RE:Exemplum
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Kopie eines Schriftstücks | |||
Band VI,2 (1909) S. 1586–1588 | |||
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Exemplum, von eximere, gewöhnlich erklärt als *exem-lo- mit eingeschobenem euphonischem p (Lindsay-Nohl Die lat. Sprache 310), bedeutet das aus einem anderen Herausgenommene, d. h. für das Buchwesen die einem vorliegenden Schriftstück entnommene Kopie (griechisch ἀντίγραφον, ἀπόγραφον). Meist ist es die Kopie eines Briefes (Cic. pro rege Deiot. 38; ad Att. VII 23, 3. VIII 6. 1. 11, 6. IX 6, 3; ad fam. X 5, 1. XI 11, 1; dagegen ist es pro lege agr. II 53 ‚Beispiel, Vorlage eines Briefes‘) oder einer Urkunde (Cic. Verr. II 182. Cod. Theod. I 8, 17. Paul. Dig. XLIX 14, 45, 6: ipse autem fiscus actorum suorum exempla hac condicione edit). Dann aber sind exempla die Abschriften auch von Werken der Literatur; so sagt Ovid von seinen [1587] Dichtungen (Trist. I 7, 23): Quae quoniam non sunt penitus sublata sed extant Pluribus exemplis scripta fuisse reor. Über die Art, wie solche exempla hergestellt wurden, entweder durch private Abschriften – an solche denkt Ovid – oder durch den Bibliopola, s. Bd. III S. 965. 977. Die Verwendung von e. im Sinne ‚Abschrift‘ hält sich bis in den Ausgang des Altertums; Hss. der ersten Dekade des Livius sind unterzeichnet Nicomachus Dexter v. c. emendavi ad exemplum parentis mei Clementiani (O. Jahn Ber. Sächs. Ges. d. Wiss. 1851, 335); auch im späten Mittelalter finden sich noch Beispiele für diesen Sprachgebrauch: Wattenbach (Das Schriftwesen im Mittelalter³) führt zwei Belege aus dem 11. (469. 576) und einen aus dem 12. Jhdt. (342) an.
Häufiger jedoch werden in derselben Bedeutung verschiedene Ableitungen von e. verwendet. Einmal bildet man mit dem Suff. -ari- das Adj. exemplaris, -e, dessen Plur. exemplares (scil. literae oder libri) im Sinne von ‚Abschriften‘ gebraucht ist bei Tacitus (hist. IV 25 exemplares omnium literarum nach der Lesung des Mediceus; exemplaria ist Interpolation der jüngeren Hss.) und bei Fronto (ep. ad Anton. II 5 p. 107 N.: tres libros ... describi iubebis ... et remittes mihi, nam exemplares eorum ... nullos feci). Das Gebräuchlichste ist aber das substantivisch verwendete Neutrum exemplar (für exemplare, wie Lucrez II 124 schreibt). So haben es z. B. Cicero (ad Att. IV 5. 1), Plancus (Cic. ad fam. X 21, 3: exemplar eius chirographi) und Asinius Pollio (Cic. ad fam. X 31, 6). Bei Horaz (ars poet. 268) spielen die exemplaria Graeca allerdings nach der Bedeutung ‚Musterbeispiele‘ hinüber. Vom älteren Plinius hören wir die später typische Klage von der Unzuverlässigkeit solcher Kopieen (n. h. VI 170 nisi si exemplarium vitium est); auch erwähnt er, als er das in Rede stehende Wort von einem Gemälde gebraucht, den entsprechenden griechischen Terminus (n. h. XXXV 125 huius tabulae exemplar, quod apographum vocant). Bei Plinius dem Jüngeren ist von der fehlerhaften Abschrift einer Urkunde die Rede; sie heißt exemplar testamenti quamquam mendosum (ep. X 70). Derselbe erzählt von einem Buche, das sein Verfasser in exemplaria mille transcriptum per totam Italiam provinciasque dimisit (ep. IV 7, 2): man versteht leicht, wie sich von hier aus durch Übertragung vom Buchwesen auf andere Gebiete der Begriff ‚Exemplar‘ zu der Bedeutung des einzelnen Vertreters einer ganzen Gattung entwickeln konnte. An solche Buchexemplare, wie sie Plinius schildert, schloß sich die emendierende Tätigkeit der antiken Philologen an; Suet. de gram. 24: M. Valerius Probus ... multa ... exemplaria ... emendare ac distinguere et annotare curavit. Da nun eine jede Kopie ihrerseits wieder der Archetypus einer neuen Abschrift sein konnte, so wird exemplar auch in der Bedeutung ‚Vorlage‘ gebraucht; Gellius n. a. VI 20, 6 erwähnt libros scilicet de corruptis exemplaribus factos. In derselben Weise verwendet es Irenaeus am Schlusse eines Werkes (Hieron. Viri illustres c. 35 extr.): adiuro te, qui transcribis librum istum ... ut ... emendes illum ad exemplar, unde transcripsisti, diligentissime; hanc quoque obtestationem [1588] similiter transferas ut invenisti in exemplari.
Wie exemplum wird exemplar gleichfalls als Kunstausdruck des Buchwesens am Ausgange des Altertums (Jahn a. O. 351) vom Mittelalter übernommen, und zwar nicht nur als ‚Abschrift‘, sondern auch als ‚Vorlage‘ (Wattenbach a. O. 656 im Index unter exemplar), ja man ist sogar soweit gegangen, die zweite Bedeutung als die allein richtige festlegen zu wollen. Als man dazu schritt, die Begriffe e. und exemplar gegen einander abzugrenzen, entstand der Merkvers exemplar generans, exemplum quod generatur (Du Cange Gloss. med. et inf. lat. s. exemplar). Unter dem Einfluß dieser Theorie schrieb Salmasius (De modo usurarum 418 der Elzevir-Ausgabe, Leyden 1639): exemplar testamenti idem est quod ipse codex testamenti vel tabulae eiusdem authenticae. quod ex eo exemplari describitur apographum, exemplum est.
Eine zweite Ableitung von exemplum ist mit dem Suff. -ario gebildet: das Adj. exemplarius, dessen Neutrum exemplarium (scil. volumen) in der späteren Latinität der Juristen und Kirchenschriftsteller neben exemplar tritt. So findet es sich auch in den Subscriptionen zu Vegetius: Fl. Eutropius emendavi sine exemplario (Jahn a. O. 344). Dieses exemplarium ist lautlich die Vorlage unseres Fremdworts ‚Exemplar‘. Gleichfalls späte Neubildungen von exemplum sind endlich das Verbum exemplo, -are für ‚abschreiben‘ (ab exemplari exemplatum, um 1290 n. Chr., Wattenbach a. O. 125) und das Nomen agentis exemplator ‚der Buchschreiber‘ (Urkunde der Universität Bologna vom J. 1228, Wattenbach 554).