RE:Plinius 6

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Caecilius Secundus der Jüngere, Neffe des älteren Plinius
Band XXI,1 (1951) S. 439456
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6) C. Plinius Caecilius Secundus, der ,jüngere Plinius‘. –

I. Leben. Die Quellen über P.’ äußere Lebensverhältnisse fließen ziemlich ergiebig. Die Hauptquelle sind seine Schriften, vorzugsweise seine Briefe, deren Angaben durch einige inschriftliche Aufzeichnungen ergänzt werden. Die auf P. bezüglichen Inschriften gibt Schuster S. 446–469 seiner krit. Ausgabe (Teubner 1933); vgl. CIL V 5262. 5263. 5667. XI 5272. Addit. ad vol. V. Gall. Cisalp. 745. Mit Unrecht wird auf den Vater unseres P., seinen Bruder und ihn selbst bezogen die Inschrift CIL V 5279 (so neuerdings Guillemin Ausg. I Bd., Einl.): vgl. W. Otto Zur Lebensgeschichte des jüngeren Plinius S.-Ber. Akad. Münch. 1919, 10. Abh. Wir geben im Nachstehenden eine Transkription des ausführlichsten und wertvollsten der inschriftlichen Zeugnisse CIL V 5262: Gaius Plinius Luci filius Oufentina Caecilius Secundus consul, augur, legatus pro praetore provinciae Ponti et Bithyniae consulari potestate in eam provinciam ex senatus consulto missus ab imperatore Caesare Nerva Traiano Augusto Germanico Dacico patre patriae, curator alvei Tiberis et riparum et cloacarum Urbis, praefectus aerari Saturni, praefectus aerari militaris, praetor, tribunus plebis, quaestor imperatoris, sevir equitum Romanorum, tribunus militum legionis tertiae Gallicae, decemvir stlitibus iudicandis, thermas ex sestertium ... adiectis in ornatum sestertium trecentis milibus ... et eo amplius in tutelam sestertium ducentis milibus testamento fieri iussit, item in alimenta libertorum suorum hominum centum sestertium decies octies centena et sexaginta sex milia cum sescentis sexaginta sex (1, 866. 666) rei publicae legavit, quorum incrementa postea ad epulum plebis urbanae voluit pertinere ... item vivus dedit in alimenta puerorum et puellarum plebis urbanae sestertium quingenta milia, item bybliothecam et in tutelam bybliothecae sestertium centena milia. – Geboren wurde P. zu Novum Comum im Transpadanischen Gallien. Beim Ausbruche des Vesuv (24. VIII. 79 n. Chr.) war er nach seiner eigenen Angabe (epist. VI 20, 5) achtzehnjährig: als sein Geburtsjahr ergibt sich demnach das J. 61 oder 62 n. Chr. Sein Vater starb früh. Daß sein Oheim, der ältere Plinius, der den Neffen durch sein Testament adoptierte, bei der erwähnten Eruption des Vesuv den Heldentod als Forscher fand (wie unser Schriftsteller selbst meinte: epist. VI 16, 19), entspricht übrigens dem heutigen Forschungsstande nicht mehr: denn aus der bezeichneten Epistelstelle läßt sich deutlich herauslesen, daß der beleibte Mann, der in seinen letzten Jahren an schwerem Asthma litt, einem Herzschlage erlegen ist. Im Geburtsorte des jüngeren P. war es in dessen Kinderzeit und auch späterhin um die Unterrichtsanstalten schlecht [440] bestellt; selbst zur Zeit, da er bereits im Mannesalter stand, sahen sich die Einwohner von Comum infolge des Mangels an tüchtigen Lehrkräften genötigt, ihre Kinder in auswärtige Schulen zu schicken (epist. IV 13). Darum ließ ihm sein Adoptivvater, der selbst einen bedeutenden Einfluß auf die Ausbildung seines Neffen nahm, in Rom einen sorgfältigen Unterricht zuteil werden. Seine Lehrer waren die Rhetoriker Nicetes Sacerdos und M. Fabius Quintilianus. Schon in seinem neunzehnten Lebensjahre trat P. als Gerichtsredner auf. Dann widmete er sich der damaligen Sitte gemäß dem Militärdienste und weilte als tribunus militum bei der dritten gallischen Legion in Syrien. Aber das militärische Amt nahm nicht P.’ ganze Zeit in Beschlag: er fand Gelegenheit, philosophische Vorträge (des Artemidorus und Euphrates) zu hören. Von Syrien nach Rom zurückgekehrt, wandte er sich dem Staatsdienste zu. Seine Ämterlaufbahn führte ihn von der Quaestur bis zum Konsulat. Als ihn Traian durch die Übertragung des Augurats auszeichnete, bereitete ihm dies schon aus dem Grunde viel Freude, weil sein großes Vorbild Cicero dieser Priesterschaft angehört hatte. Schließlich erhielt P. vom Kaiser einen Vertrauensposten (epist. ad Trai. 18), die Stelle eines kaiserlichen Legaten in Bithynien (111–112 oder 112–113), die zu einer reichen Korrespondenz zwischen ihm und dem Kaiser Veranlassung bot. Diese Briefe an Kaiser Traian sind die letzten Nachrichten, die wir über P.’ Leben besitzen. Die Zeit seines Todes ist nicht bekannt. Bei der schwächlichen Körperbeschaffenheit, von der uns einige Briefe berichten (z. B. II 11, 15), scheint er kein hohes Alter erreicht zu haben. Wahrscheinlich hat ihn der Tod ereilt, ehe er aus der Fremde zurückgekehrt war (um 113).

