, Wolters und Helbig empfohlene Identifizierung des berühmten Toreuten mit dem Βόηθος Ἀθανα[ίωνος] beweisen liesse, der auf einer vor dem Apollontempel auf Delos gefundenen Basis als Künstler einer Porträtstatue des Antiochos IV. (175–164) genannt wird (Loewy Inschr. gr. Bildh. 210. Bull. hell. III 1887, 362 nr. 3. XV 1887, 263). Natürlich bildet die Annahme [606] der Schreibung Καλχηδόνιος die Voraussetzung für diese Hypothese, die Benndorf noch durch den Hinweis zu stützen sucht, dass der seltene Name Ἀθαναίων gerade auf einer Inschrift aus Chalkedon (CIG II 3799) wiederkehrt. Der Stil des Knaben mit der Gans lässt sich mit diesem Ansatz sehr gut vereinigen, der auch durch die Pliniusanalyse empfohlen wird. B. wird nemlich dort in dem Einsatzstück zwischen dem ersten und zweiten alphabetischen Verzeichnis (Robert Arch. Märch. 58) als einziger Nicht-Pergamener neben Isigonos (Epigonos Michaelis), Pyromachos, Stratonikos und Antigonos genannt, danach scheint ihn Xenokrates noch nicht erwähnt zu haben. Andere Forscher wollen hingegen den B., meist aus allgemeinen stilistischen Erwägungen, in das 3. Jhdt. setzen, so Brunn Künstl.-Gesch. II 400; S.-Ber. Akad. Münch. 1880, 484 (anders Künstl.-Gesch. I 500. 501). Furtwängler Knabe mit der Gans 11. Overbeck Plast.⁴ II 181. Collignοn Sculpt. gr. II 603. Umgekehrt will ihn Rayet (Mon. d. l’art I livr. 4 p. 3) ans Ende des 2. Jhdts. hinabrücken, was jedenfalls zu spät ist. Zwei Söhne eines B., Menodotos und Diodotos aus Nikomedeia, werden in einer nur aus Ligorio bekannten und deshalb vielfach verdächtigten Künstlerinschrift genannt (Loewy Inschr. gr. Bildh. 521. IGI 146*). An sich bietet diese keinerlei Anstoss, und die Heraklesstatue, wie es scheint im farnesischen Typus, an der Ligorio die Inschrift auf dem Felsstück unter der Keule gelesen haben will, befand sich nach Aldrovandis Zeugnis (Stat. d. Roma p. 252) zu seiner Zeit in der That an dem von ihm bezeichneten Ort, im Atelier des Bildhauers Lionardo bei S. Marco presso l’Arco di Camillo, ein Umstand, den Loewy mit Recht für die Echtheit geltend macht. Stünde diese fest, so würde bei der Nachbarschaft von Nikomedeia und Chalkedon auch diese Inschrift zu Gunsten der Müllerschen Schreibung Καλχηδόνιος sprechen, wobei freilich dahingestellt bleiben müsste, ob wir es mit den Söhnen des berühmten Toreuten oder des vielleicht von ihm verschiedenen Sohnes des Athenaion oder endlich des unter Nr. 13 zu besprechenden Verfertigers der Statue des Epigonos zu thun haben. Schon aus diesem Grunde ist die Inschrift für die Chronologie des berühmten B. nicht verwendbar; der von Brunn S.-Ber. Akad. Münch. 1880, 484 in dieser Richtung gemachte Versuch basiert auf einer wie es scheint nicht belegbaren modernen Notiz, nach der Chalkedonier bei der Colonisation von Nikomedeia beteiligt gewesen sein sollen, wobei nicht einmal ersichtlich ist, ob die erste Gründung im J. 264 oder die Neubesiedelung im J. 140 gemeint ist. Beachtung verdient übrigens, dass der berühmte attische Theatersessel mit der Tyraunenmördergruppe einem Βόηθος Διαδότου gehört hat, CIA II 1595. Eine zweite, gleichfalls nur auf Ligorio beruhende Inschrift (Loewy 522. IGI 140*) Ἑρμῆς Διόδοτος Βοήθου ἐποί… scheint hingegen sicher, wohl nach dem Muster der eben besprochenen, gefälscht zu sein.
Dass der Toreut B. mit dem Steinschneider desselben Namens Nr. 14 identisch sei, lässt Furtwängler Arch. Jahrb. III 1888, 218 wenigstens als möglich gelten.