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RE:Fictio 2

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Tätigkeit der Fantasie, die Anregung zur Annahme einer Sachlage
Band VI,2 (1909) S. 22692271
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2) Fictio ist eine Tätigkeit der Phantasie, durch welche sich jemand eine nicht wirkliche Sachlage als wirklich vorstellt. Dieser Begriff reicht weit über das Gebiet des Rechtes hinaus, findet sich aber auch in diesem weiten Sinne sehr häufig in den Rechtsquellen. So namentlich als Beispielsfiktion, zu der die juristischen Schriftsteller anregen, z. B. Dig. V 1, 18, 1 (finge senatorem esse). VI 1, 38. XIII 7, 8 pr. XX 4. 20 und sonst (f. ist hier das Setzen eines Falles). Auch die betrügerische Simulation heißt f., weil sie zu einer falschen Vorstellung anregt. XL 12. 16 pr. qui finxit se servum et sic veniit.

Im eigentlich technischen Sinne bedeutet jedoch f. die Anregung zu der Annahme einer Sachlage, die der Wirklichkeit nicht entspricht, ohne Täuschungsabsicht mit dem Zwecke, in der erdichteten Sachlage ein Vorbild für den Inhalt eines Rechtsbefehls zu schaffen. So wenn ein Gesetzgeber, eine Obrigkeit oder eine Rechtsregel befahl, in einem bestimmten Falle ebenso zu verfahren, als ob ein anderer Fall vorläge, als er in Wirklichkeit vorlag. Hierher gehörten namentlich die actiones ficticiae, ,eines der wichtigsten Vehikel des subsidiären Reichsrechts‘ (Mitteis Reichsrecht und Volksrecht 1891, 129), Gai. IV 32–34. So namentlich, wenn der Praetor im Formularverfahren dem iudex befahl, so zu urteilen, [2270] als ob eine bestimmte legis actio angestellt wäre, oder zu gunsten des Ersitzungsbesitzers so zu entscheiden, als ob er die Ersitzung vollendet hätte und dadurch Eigentümer geworden wäre, Gai. IV 36 (actio Publicana). Oder, wenn das Gesetz (Lex Iunia Norbana) gebot, gewisse Freigelassene so zu behandeln, als ob sie Latini coloniarii wären, und das Recht ihrer Patrone so, als ob das Gesetz nicht ergangen wäre, Gai. III 56. Ferner, wenn bei der f. legis Corneliae der in die Gefangenschaft geratene und in ihr gestorbene Testator so angesehen werden sollte, als wäre die Gefangennahme nicht eingetreten, Paul. III 4 a. 8. Dig. XLIX 15, 22. Inst. II 12, 5; vgl. auch Gai. III 84 (Beseitigung der Folgen einer capitis deminutio durch f.). Ebenso bei der Rückkehr des Kriegsgefangenen, Inst. I 12, 5 postliminium fingit eum qui captus est semper in civitate fuisse. In allen solchen Fällen, bei denen die f. einem praktischen Zwecke dient, d. h. den Inhalt eines rechtlich gültigen Befehls feststellt, kann man sie mit Dirksen Manuale unter f. eine accomodatio rei ad exemplum alterius nennen.

Aber auch ohne dies zu sein, bediente man sich der F.-Form zu rein theoretischen Zwecken, um die Gleichstellung zweier Fälle zu veranschaulichen, z. B. confessus pro iudicato est, Dig. XLII 2, 6 pr. Nur in diesem Sinne rechtfertigt sich auch die sehr umstrittene Anwendung der f. zu dem Zwecke, die Gleichstellung der juristischen Personen mit den physischen zu erläutern (Literatur s. bei Windscheid-Kipp Pand. I8 § 49 Anm. 7. 8).

Völlig fremd ist dagegen den Römern die Anschauung, daß die Einkleidung irgend einer Rechtsregel in die Form einer f. zur Begründung ihres legislativen Wertes diene, oder daß die f. eine Schöpfung des Gesetzgebers sei, bei der nicht wirklichen Dingen ein wirkliches Dasein gegeben werden kann, z. B. juristische Personen neben physischen hervorgerufen werden. Allerdings kamen auf dem Gebiete des Sakralrechts Fiktionen zum Zwecke eines ,frommen Betruges‘ vor (in sacris simulata pro veris accipiuntur). Demelius Die Rechtsfiction 39, vgl. aber auch 49. 69. Einen Zusammenhang dieser Erscheinung mit der Denk- und Redeweise der Juristen hat man jedoch mit gutem Grunde abgelehnt, v. Jhering Geist d. röm. Rechts II3 514. III3 280. Arndts Krit. Viertelj.-Schr. I 102. Die juristische Ausdrucksweise hält sich auch bei der Verwendung der f. in den Grenzen eines klaren und nüchternen Sprachgebrauchs.

Literatur: v. Savigny Vom Berufe unserer Zeit zur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1814, 12; System des heutigen römischen Rechts II 278. v. Jhering Geist des römischen Rechts III3 280. 301 § 58 n. 425. Demelius Die Rechtsfiction. Weimar 1858; Über fingierte Persönlichkeit. v. Jherings Dogm. Jahrbücher IV 413ff. v. Bülow Civilprocessual. Fictionen und Wahrheiten, Archiv f. civ. Praxis LXII 1ff. R. Leonhard Inwieweit gibt es nach den Vorschriften der Deutschen Zivilprozeßordnung Fictionen? Berlin 1880. Bethmann-Hollweg Civilprozeß II 303ff. § 96. Kipp Kieler Festgaben für Jhering 1892, 31ff. Keller-Wach Röm. Zivilprozeß5 [2271] 137ff. § 31. Pokrowsky Ztschr. d. Savigny-St. XVI 69ff. Bechmann Das ius postliminii und die fictio legis Corneliae, Erlangen 1872 (woselbst der Zusammenhang zwischen F. und Rückziehung besonders klar entwickelt ist). Weitere Literatur s. bei Windscheid-Kipp Pandekten I8 264 § 67 Anm. 5.