RE:Cretio 1
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Erbschaftsantritt vor Zeugen binnen einer Frist, mit bestimmten Worten | |||
Band IV,2 (1901) S. 1708–1710 | |||
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Cretio (zusammenhängend mit κρίνειν, prüfen, Karlowa R. Rechtsgesch. II 896). 1) Ein Erbschaftsantritt vor Zeugen binnen einer bestimmten Frist und mit bestimmten Worten (s. Aditio hereditatis), der nach römischem Rechte durch letztwillige Anordnung des Erblassers für den Erben nötig wurde. Die Frist betrug in der Regel hundert Tage (Gai. II 170. Isid. orig. V 24). doch kommt auch eine solche von sechzig Tagen vor (Cic. ad Att. XIII 46), auch andere Fristen waren möglich, Gai. II 170. Von der C. handeln Varro de l. l. VI 81 cernito, id est facito, videant te esse heredem. VII 98 crevi valet constitui. Cic. ad Att. XI 2. XI 12. Plin. ep. X 79. Gai. II 164–173. Ulp. XXII 25–34. Die bei der C. vom Erblasser gewährte Frist, die nicht mit dem von der Obrigkeit zu setzenden spatium deliberandi (Gai. II 167) zu verwechseln ist (vgl. hierzu Karlowa a. a. O.), konnte auf zwei Arten gesetzt sein, entweder als tempus continuum, cretio continua sive certorum dierum (s. Continuum tempus), d. h. als fortlaufende Frist, oder als sog. cretio vulgaris (nach Gai. II 172 die übliche Art der C.), bei der nur solche Tage mitgezählt wurden, in denen der Erbschaftsantritt dem Antretungsberechtigten möglich war, quibus sciet poteritque; vgl. Cic. de orat. I 101. Gai. II 165. 171–173. Ulp. XXII 31 u. 32. Zweifelhaft ist, was der Gegensatz der c. [1709] simplex ist, von der Cic. ad Att. XI 12 spricht: Galeonis hereditatem crevi; puto enim cretionem simplicem fuisse, quoniam ad me nulla missa est, wozu wohl zu ergänzen ist epistula. Wahrscheinlich war die c. simplex im Sinne Ciceros eine solche, die nicht an besondere Bedingungen geknüpft war (ähnlich Karlowa R. Rechtsg. II 897). Wären solche vorhanden gewesen, so würden wohl die Miterben sie dem Cicero brieflich mitgeteilt haben. Von einer c. libera spricht Cic. ad Att. XIII 46 wohl in einem ähnlichen Sinne. Rein sah in der ersten Auflage dieser Realencyklopaedie unter Cretio in der c. simplex eine unnütze, d. h. wo nichts da war zu cernieren, in der c. libera eine solche, bei der genaue Bestimmungen der Zeit fehlten.
Da die C. an bestimmte Wortformeln geknüpft war, deren Beseitigung die spätrömische Gesetzgebung anstrebte (Leonhard Roms Vergangenheit und Deutschlands Recht 1889, 153), so wurde auch die C. seit Constantin für überflüssig erklärt, zunächst für die Erbschaften besonders nahe stehender Personen, später allgemein, so dass sie ausser Anwendung kam. Cod. Theod. IV 1. V 1, 1. VIII 18, 1, 1. 4. 5. VIII 18, 8, 1 und dazu Gothofredus II p. 695. Cod. Iust. VI 30, 17. Rudorff Anm. r zu Puchta-Krüger Instit.10 II 449.
Nach Gai. II 167 konnte der Erbschaftsantritt auch da, wo eine C. vom Testator nicht angeordnet war, durch C. geschehen. Schulin Lehrb. d. Gesch. des röm. Rechts 440 folgert hieraus und aus Liv. XXIV 25, wo von einem cernere hereditatem regni die Rede ist und XL 8 (vivo me hereditatem meam crevistis), zwei Stellen, in denen offenbar das Wort c. nur in einem bildlichen Sinne verwendet ist, dass eine C. ursprünglich auch für die gesetzlichen Erben nötig gewesen sei; vgl. auch die von Schulin angeführte interpretatio des breviarium Alaricianum ad c. Theod. de cret. IV 1 Cretio et bonorum possessio antiquo iure a praetoribus petebatur, eine Stelle, die wegen ihres Widerspruches mit den angeführten Berichten des Gaius und des Ulpianus wohl kaum etwas beweist. Erst später sei die formlose aditio hereditatis aufgekommen (Schulin a. a. O. 447). Eine ähnliche Vermutung ist schon früher ausgesprochen worden, namentlich von B. W. Leist (Die Bonorum possessio, Göttingen 1848 II 2, 122ff.) und von Karlowa Röm. Rechtsgesch. II 896ff. (auch die bei Leonhard Inst. 354, 5 Angeführten). Karlowa nimmt an, dass die formelle C. ursprünglich die alleinige Erbschaftsantretungsform war, deren Mangel durch usucapio pro herede geheilt werden konnte. So ansprechend diese Vermutungen sind, so ergiebt sich ihr Inhalt doch nicht mit Sicherheit aus den Rechtsquellen. Es ist auch sehr wohl möglich, dass die Erbschaftsantretung noch älter ist als die andern Geschäfte, die aus der Periode des Formalismus stammen, und dass sie aus diesem Grunde formlos und ohne Frist war, dass ferner die Testatoren in der Zeit des Formalismus das Bedürfnis fühlten, der Rechtsunsicherheit zu steuern und deshalb die Antretungsfristen und Antretungsformen der C. festsetzten, dass endlich das neueste Recht ihnen diese Befugnis zwar beliess, aber die stereotyp gewordenen Formeln der C. wie alle [1710] andern festen stilistischen Geschäftsformen wegstrich.
Ein Streben nach Abschwächung der Strenge des Cretionsformalismus hatte sich schon früher darin gezeigt, dass man eine C. nur dann als perfecta ansah, wenn der Erblasser eine Enterbung für den Fall ihrer Nichtbeachtung angedroht hatte, jedoch wohl auch sonst nur dann, wenn der Erbe statt der förmlichen C. wenigstens eine formlose Erbantretung vorgenommen hatte, ihm die Erbschaft zusprach. Hatte aber der Erblasser einen Substituten (Ersatzerben) für den Fall der vom Erben unterlassenen C. ernannt, so erschien es hart, seinen Substitutionswillen darum nicht zu beachten, weil er die Enterbungsformel als Strafe der versäumten C. hinzuzufügen vergessen hatte. Darum schlug man, um den Kampf gegen den Formalismus nicht in sein Gegenteil umschlagen zu lassen, für diesen Fall einen Mittelweg ein und teilte, wenn der Erbe die C. zwar versäumt, aber doch wenigstens in formloser Weise die Erbschaft angetreten hatte, den Nachlass unter dem Erben und dem Ersatzerben. Eine Constitution des Marc Aurel gab ihn jedoch dem Erben auch in diesem Falle ganz, schritt also in der Ungunst gegen die Cretionsform noch weiter vor. Ulp. XXII 34. Gaius trägt noch das ältere Recht vor; vgl. Puchta-Krüger Inst.10 449 q. Litteratur. Karlowa R. Rechtsg. II 896ff. Schulin Lehrb. der röm. Rechtsg. 440. 447. 465ff. 476. Cuq Les institutions juridiques des Romains, Paris 1891, 536, der gleichfalls mit der oben angefochten Ansicht die C. für die ursprünglich alleinige Erbantretungsform hält. Puchta-Krüger Institutionen10 II 448ff. Leonhard Instit. 354, 5.