Rede bei der zweiten Lessing-Feier in Leipzig

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Autor: Adolf Stahr
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Titel: Rede bei der zweiten Lessing-Feier in Leipzig
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 121–124
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[121]
Rede bei der zweiten Lessing-Feier in Leipzig.
Gehalten am 22. Januar 1861.
Von Adolf Stahr.
Vorbemerkung.

Die Stadt, welche mit der Schillerfeier in Deutschland vorangegangen ist, hat jetzt auch das erste Beispiel eines regelmäßig wiederkehrenden Jahresfestes am Geburtstage Lessing’s, des großen Bewegers von Deutschland, aufgestellt.

Dieses Beispiel fordert zur Nachahmung auf. Möge es an derselben nicht fehlen! Lessing’s Wirken, seine Gestalt und seine Werke, seinen erhabenen Charakter, seinen freudigen Kampfesmuth, seine begeisterte Wahrheitsliebe und Wahrheitsforschung, sein unerschütterliches Ausharren im Kampfe um die höchsten geistigen Güter der Menschheit unserm Volke, das diesen seinen Helden noch weit nicht genugsam kennt, immer näher und näher zu bringen, dazu sind solche Erinnerungsfeste ein unschätzbares Mittel. Mögen sich alljährlich einmal in allen Städten deutschen Landes Männer und Frauen versammeln am Geburtstage des Dichters, der uns den Nathan gedichtet, um sich und andere daran zu erinnern was wir alle diesem Helden des Lichtes und der Wahrheit verdanken. Denn Lessing vor allen muß jetzt unser Führer und Vorbild sein in dem neuentbrannten Kampfe des Lichts wider seine Verdunkler von heute. Und in seinem Zeichen werden wir siegen!

Adolf Stahr.
Hochverehrte Versammlung!

Als wenige Monate nach der verhängnißvollen Schlacht von Jena der große Historiker Johannes Müller in der Hauptstadt des niedergeworfenen und gedemüthigten Preußenlandes die Gedächtnißfeierrede auf Friedrich den Großen, auf den einzigen Mann hielt, an dessen Erinnerung sich der Muth der Schwergebeugten wieder aufzurichten hoffen konnte, da pries er die Sitte, jährlich das Andenken unsrer großen Männer zu erneuern, mit folgenden Worten: „Wenn, mit jedem Jahre neuer Prüfung unterworfen, der Glanz ihres Verdienstes durch keinen äußeren Wechsel, nicht durch den Ablauf mehrerer Jahrhunderte gemindert wird; wenn ihr Name hinreicht, ihrem Volke einen Rang unter den Nationen zu behaupten; wenn immer neu, niemals zum Ueberdruß eine solche Lobrede keiner Künste bedarf, um die Theilnahme großer Seelen zu wecken und die Schwachen tröstend aufrecht zu halten, die im Begriffe sind sich selbst aufzugeben: dann ist die Weihe vollbracht! Ein solcher Mann gehört dann – nicht mehr einem gewissen Lande, einem einzelnen Volke, – er gehört der ganzen Menschheit an, die so edler Vorbilder bedarf, um ihre Würde aufrecht zu erhalten.“

Diese Worte, – auf wen können sie mit größerem Rechte angewendet werden, als auf den großen Deutschen, dessen Erinnerungsfest wir heute an seinem Geburtstage begehen? Von wem können sie mit vollerer Wahrheit gesagt werden, als von dem Manne, dessen Name in der That schon hinreicht, unsrem Volke seinen Rang unter Europa’s Culturnationen zu behaupten? Von dem Manne, dessen Lobredner in Wahrheit keiner Künste bedarf, um die Theilnahme starker, großempfindender Seelen zu erwecken, und die Schwachen und Verzagenden von heute tröstend aufzurichten durch den Hinweis auf sein kampferfülltes, mit Ruhm und Dornen gleichmäßig gekröntes Heldenleben? Von dem Manne endlich, der schon lange nicht mehr blos seinem Volke, sondern der ganzen Menschheit angehört, von Gotthold Ephraim Lessing, der da vor uns steht als –

Das echte Abbild von der Menschheit Adel,
Der treuste Ritter aller Geisteswahrheit,
Ihr Spiegelbild Er Selbst in Sonnenklarheit,
Der Freiheitskämpfer ohne Furcht und Tadel!