Eine vollkommene Neuorientierung auf dem Gebiete der Lebensgeschichte des jüngeren P. brachte die oben genannte Akad.-Abhandlung W. Ottos. Diese tiefschürfende Studie wendet sich vor allem gegen die Ergebnisse von Mommsens Schrift ,Zur Lebensgeschichte des jüngeren P.‘ (Herm. III [1868/69], 31ff. = Ges. Schrift. IV 366ff.), die zwar in manchen Einzelheiten angefochten wurde [1], aber in ihren wesentlichen Resultaten die Zustimmung maßgebender Kritik fand: die Literarhistoriker (s. Teuffel-Schwabe-Kroll , Kroll) schlossen sich Mommsen an und auch bei Dessau (Inscr. lat. sel. 571 zu nr. 2927) und in der Prosop. Imp. Rom. (III 370f.) findet man diese Ergebnisse verwertet. Dennoch dürfen sie keineswegs als gesichert gelten. Dies lehrt Ottos Abhandlung, [441] die einen Teil der Mommsenschen Annahmen geradezu in ihren Grundlagen erschüttert. Indes liegt Otto eine Aufrollung des gesamten mit der Herausgabe des Briefwechsels und der Lebensgeschichte des Epistolographen verbundenen Fragenkomplexes fern; seine Untersuchung gilt zwei Problemen: 1. der Frage nach dem Namen des Vaters und der Geschwister sowie nach dem ursprünglichen Namen des jüng. P.; 2. der Erforschung des zeitlichen Ansatzes der Ämter von der Quaestur bis zum Augurat. Für die Entscheidung des ersten Problems kommen zwei inschriftliche Zeugnisse aus P.’ Heimatorte in Betracht, die dem späteren 1. Jhdt. angehören, nämlich CIL V 5279 (seit langem bekannt) und die erst nach der Veröffentlichung der Mommsenschen Abhandlung im J. 1888 von Pais (Corp. inscript. lat. supplem. Italica, fasc. I: Addit. ad vol. V Galliae Cisalp. nr. 745) mitgeteilte Inschrift. Nach Mommsens Auslegung der erstgenannten, sog. Cilo-Inschrift erscheinen in dieser zwar die Söhne, das Kebsweib und die Mutter des verstorbenen Vaters unseres Schriftstellers genannt, es fehlt aber eine Erwähnung von dessen Frau Plinia, die ihren Gatten überlebte (vgl. epist. VI 16 und 20). Mommsen suchte diese große Schwierigkeit durch die Hypothese wegzuräumen, der eheliche Bund sei bei des Gatten Lebzeiten aufgelöst worden. Dagegen haben bereits Groag (s. o. Bd. III S. 1119 s. v. Caecilius Nr. 40) und Allain (Pline le jeune et les héritiers I 24, 1) scherwiegende Bedenken geltend gemacht, die Otto um weitere vermehrt. Aber mit dem Falle dieser Mommsenschen Annahme fällt auch seine ganze übrige Deutung. Otto zeigt geradezu, daß man keinesfalls an eine sehr nahe Verwandtschaft zwischen Cilo und den beiden von ihm erwähnten Cäciliern denken dürfe und der Inschrift zum mindesten die Existenz zweier Linien der Cäcilier zu entnehmen habe, von denen jede von einem L. Caecilius abstammt. Auch lehrt die neugefundene Inschrift, daß der Beiname Secundus bei den Cäciliern zu Comum üblich war und daß ihn P. nicht erst von seinem Oheim nach der Adoption übernommen, sondern von Geburt an geführt habe: sohin habe bei dieser Namensgebung keinerlei Rücksichtnahme auf des Onkels Namen bestanden, wie Mommsen (S. 395) behauptete. Überhaupt legte Otto einleuchtend dar, daß zur Feststellung allernächster Verwandtschaft gleiche Filiation in keinem Falle ausreiche. – Der zweite, umfangreichere Abschnitt behandelt die Chronologie der Ämter des jüngeren P. von der Quaestur bis zum Augurat. Da nun für diese Fragen einzelne Angaben der plinianischen Briefe die einzige Quelle bilden, untersucht Otto, ob Briefe, in denen verläßliche chronologische Andeutungen fehlen, etwa auf Grund allgemeiner Indizien zeitlich festzulegen sind. Nun wird Mommsens Aufstellung (S. 366ff.), die 9 Epistelbücher seien seit dem J. 97 in chronologischer Folge einzeln veröffentlicht worden, jedes Buch beziehe sich auf einen gewissen Zeitausschnitt (von einem bis zu vier Jahren) und kein Brief in den späteren Epistelbüchern gehöre einem früheren Zeitabschnitte an, einer eindringenden Prüfung unterzogen. Es stehen dieser Hypothese Mommsens P.’ eigene Zeugnisse entgegen; [442] ausdrücklich sagt der Epistolograph (I 1, 1): Collegi epistulas non servato temporis ordine – neque enim historiam componebam –, sed ut quaeque in manus venerat; ferner (I 1, 2): Ita enim fiet, ut eas (epistulas), quae adhuc neglectae iacent, requiram et, si quas addidero, non supprimam. Hier hat der Schriftsteller (in Erwiderung auf C. Septicius Clarus’ Anfrage, gleichgültig, ob diese tatsächlich erfolgte oder fingiert war) geradezu eine Darlegung der leitenden Grundsätze geboten, die er bei der künstlerischen Anordnung seines Epistelwerkes befolgen werde, und nichts hindert uns, an der tatsächlichen Absicht des Autors, diesem Programme treuzubleiben, zu zweifeln. Ja, das von H. Peter (110ff.) nachgewiesene künstlerische Anordnungsprinzip der varietas, das in besonderem Grade für die 9 Epistelbücher des P. Geltung hat, steht mit der Mommsenschen Annahme einer streng chronologischen Gruppierung in schärfstem Widerspruche. Und in der Tat gelingt Otto der unwiderlegliche Nachweis [2], daß die Anordnung der Briefe der einzelnen Bücher keinem chronologischen Gesetz unterliege. So ist z. B. II 1 unmittelbar nach der Bestattung des Verginius Rufus verfaßt und stammt aus dem J. 97; die in II 11 und 12 als Tagesereignis geschilderte Schlußverhandlung im Prozeß gegen Marius Priscus fand (vgl. II 11, 10) unter Traians drittem Konsulat im Januar des J. 100 statt; die Abfassung dieser zwei Briefe erfolgte kurz nachher; hingegen erfolgte die Niederschrift von II 13 unter Nerva: vgl. M. Schultz 14ff. So werden in gewissen Briefen fast aller neun Bücher deutliche zeitliche Indizien nachgewiesen, die geeignet sind, die Annahme eines hier vorwaltenden strengzeitlichen Anordnungsprinzipes als irrig zu kennzeichnen (S. 25–42). Ottos gründliche und fast durchwegs überzeugende Darlegungen nötigen aber auch dazu, gewisse zeitliche Angaben auf literarhistorischem Gebiete, bei denen bisher die Mommsensche Büchertheorie verwertet worden war, einer neuen Prüfung zu unterziehen: hierher gehören die Zeit der Herausgabe der 43. und 48. Rede des Dio von Prusa (vgl. v. Arnim Herm. XXXIV [1889] 376ff.) und die Abfassungszeit der taciteischen Historien (vgl. Schanz Gesch. d. r. L. II 2S, 311f., doch Schanz-Hosius II⁴ 625). – Im Gegensatze zum Anordnungsgrundsatze, der bei den 9 Briefbüchern herrscht, zeigt der Briefwechsel mit Traian chronologische Reihung.

Nach Beseitigung des Zwanges, der durch die Mommsenschen Aufstellungen geschaffen war, vermag sich die Untersuchung unbehindert der Frage nach P.’ Ämterlaufbahn zuzuwenden. Auch hier gelangt Otto zu Ergebnissen, die von Mommsens Annahmen beträchtlich abweichen. Der Verfasser, der hier in sorgsamer Einzelforschung eigene Erkenntnisse und die früherer Gelehrter für seine Zwecke auswertet, setzt folgende Chronologie von P.’ cursus honorum fest: Quaestur: 5. Dez. 91 bis 5. Dez. 92; Vokstribunat: [443] 10. Dez. 93 bis 10. Dez. 94; Praetur: 1. Januar 95 bis 1. Januar 96; Praefectura aerarii militaris: 96 bis erste Monate 98; Praefectura aerarii Saturni: erste Monate 98 bis 1. Sept. 100; Konsulat: 1. Sept. 100 bis 1. Nov. 100; Cura alvei Tiberis et riparum et cloacarum Urbis: Ende 100 oder Anfang 101 bis über den 25. März 101, doch nicht über das J. 101 hinaus; Augurat: 101 bis zum Tode. Es ist hier nicht der Raum, um aufs einzelne einzugehen; doch hervorgehoben sei, daß Ottos Verlegung der Praetur ins J. 95 von W. A. Baehrens für unrichtig angesehen und bekämpft wurde (vgl. Herm. LVIII [1923] 109ff. u. DLZ 1924, 536ff.); dieser tritt für den Mommsenschen Ansatz der Praetur im J. 93 ein. Otto baut seinen Zeitansatz auf einer sprachlichen Deutung von epist. ad Trai. 3 A, 1 auf: Ut primum me, domine, indulgentia vestra promovit ad praefecturam aerarii Saturni, omnibus advocationibus, quibus alioqui numquam eram promiscue functus, renuntiavi, ut toto animo delegato mihi officio vacarem und übersetzt die hier maßgebenden Worte wie folgt: ,Ich habe auf die Übernahme von advocationes, welche ich auch sonst niemals zugleich (vermischt) – nämlich mit meiner Amtstätigkeit – übernommen hatte, verzichtet.‘ Den Grund, warum sich P. als Tribun der Führung von Rechtssachen enthalten habe, erfahren wir aus epist. I 23, 2. Schon darum, so nimmt Otto an, war Mommsen auf einem Irrwege, als er die Praetur ins J. 93 verlegte; auch würde er nach Ottos Ansicht schwerlich an dem J. 93 festgehalten haben, wenn er nicht zu sehr der armenischen Übersetzung des Eusebius, die dieses Jahr für die zweite Philosophenausweisung durch Domitian bietet, vertraut hätte gegenüber der Angabe des Hieronymus, der dieses Geschehnis erst in das J. 95 verlegt. Die zweite Philosophenvertreibung stehe in enger Beziehung zum Sturz des Flavius Clemens und der Flavia Domitilla (dieser nächsten Verwandten des Kaisers), also zur Christenverfolgung: und der neue Ansatz der zweiten Philosophenausweisung führte Otto zu einer neuen zeitlichen Festlegung der Praetur des P., da diese mit ihr zeitlich eng zusammengehe. Beachtenswert sei es ferner, daß Domitian, der P. eine Reihe von Ämtern verliehen hatte (95 die Praetur), im J. 100 im Paneg. des P. von dem Schriftsteller aufs gehässigste geschmäht wird: c. 48, 3 inmanissima belua (vgl. c. 52ff.); es sei darum als schnöde Lüge zu bezeichnen, wenn P. in dieser Lobrede (c. 95, 4) erklärt, er sei in hohem Grade ,invisus pessimo (principi)‘ gewesen: daraus könne man ersehen, daß P. ein niedriger Charakter gewesen sei, dessen Servilismus gegen die jeweiligen Herrscher durchaus an Martial gemahne. Übrigens vermutet Otto, daß P. seinen Angriff auf den Kaiser (Paneg. c. 95, 4) erst bei der Bearbeitung des Paneg. für die Buchausgabe nachträglich eingefügt habe; er verweist für diese Anschauung auf Dieraurer Beitr. zu einer krit. Gesch. Traians, 200ff. 216f. (Buedingers Unters. zur röm. Kaisergesch. I) und auf Mesk Die Überarbeitung des Plinian. Paneg. auf Traian (W. St. XXXII [1910] 243. 252f.).

Mit der Frage der zeitlichen Ansetzung der Praetur des P. befassen sich ferner nachstehende [444] Arbeiten: W. A. Baehrens Zur Praetur des. jüng. P. Herm. LVIII (1923) 109–112. W. Otto Zur Praetur des jüng. P. S.-Ber. Akad. Münch. 1923, Abh. 4. München 1923. (Rez. v. W. A. Baehrens in der DLZ I (N. F.) 1924, 536–538.) W. Otto Zur Praetur des jüng. P. Philol. Woch. XLVI (1926) 732–735. W. A. Baehrens Noch einmal zur Praetur des jüng. P. Philol. Woch. XLVII (1927) 171–174. W. Otto Schlußwort, ebd. XLVII (1927) 511–512. Baehrens unternimmt es, besonders durch Interpretation von Paneg. c. 95, 3 nachzuweisen, daß Otto die Praetur des Schriftstellers mit Unrecht in das J. 95 verlegt. Baehrens prüft die Gründe, die Otto zu dieser Annahme führten, und sucht sie zu widerlegen. Nach Baehrens ist die plinianische Praetur, wie erwähnt, für das J. 93 anzusetzen. Auf Grund des damaligen ordo magistratuum hätte P. schon im J. 95 die Konsulwürde erhalten können, so daß der Sinn der Worte im Paneg. c. 95, 3 postquam professus est (odium bonorum sc. Domitianus), substiti vollkommen deutlich ist, wenn P. im J. 93 die Praetur bekleidete; vgl. auch Baehrens Darlegungen in der DLZ s. o. Insbesondere verweist Baehrens darauf, daß sich bei Ottos Hypothese die bezeichnete Stelle in der Lobrede auf Traian (durch die der Schriftsteller den Anschein erweckt, als ob er in Domitians letzter Zeit auf eine Fortführung seiner Amtslaufbahn verzichtet habe) als Lüge darstelle. Eine solche Verletzung der Wahrheit hätte für P. ungünstige Wirkungen haben müssen. Otto, der schon früher für die Möglichkeit einer solchen Wahrheitstrübung durch P. eingetreten war, stellt dem gegenüber, daß P. bei seiner großen Eitelkeit eine Lüge sehr wohl zuzutrauen war: so habe er, der durch Domitians Gunst Karriere gemacht hatte, kein Bedenken getragen, sich als erbitterten Widersacher dieses Kaisers hinzustellen; dies war eine geradezu handgreifliche, für jedermann offensichtliche Lüge. Ganz anderer Art war die Entstellung der Wahrheit, durch die er das Jahr seiner Praetur verschleiern wollte: hier war die Enthüllung keineswegs so leicht, um so mehr, als er seine Lüge sehr klausuliert vorbrachte. Baehrens hält dem gegenüber, daß er es keineswegs für unmöglich halte, P. die Äußerung einer Unwahrheit zuzutrauen; doch müsse der Zusammenhang, in dem eine solche Lüge vorgebracht sein soll, über eine solche Annahme entscheiden. Nun begegnen die in Rede stehenden Worte in dem feierlich-gehobenen Schlußstück, das sich an die Senatoren wendet, von deren geneigtem Verhalten P. den Erfolg seiner Wirksamkeit abhängig macht. Die Gutheißung seiner Wahl durch den Senat gedenkt er sich zu bewahren (§ 2 ut hunc consensum vestrum complectar et teneam et in dies augeam). ,Seid nur ihr, Senatoren, meinem Vorsatze günstig und vertraut ihm‘, si cursu quodam provectus ab illo insidiosissimo principe ... odium bonorum postquam professus est, substiti. Es ist P.’ offener und ehrlicher Wunsch, daß die Senatoren ihm und seinen Plänen Vertrauen entgegenbringen; und nun ,soll sich derselbe P. zugleich wieder um die Erfüllung seines Wunsches gebracht haben, indem er sie ohne jede Notwendigkeit und nur zu seinem Schaden von einer [445] Bedingung abhängig macht, deren Verlogenheit gerade die Senatoren sofort durchschauten, von denen sicherlich ein größerer Teil nach P.’ eigener Ansicht das Jahr der plinianischen Praetur (trotz der großen Anzahl der Praetoren) genau kannte oder ihm leicht nachrechnen konnte! Müßte nicht gerade nach der Bitte des P., ihm Vertrauen zu schenken, diese Lüge für P.’ eigenes Empfinden wie eine platte Gemeinheit auf die Senatoren wirken, auch wenn sie sie erst in der zu Hause umgearbeiteten Rede lasen (was sich nicht beweisen läßt)?‘ Ferner befaßt sich Baehrens (Philol. Woch. 1927, 172ff.) mit der Deutung von epist. ad Trai. 3 A 1, einer Stelle, die Otto für seine Datierung heranzieht; Baehrens weist nach, daß Ottos Interpretation nicht zutreffend ist, womit die Annahme einer argen Wahrheitsverletzung im Paneg. überflüssig wird. Gegen die letztere Behauptung von Baehrens nimmt 011 o in seinem ‚Schlußwort‘ Stellung. – Uns scheinen die von Baehrens vorgebrachten Gründe gegen die Ansetzung der Praetur des P. für das J. 95 einer sorgsamen Nachprüfung stichzuhalten.

II. Der Mensch und seine Wesensart. P. entstammte einer wohlbegüterten Familie. Er hatte sowohl von der väterlichen wie von der mütterlichen Seite große Besitzungen geerbt und hieß mehrere reizend gelegene, mit allem Komfort ausgestattete Landgüter sein eigen, auf deren Verschönerung er immerwährend bedacht war. Aber wenn ihn auch die herrlichen Villen zu behaglichem Lebensgenusse locken mochten, suchte er doch sein Glück in einer reichen Tätigkeit. Zwar hielt er es nach urrömischer Anschauung für billig, daß der Mann seine beste Kraft dem Staate widme und betrat darum die politische Laufbahn; aber dennoch hat ihn diese Beschäftigung nie vollkommen befriedigt. Auch die Anerkennung, die ihm seine Gerichtsreden eintrugen, genügten dem ehrgeizigen Manne nicht. Schriftstellerisches Schaffen galt ihm für die edelste Tätigkeit und nur der Ruhm, den er auf diesem Gebiete erntete, gewährte ihm den Genuß unbegrenzter Freude (vgl. epist. IX 23).

P. stand nicht nur zu den gebildeten Männern seiner Zeit, dem Epigrammatiker Martialis, dem Epiker Silius Italicus, den Historikern Tacitus und Suetonius sowie zu seinem Lehrer Quintilianus, in freundschaftlichen Beziehungen, sondern genoß auch das besondere Vertrauen des Kaisers Traian. Die einflußreiche Stellung, die ihm durch das kaiserliche Wohlwollen gesichert war, benutzte er dank seines menschenfreundlichen Charakters teils zur Unterstützung seiner Freunde, teils zur Förderung schöngeistiger Bestrebungen oder wohltätiger Zwecke. Von seinen bedeutenden Reichtümern wußte er edlen Gebrauch zu machen: er stiftete in seiner Vaterstadt unter anderem eine Bibliothek und stellte ein bedeutendes Kapital zu deren Erhaltung bei (CIL V 5262, s. o.); er beschenkte Freunde und Bekannte, um sie aus Notlagen zu befreien oder die Erfüllung ihrer Herzenswünsche zu ermöglichen. So gab er einem Freunde dreihunderttausend Sesterzen, damit dieser die Ritterwürde erwerben könne, er erließ einer jungen Frau die Zahlung bedeutender Schulden ihres eben verstorbenen Vaters usw. Die [446] Summe der uns bekannten Schenkungen des P. überschreitet zwei Millionen Sesterzen: vgl. CIL V 5262.