Jene Sitte, das Andenken großer Männer durch Jahresfeste zu erneuern, ist jetzt in unserem Volke von den irdischen Königen auch, und mit vollstem Rechte, ausgedehnt worden auf unsere Könige im Reiche des Geistes, auf die großen deutschen Geistesfürsten des achtzehnten Jahrhunderts, diese wahren und echten „Herrscher von Gottes Gnaden.“ Mehr und mehr fühlt sich unsere Zeit von einem tiefen, halb unbewußten Drange getrieben, das berüchtigte Wort von der „Umkehr“ des Geistes und der Wissenschaft auch ihrerseits anzuwenden und zu einer Wahrheit zu machen, das heißt: um und zurückzukehren zu den erhabenen und leuchtenden Gestalten unsrer großen Geisteshelden des verflossenen Jahrhunderts, und aus der vertieftern Erkenntniß ihres Lebens und Strebens, aus dem erfrischenden Born ihrer unsterblichen Freiheitsgedanken Erhebung und Stärkung in schwüler, dumpfer Gegenwart, Vertrauen auf den Genius unserer Nation und Hoffnung auf den endlichen Sieg der Idee, auf den Sieg der Humanität, der Freiheit, Schönheit und Wahrheit zu schöpfen. Solch eine „Umkehr“, die ein Fortschritt zugleich ist, ist auch die Umkehr zu Lessing!

Jemehr ein anderer Hang und Zug unserer Zeit unwidersprechlich als ein Hang zu rohem Materialismus bezeichnet werden muß, je mehr die sich am meisten auf die Oberfläche des Zeitstroms drängende Thätigkeit und das vorwiegende Interesse einer großen Anzahl unserer Zeitgenossen – unbekümmert um die edelsten Güter der Menschheit, auf das Sinnliche und Materielle, auf Gewinn, Vergnügen und eitlen Glanz gerichtet erscheint: um so nothwendiger bedarf unsere Zeit „zur Aufrechthaltung ihrer Würde“ des immer erneuten Hinweises auf jene erhabenen Vorbilder, bedarf sie der Katharsis, der sittlichen Reinigung ihrer niedern Leidenschaften und Triebe durch die immer erneute Aufstellung jener edlen und erhabenen Menschheitsziele, für welche die großen deutschen Geisteshelden des achtzehnten Jahrhunderts, deren verpflichtete Epigonen wir sind, gekämpft und gelitten haben. Denn diese Helden sind es, welche Ernst gemacht haben mit jenem heiligen [122] Gebote, das da lautet: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das Andere Alles zu Theil werden!“ – Dieses „Reich Gottes“ aber ist kein anderes als das Reich der Humanitätsidee, der Bildung zu Freiheit, Schönheit und Wahrheit. Und ein Prophet, ein sieghafter König und Mehrer dieses Reichs Gottes auf Erden, ist uns der Mann, der heute vor hundertzweiunddreißig Jahren unserem Volke und der ganzen Menschheit geboren ward, ist Gotthold Ephraim Lessing, dessen Geburtsfest wir heute in der Stadt, welche die ersten Blüthen seines Geistes sich erschließen sah, in feierlicher Bewegung festlich begehen.

Ja, feierlich bewegt im innersten Herzen muß sich jeder Deutsche empfinden, der heute zurückblickt auf das, was Deutschland und die deutsche Cultur waren in der Zeit, als in der ärmsten der Sechsstädte jener kleinen Provinz, an die für ewig der unsterbliche Name Lessing’s geknüpft ist, in dem armseligen Pfarrhause zu Camenz der Erneuerer des deutschen Geisteslebens geboren ward!

Der Beginn des achtzehnten Jahrhunderts fand in Deutschland ein Volk vor, dem seine große geschichtliche Vergangenheit und das Bewußtsein nationalen Zusammenhangs fremd geworden, dem jede Kraft eines starken Gemeingefühls abhanden gekommen, dem jeder Zusammenhang mit seiner früheren selbstständigen Cultur und damit jedes selbstbewußte Gefühl des eignen Werthes verloren gegangen war. Durch einen dreißigjährigen Religionskrieg waren Wohlstand und Bildung um Jahrhunderte zurückgeworfen worden. Getheilt in unzählige Territorien, belastet von dem Joche eines despotischen Fürsten- und Beamtenregiments, dessen Unkraut auf der wüsten Kriegesbrandstätte wuchernd aufgeschossen war, erscheint das deutsche Volk jener Zeit – verlustig seines einstigen großen historischen Charakters und seiner alten Kernhaftigkeit, verlustig seiner früheren eigenartigen Cultur und Literatur – als ein Volk von Philistern, beschränkt in seinem Leben, verknöchert in seinen Ansichten und Begriffen, verkommen in seiner Literatur wie in seinem ganzen Dasein, auf geistigem Gebiete ebensowenig wie auf dem politischen mitzählend unter den Culturnationen Europas. Spielball und Affe zugleich des Auslandes, ward es gering geachtet, ja verachtet selbst von denjenigen, die es als seine Muster und Vorbilder blind bewunderte und verehrte. Ob ein Deutscher Geist haben könne? war eine Frage, die jenseit des Rheins noch mit entschiedenem Nein! beantwortet wurde, als Lessing bereits in Leipzig seine ersten Flügelschläge versuchte. Der größte König des Jahrhunderts, Preußens Friedrich II., fand keine Literatur in seiner Nation vor, an der sich seine geniale Jugend hätte erwärmen mögen. Denn was konnte ihm eine Literatur bieten, in welcher die „Dichtungen“ eines Gottsched und seiner Jünger als Meisterwerke galten, und eine Sprache, die in ihrer kanzleitrocknen Steifheit und Pedanterie, lächerlich aufgeschnörkelt mit lateinischen und französischen Brocken, nur ein Bild der Verzerrung und des Ungeschmacks darbot? War es zu verwundern, daß seine Jugend sich abwandte von dieser Literatur und dieser Sprache, den Erzeugnissen eines verkommenen und in sich verknöcherten Daseins, in welchem alles ursprünglich eigne Leben erstorben war, wo auf allen Lebensgebieten hergebrachte, theils veraltete, theils fremde Formen despotisch herrschten, jeden lebendigen Trieb und Keim in der Geburt erstickend und dem ganzen Dasein der Nation das uniforme Gepräge eines langweiligen, bezopften und bepuderten Philisterthums aufdrückend?

Und nun – blicken wir aus jenen Tagen, wo der Studiosus Lessing in den Mauern dieser Stadt weilte, nur fünfzig[WS 1] Jahre vorwärts, und wir sehen diese klägliche Gestalt des deutschen Geisteslebens wie mit einem Zauberschlage geändert. Eine Revolution war vollbracht worden in diesem deutschen Geistesleben, wie die Welt kaum eine zweite gesehen, und beispiellos wie sein Fall war auch die Erhebung des deutschen Geistes. Noch war das letzte Jahr des achtzehnten Jahrhunderts nicht abgelaufen, da zählte das verachtete Deutschland bereits wieder geistig mit unter den Culturnationen Europa’s; da hatte es die Fesseln der geistigen Fremdherrschaft zerbrochen, hatte es aus ureignem Geiste eine neue Nationalliteratur und in den Werken derselben eine Sprache geschaffen, welche, an Adel und Würde und Vielseitigkeit des Ausdrucks keiner andern nachstehend, an Bildungsfähigkeit und Schmiegsamkeit im Wiedergeben fremder Geisteserzeugnisse allen voran stand; hatte es endlich seine gesammte Denkart emporgehoben zu den Idealen freier und schöner Humanität und im Gebiete des Gedankens mit kühnem Fluge eine Höhe der Freiheit erreicht, zu der noch heute die andern Nationen verehrend emporblicken.

Ja, eine Revolution war vollbracht worden in dem deutschen Geistesleben, und an der Spitze dieser glorreichsten aller Revolutionen steht Lessing da, Lessing, „das Revolutionsgenie“, wie ihn der Geschichtsschreiber der deutschen Nationalliteratur genannt hat; Lessing, der Pfadfinder des Geistes, der durch das wuchernde Gestrüpp und Schlingkraut dessen, was damals deutsche Literatur und Dichtung hieß, mit scharfer Sichel nach allen Seiten freie Pfade öffnete und die Merk- und Richtsteine setzte für die nach ihm Kommenden; der den Despotismus der französischen Geschmacksregel niederwarf und die ewigen Gesetze der Natur und Wahrheit an ihre Stelle setzte; der den Deutschen das Alterthum und Shakespeare erschloß und ihnen die Wissenschaft vom Schönen – die Aesthetik – und die Wissenschaft der Erkenntniß des Wahren und Falschen – die Kritik – neu erschuf, und beide durch Schöpfungen erläuterte und bewährte, die noch heute die Freude Aller und der Stolz unserer Literatur sind; der endlich, wie durch Wort und Schrift, so durch Leben und Beispiel alle Pedanterie und unfruchtbare Schulgelehrtheit, alle Engherzigkeit und Philisterei, alle Unfreiheit und knechtische Gesinnung, alle religiöse Unduldsamkeit und theologischen Zelotismus, so wie alle Halbheit liberaler Vermittlung mit dem siegreichen Schwerte seines Geistes bekämpfte, und so auf allen Gebieten die Deutschen mit seiner starken Hand emporriß aus ihrer Schlaftrunkenheit und schlaffen Selbstgefälligkeit zum Bewußtsein ihrer schlummernden Kräfte und ihrer geschichtlichen Aufgabe. –