P. war dreimal verheiratet; doch blieben sämtliche Ehen kinderlos. Von seiner letzten Gemahlin Calpurnia entwirft er in seinen Briefen ein anziehendes Bild: vgl. VI 4. VII 5 und o. Bd. III S. 1407, 38ff. s. v. Calpurnia. Seinen Angehörigen erwies er sich als warmfühlender Berater, seinen Freunden bewahrte er Treue, seinen Untergebenen begegnete er mit Wohlwollen und humaner Gesinnung. Seine Sklaven, die in seinem Hause die Rechte des freien Bürgers genossen, pflegte er, wenn sie krank, behandelte er wie gute Freunde, wenn sie gesund waren: epist. V 19. Ja, er stand ihnen gelegentlich sogar mit seinem Vermögen zur Verfügung. In der Beurteilung anderer zeigte sich P. stets milde und kargte gegenüber fremden Leistungen niemals, wo es ihm recht schien, mit dem Zolle aufrichtiger Bewunderung.

Sowohl durch den Zug seiner Seelengüte als auch durch seine Begeisterung für alles Edle und Schöne weiß P. unsere Herzen zu gewinnen. Seinem Naturell nach war er ein ziemlich sanguinischer Mensch, dessen zartes Gemüt auf die leisesten Eindrücke rasch zurückwirkte. Sein Wohlgefallen an den Schönheiten der Landschaft, seine Empfänglichkeit für Naturstimmungen zeigen uns, welch ,modernes‘ Empfinden diesen alten Schriftsteller beseelte. Insbesonders bieten die mit großer Ausführlichkeit und Liebe geschriebenen Schilderungen seiner laurentinischen und toskanischen Villa (epist. II 17 und V 6) beredte Zeugnisse für seinen feinen Natursinn. Aus anderen Briefen (z. B. VIII 8) erhellt, daß P. auch für romantische Naturschönheiten empfänglich war; es ist dies eine Eigenschaft, die man bei den Römern der republikanischen Zeit fast durchweg vermißt und der man auch in der Kaiserzeit fast ausschließlich bei Dichtern begegnet (vgl. Tac. dial. 9 E. und 12 a. A. Plin. ep. IX 10, 2f.). Waldige und bergige Gebiete erschienen ja dem Römer jener Zeit so unfreundlich und unbehaglich, daß ihm der Aufenthalt in solchen Gegenden nur durch längere Gewöhnung erträglich werden konnte: vgl. Cic. Lael. 68.

Auffallend ist auch der jugendatmende, geradezu jünglinghafte Geist, von dem P.’ Briefsammlung durchweht ist. Unverkennbare Merkmale dieser Wesensart zeigen sich in dessen arglos-unbefangenen Anschauungen über Welt und Leben, in der schwärmerisch-verträumten Hingabe an seine Freunde (z. B. I 19. 22. 24. II 1. III 2. 17. IV 4. 12. 15 u. a.), in der feinsittigen, zuvorkommenden Haltung gegenüber der Frauenwelt (III 16. IV 17. 19 u. a.), in der großen Selbstgefälligkeit, wie sie sich besonders in der naiven Freude an seiner Schriftstellerei und seinem literarischen Ruhm kundgibt (I 2. II 19. III 18. IV 5. 14. 16. V 3. VII 4. IX 23), in seinem eifrigen Interesse an der jüngeren Generation (I 3. II 13. III 3. IV 13 usw.), an deren Redekunst und schriftstellerischem Schaffen er jederzeit Anteil nimmt (vgl. I 13. 16. II 10. III 7. 15. IV 3. 18. 20. 27. V 5. 17 u. a.). Insbesondere zeigt auch der Ton, in dem die an Freunde und Bekannte gerichteten Kunstbriefe geschrieben sind, oft ein [447] vollgerütteltes Maß von jugendhafter Einfalt: z. B. I 6. 15. 21. III 12. IV 29. Vgl. E. E. Burriss Class. Weekly XVII (1923/24) 10ff.

Die eben erwähnte Eitelkeit und Neigung zur Selbstbespiegelung, die auch in der sorgsamen Erwähnung aller Wohltätigkeitsspenden deutlich wird, ist die oft bemerkte und gerügte Schattenseite seiner Wesensart. Ein anderer Mangel ist seine ängstliche Veranlagung, die unter anderem auch im Briefwechsel mit Traian stark hervortritt. In zahlreichen Fragen des Alltagslebens, die in Bithynien an ihn herantraten und einer raschen Erledigung durch den Statthalter harrten, traute er sich kein entscheidendes Urteil zu; so mußte denn der Kaiser seinen Beamten, dessen Verwaltungstalent allzu viele Wünsche offenließ, immer wieder durch seinen Rat unterstützen. – Der Anlage seines Wesens dankt aber P. auch sein heißes Streben nach Unsterblichkeit, dem er an einer Stelle seiner Episteln (V 8, 3) beredten Ausdruck verliehen hat: Me ... nihil aeque ac diuturnitatis amor et cupido sollicitat, res homine dignissima, eo praesertim, qui nullius sibi conscius culpae posteritatis memoriam non reformidet. Itaque diebus ac noctibus cogito, si ,qua me quoque possim tollere humo‘; id enim volo meo sufficit, illud supra votum ,victorque virum volitare per ora‘.

III. Werke. Die Schriften des jüngeren P. sind nicht vollständig auf uns gekommen. Verloren sind zunächst bis auf einige Verse alle seine dichterischen Schöpfungen. Es waren dies einerseits Erzeugnisse aus frühester Jugendzeit, so z. B. eine in griechischer Sprache verfaßte Tragödie, eine Elegie auf das Ikarische Meer sowie Versuche in der epischen Gattung: epist. VII 4, 1–3. 7–8. Anderseits waren es Verse, die er im reifsten Mannesalter nach seinem Vorbilde Catullus schrieb und als verspäteten Liederfrühling unter dem Titel Hendecasyllabi erscheinen ließ. Schon die wenigen Verse, die wir von P.’ Poesie besitzen, berechtigen uns zu der Annahme, daß der Verlust dieser Schriften nicht zu beklagen ist. P. war trotz seiner Empfänglichkeit für Poesie und dichterische Feinheiten kein Dichter. Das Versemachen war eben zu seiner Zeit sehr im Schwange, und so brachte auch er der Mode sein Opfer. Nichtsdestoweniger erfreuten sich P.’ Gedichte zu seinen Lebzeiten ziemlicher Beliebtheit: einige Lieder wurden sogar in Musik gesetzt und zur Leier oder Zither gesungen (epist. VII 4, 9).

Als gesuchter und gefeierter Sachwalter hat P. teils in Zivilprozessen (vor dem Zentumviralgericht), teils in großen Kriminalprozessen (vor dem Senate) eine Reihe von Reden gehalten. Wenn diesen Verhandlungen auch ein großes Auditorium beiwohnte, so war ihm dennoch der Kreis der Zuhörer stets zu klein, so daß er sich entschloß, seine Prozeßreden nach sorgfältiger Umarbeitung zum Gegenstande von Vorlesungen (recitationes) zu machen. Nach einer neuerlichen Sichtung wurden dann diese Reden in Buchform der Öffentlichkeit übergeben. Von den sechzehn dieser Buchreden ist außer einigen kärglichen Bruchstücken nur der an den Kaiser Traian gerichtete Panegyrikus erhalten, von dem noch die Rede sein wird.

[448] P.’ Hauptwerk ist die von ihm selbstveranstaltete Briefsammlung in neun Büchern: Epistularum libri novem. Die Briefe sind in der Zeit von 97–109 n. Chr. verfaßt und haben die verschiedensten Persönlichkeiten zu ihren Adressaten. Diese Sammlung enthält aber nicht Privatbriefe, die lediglich für befreundete Empfänger bestimmt, in formeller und inhaltlicher Hinsicht völlig anspruchslos wären. P.’ Briefe sind vielmehr für einen größeren Leserkreis geschrieben, und der Gedanke an die Publikation hat wohl auf die Fassung der meisten vollen Einfluß gehabt (Kunstbriefe, literarische Episteln). Daß mancher dieser Kunstbriefe aus einem Privatschreiben hervorgegangen sein könne, wird man kaum in Abrede stellen dürfen. Ein jeder Brief bildet ein sorgfältig überdachtes, in sich abgeschlossenes, kleines Kunstwerk. P. behandelt innerhalb eines Briefes nie mehr als einen Gegenstand, um die Einheit des Kunstwerkes nicht zu verletzen. Der Inhalt der meist mit guter Beobachtung und bisweilen mit vielem Temperament geschriebenen Episteln erstreckt sich auf die mannigfaltigsten Gebiete des damaligen römischen Lebens. So wird das ganze Werk zu einer schätzenswerten Urkunde der literarischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der traianischen Zeit. Mit dem kunstvollen Aufbau der einzelnen Briefe harmoniert eine dem jeweiligen Inhalte angepaßte, bald einfache, bald gewählte, bald rhetorisch gehobene Darstellung. Die Kunstbriefe des P. haben zahlreiche Nachahmer gefunden und galten in der Folgezeit als Vorbilder des Epistelstils: H. Peter 113ff.

Die Herausgabe des Werkes dürfte allmählich, wahrscheinlich in Gruppen von Büchern, erfolgt sein. P.’ Erklärung, daß er die Briefe ohne Rücksicht auf die Zeitfolge, sondern so, wie sie ihm gerade in die Hand fielen (ut quaeque in manus venerat: I 1, 1), zusammengestellt habe, verdient, was die nichtchronologische Anordnungsweise anlangt, durchaus unseren Glauben: s. o. S. 441f. Im übrigen aber beruht die Reihung der einzelnen Briefe nicht auf Zufälligkeiten, sondern ist vom unverkennbaren Streben des Schriftstellers nach einer künstlerisch geschmackvollen Abwechslung veranlaßt; man wird in dieser Hinsicht an das Anordnungsprinzip römischer Gedichtbücher erinnert; vgl. W. Kroll Studien zum Verständnis der röm. Lit. Stuttgart 1924, 228ff.

Außer diesen literarischen Episteln ist uns nahezu vollständig der Briefwechsel erhalten, den P. als Statthalter von Bithynien mit dem Kaiser Traian geführt hat: Epistularum ad Traianum imperatorem cum eiusdem responsis liber. Hier lesen wir wirkliche Privatbriefe, die vom frischen Hauche der Unmittelbarkeit durchweht sind. Diese Briefe, die man ohne Grund den neun Büchern der Kunstbriefe als zehntes Buch anzugliedern pflegte, dürfen als Muster zweckmäßigen Geschäftsstiles gelten: Kürze, Sachlichkeit, Klarheit des Ausdruckes sind ihre hervorstechendsten Merkmale.

Endlich blieb uns von P.’ Reden die erwähnte Lobrede auf Kaiser Traian, der Panegyricus Traiano imperatori dictus, erhalten. In dieser Rede spricht der Autor für die ihm verliehene Konsulwürde seinen Dank aus und verbindet damit eine verherrlichende Schilderung des [449] Kaisers und seiner Taten. P. hat diese Rede nach damaliger Sitte als Konsul im Senate vorgetragen (1. Sept. 100 n. Chr.) und sie hernach zum Zwecke der Veröffentlichung einer Durchsicht unterzogen. Obgleich der Schriftsteller hier, der Eigenart der Prunkrede entsprechend, die Farben oft allzu licht gemischt hat, bildet diese Rede doch eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte jenes Zeitabschnittes.

IV. Kompositions- und Stilfragen. In einer grundlegenden Abhandlung über den Brief im römischen Schrifttum hat H. Peter die Plinianische Epistel als Literaturgattung dahin erklärt, daß er sie als eine Verselbständigung der in der Rhetorenschule gepflegten Form des Exkurses (παρέκβασις) deutete. Allerdings beobachten wir bei P. eine beträchtliche Vergrößerung des stofflichen Anwendungsbereiches über jene vier von Quintilian (IV 3, 2) gekennzeichneten Hauptgruppen hinaus, indem unser Epistolograph eine erhebliche Anzahl neuer Stoffe, die bald dem schöngeistigen Gebiet, bald der Rechtskunde und dem sonstigen öffentlichen Leben entnommen werden, bald moralischer, antiquarischer oder rein geschäftlicher Natur sind, in den Kreis der künstlerischen Behandlung zieht. Übrigens findet sich bei P. selbst ein ganz deutlicher Hinweis auf die Entstehung seiner im eigentlichen Sinne literarischen Episteln aus der Parekbase (excursus); epist. V 6, 43 liest man: Vides, quot versibus Homerus, quot Vergilius arma, hic Aeneae, Achillis ille, describat; brevis tamen uterque est, quia facit, quod instituit. Vides, ut Aratus minutissima etiam sidera consectetur et colligat; modum tamen servat: non enim excursus hic eius, esd opus ipsum est. Similiter nos e. q. s. – Was das Kompositionsprinzip bei den plinianischen Episteln größeren Umfanges anlangt, so darf man den Ausführungen Peters zustimmen, wonach die Kunstübung der Rhetorenschule und deren Vorschriften auf die Entstehung und Gestaltung der P.-Briefe einen geradezu bestimmenden Einfluß nahmen: hier liegen in der Tat Beispiele des verselbständigten literarischen Exkurses vor. Nun erübrigt aber noch die Beantwortung der Frage, welchen technischen Leitgedanken wir in den Episteln kürzerer und kürzester Ausdehnung walten sehen. Handelt es sich hier etwa um echte kleine Briefchen, die vor der Veröffentlichung bloß einer stilistischen Umformung unterzogen wurden? Die Möglichkeit einer begründeten Antwort auf die Frage, ob der Gedanke an die Publikation auf die Abfassung und Gestaltung aller Briefe der vorliegenden Sammlung einen richtunggebenden Einfluß gehabt habe, muß bestritten werden. Hingegen steht es außerhalb jedes Zweifels, daß die vorliegenden neun Bücher gewollt und bewußt literarischen Charakter tragen. Der formende Grundgedanke bei den kleineren und kleinsten Kunstbriefen liegt darin, daß hier ein Sinnspruch oder ein Gedankenblitz nicht nur zur Verbrämung der Sprache dient, sondern geradezu die Aufgabe hat, ,die ganze Formgebung der Gedanken und der ganzen Kurzepistel zu bestimmen‘: vgl. R. Meister Zur Frage des Kompositionsprinzips in den Briefen des P. Χάρισμα Festgabe zur 25jährigen Stiftungsfeier des Vereins klass. Philologen in [450] Wien 1924, 27–33. Meister berührt sich hierin aufs engste mit der Ansicht, die ich in meinem Kommentar zu epist. II 15 (Wien 1910, 24f.) ausgesprochen hatte: ,Der kurze Brief (näml. II 15) ist insofern von literarhistorischem Interesse, als er für einen bezeichnenden Vorläufer der nachplinianischen Epistolographie gelten kann. Sowohl die Frage nach dem Landgute, das Valerianus im marsischen Gebiet besaß, als auch die nach seinem neuen Kaufe sind im Grunde ganz nebensächlich. Zwei schillernde Sentenzen („nihil – concupiscentibus" und „habent – pudet") haben den Brief veranlaßt, dessen Kern sie darstellen.‘ Eine solche Sentenz ist dann eben gleichsam die Keimzelle des ganzen kleinen Briefes. Sehr passend verweist Meister auf die gleiche Erscheinung bei anderen Erzeugnissen der Kleinkunst, so beim Epigramm, bei der anekdotischen Erzählung, bei der Fabel (freilich, möchte ich hinzufügen, darf man dabei nicht an die älteste Fabelform denken, denn diese ruhte nicht auf einem lehrhaften Satz, sondern war bald ein einfaches Tiermärchen ohne lehrhafte Tendenz oder eine Art kleiner volkstümlicher Erzählung aus dem Reiche des Naturlebens). – Im einzelnen läßt sich noch darauf hinweisen, daß das sentenziöse Moment der Kurzepisteln äußerst mannigfaltige Verwendung findet, um den einfachen Briefinhalt in den Bereich künstlerischer Darstellung zu heben; Beispiele: I 6. II 15. III 17. IV 16 u. 20. V 18. VI 4 u. 9. VII 5. 8. 13. 21. VIII 11. IX 16. 32. 38. Endlich sei die mehrfach beobachtete Gleichartigkeit der Beschreibungen in Statius’ Silvae und in P.’ Episteln erwähnt: beide haben die nämliche Herkunft, die Differenz liegt lediglich im Gebrauche der Versform bei Statius; vgl. Vollmers Statiuskommentar (Lpz. 1898), 26f. und H. Peter 114f.

In einer umsichtigen Studie über die literarische Form der beiden Vesuvbriefe zeigt F. Lillge (Sokrates VI 1918, 209ff. und 273ff.), daß sich P. mit großem Geschick auf die Kunst der Steigerung des Ausdrucks und auf die Erzielung stilistischer Kontrastwirkungen versteht; ja die gesamte Darstellung in VI 16 verrate die wohlbedachte Verwendung nahezu des ganzen künstlerischen Apparates der hellenistisch-peripatetischen Geschichtschreibung; im äußerlichen Aufbau spiegle sie die Formen einer Tragödie wieder, die einzelnen Teile zeigen eine szenenhafte Gestaltung.

Einen Versuch, den Stil der erhaltenen Traianbriefe zur Grundlage einer Charakteristik dieses Kaisers zu machen, unternahm A. Hennemann in seiner Schrift ,Der äußere und innere Stil in Traians Briefen‘ Gießen 1935. Da wir dabei auch wesentliche Gesichtspunkte für den Stil und geschichtlichen Wert des Panegyricus gewinnen, sei hierauf näher eingegangen. Freilich erhebt sich da sogleich die Frage, inwieweit diese literarischen Quellen auf den Herrscher zurückgehen, da ja dessen Kanzlei an der Stilisierung der Briefe ein unleugbarer Anteil zukommt; dies ist ja schon aus dem ganz ungewöhnlichen Umfange seiner offiziellen Briefschaften zu erschließen. Bezüglich der kennzeichnenden Eigenschaften der äußeren stilistischen Fassung dieser Schreiben darf man annehmen, daß [451] der Herrscher durch sein Vorbild und seinen maßgebenden Einfluß die Beamten der kaiserlichen Kanzlei zu einer Stilisierung der Schreiben zu erziehen wußte, die seiner Wesensart entsprach; vgl. in dieser Hinsicht Plin. Paneg. 88, 3: Ac primum neminem in usu habes nisi aut tibi aut patri tuo aut optimo cuique principum dilectum spectatumque; hos ipsos cottidie deinde ita formas, ut se non tua fortuna, sed sua metiantur. So läßt sich z. B. zeigen, daß die Kanzlisten gewisse Ausdrücke der Anerkennung und Aneiferung, deren sich Traian gelegentlich bedient hatte, nunmehr stetig bei den verschiedensten Anlässen gebrauchten. Bleiben beim äußeren Stil der Kanzleitätigkeit den Schreibern auch manche Freiheiten gewahrt, so ist dennoch das Wesentliche hier auf den Optimus princeps selbst zurückzuführen. Der Stil der traianischen Korrespondenz ist durch geschmackvoll-schlichte Kürze gekennzeichnet, wobei die Schlichtheit durch den Charakter Traians bedingt erscheint, während die durch ihre Prägnanz hervorstechende Ausdrucksform allem Anscheine nach auf die wohlgeschulte Kanzlei zurückgeht. Doch werden wir trotz der Betätigung der Kanzlisten bei der äußeren Formgebung der Antwortschreiben den Kaiser als den eigentlichen geistigen Urheber ansehen und diese Briefe als Urkunden seines Wollens, Denkens und seiner Wesensart zu betrachten haben. Der innere Stil der kaiserlichen Reskripte läßt ein Charakterbild erkennen, das ihm nur durch Traian selbst eingeprägt sein kann. Wo immer eine psychologische Stilprüfung einzusetzen vermag, sei es im äußeren oder inneren Stil, stets trifft sie auf eine Ausdrucksweise, die der Individualität des Herrschers vollkommen entspricht; allenthalben wird man eine Persönlichkeit gewahr, die in der Geschlossenheit ihres Wesens nirgends Risse oder Sprünge, Sonderbarkeiten oder Widersprüche bemerken läßt. So vermag man aus der traianischen Korrespondenz ein lebensvolles Bild des Kaisers zu gewinnen und zu erkennen, daß wir nun erst dem plinianischen Panegyrikus wirklich gerecht werden können. Denn bei aller liebedienerischen Lobhudelei und allem höfischen Lakaientum ist doch das, was P. in meist überladenem, schwülstigem Stile an Traian rühmend hervorhebt, an sich Tatsache; und wenn uns P. sagt, er spreche sein Lob aus aufrichtigem Uberzeugtsein (Paneg. 2, 3), so liegt keinerlei Grund vor, ihm darin zu mißtrauen.

Den stärksten stilistischen Gegensatz zum Panegyrikus zeigen P.’ Briefe an Traian. Wenn er es dem Herrscher auch an Kürze und Klarheit der Sprache nicht gleichzutun vermag, so bildet schon das Fehlen jedes Strebens nach kunstmäßiger Verzierung des Ausdrucks den sicheren Beweis dafür, daß P. diese brieflichen Mitteilungen nicht zur Veröffentlichung bestimmt hat. Vgl. noch Norden Die antike Kunstprosa I (3. Abdr. 1915) 282f. 318ff.

V. Überlieferung der Werke. Die drei erhaltenen Schriften des P. zeigen eine gesonderte Tradition: a) Die Sammlung der Kunstbriefe. Einen Markstein in der Plinianischen Textkritik bilden H. Keils Forschungen, deren Ergebnisse in seiner größeren Ausgabe (1870) verwertet sind. Keil wies für [452] die ersten neun Bücher eine aus drei Familien bestehende hsl. Überlieferung nach, die durch innere und äußere Besonderheiten gekennzeichnet sind: sowohl durch die Art des Wortlauts als auch durch den Umfang des überlieferten Textes weichen die drei Klassen beträchtlich voneinander ab. Die erste Hs.-KIasse ist durch zwei Codices vertreten, durch den Mediceo-Laurentianus XLVII 36 (M) saec. X. und den Vaticanus Lat. 3864 (V) saec. IX/X. Keil schätzte diese Familie im ganzen höher ein als die zweite Hs.-Familie, - deren Hauptrepräsentanten der cod. Riccardianus 98 (R), auch Beluacensis (B) geheißen, und der cod. S. Marci 284, jetzt in der Bibl. Laurentiana befindlich (F), sind; Keil kannte B allerdings bloß aus ungenügenden Auszügen, da diese Hs. damals auf unbekannte Art verschwunden war. Die dritte Tradition hat ihren wichtigsten Vertreter im cod. Dresdensis 166 (D), der zwar zum Teil aus dem Florentinus korrigiert ist, aber seine ursprünglichen Schreibungen noch gut erkennen läßt; neben ihm vertreten eine Reihe später Hss. diese Klasse, die in einer Anzahl von Fällen gegenüber den zwei erstgenannten Familien ihren Sonderwert bewahrt. Eine Kernfrage der Textkritik ist es nun, ob die MV-Familie oder die BF-Klasse den Vorzug verdiene, eine Frage, die Schuster in seiner Schrift ,Studien zur Textkritik des jüngeren P.’ Wien 1919 und in einer Reihe von Aufsätzen (s. Ausg. p. XXV) sowie G. Carlsson in der Abhandlung ,Zur Textkritik der Pliniusbriefe‘ Lund und Lpz. 1920 zugunsten von MV entschieden haben. Schon H. Keil verdächtigte die BF-Klasse einer weitgehenden Überarbeitung (vgl. ed. mai. praef. p. XXV), schenkte ihr aber dennoch ein Maß der Beachtung, das bei dieser Wertung der BF-Familie beinahe wundernehmen läßt. Die gegensätzliche Auffassung von der überragenden Güte der (B) F-Klasse hat A. Otto kurz vor der Wiederauffindung des Beluacensis in einem gänzlich in die Irre gehenden Aufsatz (Herm. XXI 287ff.) zu begründen versucht. Otto hat Schule gemacht, und nicht bloß C. F. W. Müller, dessen Ausgabe 1903 erschien, sondern auch Kukula (1908 und 1912²) sowie Merrill (1922) haben diese Anschauung zu ihrem textkritischen Grundsatz erhoben. Und man muß feststellen, daß letzterer diesen Weg noch mit weit größerer Unbiegsamkeit gegangen ist als seine beiden Vorgänger. So haben Otto, Müller, Stangl und Kukula es rückhaltlos zugegeben, daß die Wortstellung in MV dort, wo diese Hss. von BF abweichen, meist den unbedingten Vorzug vor dieser Klasse verdient (propriam quidem librorum MV hanc esse laudem, quod plerumque rectiorem quam ceteri codices praestent verborum ordinem, ... compertum et exploratum habemus: vgl. Kukula ed.² p. V) und ich möchte beifügen, daß sie diesen Vorzug an solchen Stellen so gut wie immer verdient: Merrill folgt aber auch hierin B und F. Wir geben nur einige Beispiele hierfür, die wir beliebig herausgreifen; Merrill liest mit BF I 20, 24 auctoritati tuae debeam; I 24, 4 quantum ille esset mihi; II 1, 12 fortasse aliquos cives; II 19, 5 his accedit; III 9, 37 etiam si aliquid adhuc; IV 5, 2 contigisse scriptis; VI 20, 10 ille idem usw. [453] Eine nähere Prüfung dieser und ähnlicher Stellen zeigt, daß die Lesart in MV eine ausgesprochene lectio difficilior ist, die dort, wo der Schlußrythmus als textkritisches Hilfsmittel in Betracht kommt, auch in dieser Hinsicht zu bevorzugen ist (oder allein in Frage kommt). Es ist übrigens sehr leicht einzusehen, daß die Rezensenten der BF-Überlieferung so oft größere Neigungen entgegenbrachten als dem Wortlaute in MV: zeigt doch gerade die erstgenannte Klasse eine geradezu planmäßige Glättung des Textes hinsichtlich der Wortstellung (was, wie erwähnt, auch die Gegner der neuen Hypothese zugestehen) und des sprachlichen Ausdruckes. Geradezu als Kriterium kann eine Stelle wie epist. V 6, 15 dienen, wo die in M überlieferte Lesart, das ἅπαξ εἰρημένον prominulam durch pro modo longam (BF) ersetzt wird: vgl. aber V 6, 26 prominet enim. So wird in BF so vieles, was Eigenart und Besonderheit hat, oder auch nur sprachliche Geziertheit unseres so selbstgefälligen Schriftstellers ist, in möglichst kantenloses, gutes und flaches Latein umgeformt. Der Grammatikerhand, die hier im Spiele war, kann man mit nichten eine gewisse Geschicklichkeit absprechen, aber gerade in dieser Geschicklichkeit liegt die große Gefahr für den echten, ursprünglichen Pliniustext. Das Nächste ist eben doch nicht immer das Beste, gewiß nicht bei einem so peinlich berechnenden und unermüdlich feilenden Stilisten wie P. Die glättende Korrektorenkunst möchten wir darum für das tiefer liegende, schwerer zu findende Gold des ursprünglichen Wortlautes keinesfalls eintauschen. Diese Neubeurteilung der führenden Hss. MV, die auch durch die Auffindung des aus dem 6. Jhdt. stammenden, bereits in gleicher Weise wie BF verderbten und auch interpolierten Morgan-Fragments (über diese Unzialhandschrift vgl. E. A. Lowe und K. E. Rand A sixthcentury fragment of the letters of Pliny the Jounger, Washington 1922) in keiner Hinsicht erschüttert werden konnte, gilt heute als eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnis. Dennoch wäre es verfehlt, die BF-Tradition gänzlich beiseite zu lassen; denn wenn auch mutwillige Änderungen in der MV-Familie nahezu fehlen, so sind hier doch neben den durchaus nicht seltenen Wortverschreibungen einige Fälle von Interpolation nachweisbar: vgl. meine Ausg. p. IX, not. 1. – Was schließlich den Dresdensis (D) anlangt, so hat dieser Vertreter eines besonderen Überlieferungszweiges trotz seiner späten Entstehung (15. Jhdt.) doch zweifellos an einer Reihe von Stellen altes, echtes Textgut bewahrt: s. meine Ausg. p. XI. Ferner hat sich gezeigt, daß bei einem Auseinandergehen der zwei Hauptzweige (MV und BF) in einer außerordentlich großen Anzahl der Fälle die richtige Lesung bei derjenigen von diesen beiden Hss.-Klassen anzutreffen ist, welcher der Dresdensis Gefolgschaft leistet; er bildet da gleichsam das Zünglein an der Waage. – Neben diesen drei Hss.-Familien kommt den sog. minderen Codices aus dem 15. Jhdt., so dem Ottobonianus Lat. 1965 (o), Urbinas Lat. 1153 (u) und Vindobonensis 48 (x), durchaus untergeordnete Bedeutung zu.

b) Überlieferung des Briefwechsels mit Traian. Unsere jetzigen Textquellen [454] gehen auf einen cod. Parisinus zurück, der verloren ist. Bei diesem mangelhaften Überlieferungsstande gewinnen die Ausgaben des Beroaldus (Ber.) und des Avantius (A), die beide aus dem J. 1502 herrühren und die Briefe 41–121 enthalten, geradezu handschriftliche Bedeutung. Aus dem verlorenen Parisinus stammt auch die Abschrift des Budaeusexemplars (I) für die Briefe 4–40; dabei spielt die von Merrill (Class. Philol. 1907, 129ff.) begründete Scheidung zwischen den alten Korrekturen (i) in dem von E. G. Hardy entdeckten Budaeusexemplar und denen, die Budaeus später an den Rand dazuschrieb (i²), eine nicht unwichtige Rolle. Endlich darf der Kritiker bei den mißlichen Traditionsverhältnissen dieses Teiles der Plinianischen Epistolographie auch den gelegentlichen Wert der Aldina, die in beiden Ausgaben (1508 und 1518²) sämtliche Briefe der Korrespondenz mit Traian bietet, nicht übersehen; vgl. meine Ausg. p. XIIff.

c) Überlieferung des Panegyricus. Die Textherstellung dieser Schrift beruht auf der Tradition des corpus Panegyricorum, in dem sie auf uns gelangt ist. Die grundlegenden Arbeiten zur Erforschung des Überlieferungsstandes haben hier E. und W. Baehrens in ihren Panegyrikerausgaben (1874 und 1911) geleistet. Die maßgebenden Hss. sind der Upsaliensis (15. Jhdt.), mit A bezeichnet, und der aus gleicher Zeit stammende Harleianus 2480 (H); dazu kommen die sog. minderen Hss. (X), die auf ein Exemplar Aurispas zurückgehen, das jetzt nicht mehr vorhanden ist. Alle diese Texte flossen aus einem verlorenen Archetypus, dem cod. Maguntinus (M). Mit Recht gilt A als eine direkte Abschrift von M; aber erst die Auffindung von H (durch E. Baehrens, allerdings erst nach Veröffentlichung seiner Ausgabe der Panegyrici) ermöglichte eine glaubwürdige Rekonstruktion der M-Schreibungen, da sich erst durch den Harleianus feststellen ließ, welche Lesarten des Upsaliensis der Unachtsamkeit des librarius ihre Entstehung verdanken. Für einzelne Abschnitte des Panegyrikus besitzen wir ferner ein Mailänder Palimpsestfragment (R) aus dem 7.– 8. Jhdt., das trotz seines bescheidenen Umfanges für die Textgewinnung Beachtung verdient; vgl. meine Ausg. p. XIII–XV.

VI. Nachleben. Die Kunstbriefe des P. stellten, wie erwähnt, eine neue literarische Gattung dar, und als solche fanden sie in spätrömischer Zeit vielfach Nachahmung: so gestalten die Episteln des Symmachus und des Apollinaris Sidonius diese Kunstform nach, und Sidonius macht bei P. auch manche stilistische Anleihe; vgl. H. Peter 150. E. Geisler im Anhang von Luetjohanns Ausg. des Apoll. Sid. Berl. 1887, 353ff. Im übrigen sind diese Erzeugnisse durchaus in der hergebrachten Art rednerischer Überladung geschrieben und erreichen bei ihrer Inhaltsarmut und ihrem Phrasenreichtum ihr Vorbild in keiner Weise. Auch in einigen Schriften des Neuen Testaments ist P.’ Nachwirkung festzustellen: R. Steck in Jahrb. f. protest. Theol. XVII (1891) 545 und H. Koch in Religio XI (1935) 321f. Die Lobrede auf Traian wurde schon im Altertum ein viel nachgebildetes Muster: das [455] spätere Epigonengeschlecht, die sog. gallischen Paneyriker, ahmten vorzugsweise die Komposition des plinianischen Paneg. nach. Vgl. noch M. Schuster W. St. XLV (1927) 120ff. Über das Fortleben des P. im mittelalterlichen Schrifttum unterrichtet M. Manitius Gesch. der lat. Lit. des Mittelalters Münch. 1911 u. 1923 I 754. II 860 und im Philol. XLVII (1889) 566. Daß die Humanistenzeit an P.’ Briefsammlung nicht achtlos vorüberging, hat E. Sabbadini (Scop. II 242) erwiesen: vgl. Bursian LXIII (1890) 248; ihre Weiterwirkung auf französische Schriftsteller behandelt E. Allain Pline le jeune III 327ff. In seiner Schrift ,Das Kulturleben der Griechen und Römer in seiner Entwicklung‘ Lpz. 1928 zieht Th. Birt eine lehrreiche Parallele zwischen P.’ Briefen und der Epistolographie des Mittelalters und der Neuzeit (S. 404); zutreffend wird hier behauptet, daß Petrarcas Briefe, die sich übrigens formell von P. gelegentlich beeinflußt zeigen, oder selbst die Episteln Humboldts oder anderer moderner Humanisten im allgemeinen auf einer sittlich höheren Stufe stehen als die des P. Und ebenda findet sich die feinsinnige Bemerkung: ,Das Herz des modernen Italieners de Amici‘s schlägt in der Tat schon in P." Es ist für P.’ Briefe bezeichnend, daß Chr. M. Wieland an ihnen Gefallen fand und eine größere Anzahl von ihnen geschmackvoll übertrug (Hempelausg. XXXVII 640ff.); diesen Übersetzungen gab der Dichter eine Reihe von feinsinnigen Erläuterungen bei. Auf die Beschäftigung der westfälischen Dichterin A. v. Droste-Hülshoff mit P.’ Werken wies E. Stemplinger (s. u.) hin. Otto Julius Bierbaum trug sich mit dem Gedanken, eine Gesamtübersetzung des Plinian. Epistelwerkes zu besorgen (,Die Insel‘ III [1902] 151f.). Vgl. auch Gust. Freytags Sportbericht eines röm. Jockeys (Ges. Schriften XVI 398): mit Bezug auf Plin. epist. IX 6. – Literatur: M. Schuster Altertum und deutsche Kultur, Wien 1926, 411ff. E. Stemplinger und H. Lamer Deutschtum und Antike in ihrer Verknüpfung (Aus Natur u. Geisteswelt Bdch. 689), Lpz. u. Berl. 1920, 104. Th. Lenschau Deutsche Kultur im altsprachlichen Unterricht, Münch. u. Berl. 1932, 96f.

VII. Ausgaben und Kommentare. Die ed. princ. der Briefe von L. Carbo Venedig 1471 enthält bloß epist. I–VII, IX; die ed. princ. des Panegyrikus besorgte F. Puteolanus Mailand 1482 (Vened. 1499²). Die ersten vollständigen Ausgaben erschienen ohne Namen des Herausgebers zu Vened. 1485 u. 1495². Von anderen älteren Ausgaben der Kunstbriefe verdienen Erwähnung: editio Romana Ioannis Schureneri 1474; ed. Pomponii Laeti 1490 (kritisch); ed. Beroaldi 1498 (1502²), ed. Catanaei 1506, 1518² (kritisch), ed. Aldi Manuti 1508, 1518² (kritisch wichtig); sachlich von Bedeutung sind die älteren Ausgaben des Panegyrikus von I. Lipsius Antwerpen 1600, I. Arntzen Amsterdam 1738 (Stoffsammlung). Von älteren Gesamtausgaben seien noch genannt: die Ed. von H. Stephanus mit Anm. von I. Casaubonus Paris 1591 und die Rezension von M. Z. Boxhorn Leiden 1653. – Neuere Ausgaben: von H. Keil Große Gesamtausg. mit [456] erklärendem Namenverzeichnis von Th. Mommsen Lpz. 1870 (erste krit. Edition, grundlegend); Ausgabe des Panegyrikus von E. Baehrens Lpz. 1874, wesentlich verbessert durch W. Baehrens Lpz. 1911. Verfehlt in der Bewertung der Hss. sind die Ausgaben von C. F. W. Müller Lpz. 1903 (unzureichender Apparat), von R. C. Kukula Lpz. 1908 und 1912² sowie von E. T. Merrill Lpz. 1922; letztgenannte Ausgabe (mit reichem krit. Apparat) und die durch Konjekturen entstellte Ausgabe von A. M. Guillemin, 3 Bde mit französ. Übersetzung, Paris 1927–1928, enthalten nur die Briefe. Jetzt maßgebende krit. Ausg. von M. Schuster Lpz. 1933. – Kommentare von: M. Döring Freyberg 1843, 2 Bde. (alle Briefe); ausgewählte Briefe erläuterten A. Kreuser Lpz. 1894, 1921³; R. C. Kukula Wien 1903, 1925⁴; M. Schuster Lpz. u. Wien 1909, 1923⁴; A. Waltz Paris 1894, 191311; E. T. Merrill London 1903; J. D. Duff Cambridge 1906 (Buch VI); L. Zenoni Vened. 1908, 1929⁴; V. d’ Agostino Turin 1931. U. Moricca Mailand 1935 (Buch II); K. Lehmann-Hartleben Florenz 1936; H. Poteat London 1937. Die ausführlichen älteren Kommentare des Panegyrikus von Chr. G. Schwarz Nürnberg 1746, C. E. Gierig Lpz. 1796 sowie von F. Dübner-E. Lefranc Paris 1843 (mit französ. Anmerk.) sind jetzt durch die sorgfältige erläuternde Ausgabe M. Durrys Paris 1938 ersetzt worden: vgl. M. Schuster Philol. Woch. LIX (1939), 302ff.

VIII. Allgemeine Literatur (außer den bereits angeführten Schriften). Ein Lexicon Plinianum fehlt. J. P. Lagergren De vita et elocutione C. Plinii Caec. Sec. Upsala 1872. K. Kraut Über Syntax u. Stil des jüngeren P. Schönthal 1872. O. Karlowa Über die in Briefform ergangenen Erlasse römischer Kaiser, Neue Heidelb. Jahrb. VI (1896) 211ff. E. Allain Pline le jeune et ses héritiers 3 Bde, Paris 1901–1902 (mit zahlr. Bildern, Karten u. Plänen ausgestattetes Riesenwerk). C. Bardt Röm. Charakterköpfe in Briefen vornehmlich aus caesar. u. traian. Zeit, Lpz. 1913 (1925²), 317–418. A. M. Guillemin Pline et la vie littéraire de son temps, Paris 1929. N. M. Dragicević Essai sur le caractère des lettres de Pline le jeune, Mostar 1936. G. Pasquali Storia della tradizione e critica del testo, Florenz 1934 (kritisch bedeutsam). M. Schuster Krit. Nachlese zur Briefsammlung des jüngeren P., W. St. LIII (1935) 110ff. J. Mesk Zur Quellenanalyse des plinian. Panegyrikus auf Traian. W. St. XXXIII (1911) 71ff. – Teuffel-Kroll Gesch. d. röm. Lit. III⁶ 1913, 32–38. Schanz-Hosius Gesch. d. röm. Lit. II⁴ 1935, 656–673. Jahresberichte zuletzt: K. Burkhard CLIII (1911) 1–37. M. Schuster CCXXI (1929) 1–63. CCXLII (1934) 9–40; vgl. auch das Literaturverzeichnis in Schusters Ausg. p. XXII–XXVII.

Anmerkungen des Originals[Bearbeiten]

  1. Vgl. H. F. Stobbe Zur Chronologie der Briefe des P., Philol. XXX (1870) 347ff. C. Peter Zur Chronologie der Briefe des jüng. P., ebd. XXXII (1872) 698ff. W. Gemoll De temporum ratione in Plinii ep. IX libris observata, Halle 1872. J. Aßbach Zur Chronol. d. Briefe d. jüng. P., Rh. Mus. XXXVI (1881) 38ff. M. Schultz De Plinii epistolis quaestiones chronol., Berl. 1899. H. Peter Der Brief in der röm. Lit. 101ff. E. T. Merrill On the date of Pliny’s prefecture of the treasury of Saturn, Amer. Journ. of Phil. XXIII (1902) 400ff u. a.
  2. Manches und anderes dieser Art hatten auch schon frühere Bekämpfer der Mommsenschen Ansicht mehr oder minder nachdrücklich betont; vieles hiervon rückt Otto ins rechte Licht, manches korrigiert er.