So steht Lessing an der Spitze der Epoche unserer geistigen Wiedergeburt, und sein Name ist es, nach dem sie für immer genannt werden wird. Und wenn das alte hellenische Wort wahr ist, das den schweren Anfang die Hälfte und mehr als die Hälfte des Ganzen nennt, so wird keine Geschichtsschreibung unseres nationalen Lebens Lessing jene Ehre versagen können. Wohl strahlen Goethe’s und Schiller’s Namen mit hellerem Glanze in der Geschichte des deutschen Geistes und der deutschen Literatur. Aber ohne Lessing, als dessen siegreiche Epigonen sie dastehen, – welche Kräfte hätten sie verschwenden müssen, um nur die Stätte zu gewinnen, die Lessing ihnen mit seiner Arbeit bereitet hatte! Sie waren die Glücklicheren, denen es beschieden war, in die noch frischen Furchen, die er mit scharfem Pfluge in dem verwilderten Boden aufgerissen hatte, die goldene Saat ihres Wirkens und Schaffens säen zu können! Daß aber diesen Heroen ein glückliches Geschick einen Lessing als Vorläufer sendete, der die Nation emporhob aus ihrer mehr als hundertjährigen Verdumpfung und Versunkenheit, das war zugleich das größte Glück, welches unserem Volke seit langen Zeiten widerfahren war. –

Der große Beweger seines Volkes hatte keinen ihm ebenbürtigen Bundes- und Arbeitsgenossen unter den literarischen Männern seiner Zeit, und es gab Stunden, wo das Bewußtsein seiner Vereinsamung schwer auf dem Starken lastete. Wohl aber hatte er einen solchen an dem großen Herrscher, dessen Name bisher in der Schilderung von Lessing’s Lebensgange und Schicksalen nur mit Schmerz von dem Biographen genannt worden ist, mit Schmerz darüber, daß der große preußische Friedrich den einzigen Mann nicht beachtete, nicht erkannte, der unter seinen Augen gleich große, ja größere Thaten vollführte, als er selbst auf der Höhe seines Thrones und an der Spitze seiner Heere; daß er es verschmähte, den Mann zu dem Seinen zu machen, den er allein von allen Herrschern Europa’s den Seinen zu nennen würdig gewesen wäre. Aber dennoch war Friedrich II., wenn auch ohne es zu wissen, ein geistiger Bundesgenosse und Mithelfer Lessing’s an dem Werke der Erweckung und Erhebung des deutschen Geistes. Lassen Sie mich bei dieser Betrachtung einige Augenblicke verweilen.

Die Männer, welche Ihrer Stadt diese Lessingfeier geschaffen haben – welche in allen Städten unseres Vaterlandes Nachahmung zu finden verdiente, haben mir, indem sie mich würdig achteten, bei dieser Feier den Manen des Unsterblichen die schwache Huldigung meines Wortes darzubringen, die höchste Ehre erzeigt, welche freie Männer allein einem freien Manne erweisen können; denn Ehre kommt jedem nur von Seinesgleichen. Und indem sie an mich, den preußischen Deutschen, diese Ehrenaufforderung ergehen ließen, schienen sie mir zugleich Anlaß und Berechtigung zu geben, den Namen des größten Preußenkönigs zusammenzurücken mit dem Namen des größten sächsischen Geisteshelden. Gestatten [123] Sie mir daher, anzudeuten, wie der große Sohn Preußens mit dem größeren Sohne Sachsens geistig Hand in Hand gegangen und ihm unbewußt ein Helfer geworden ist an seinem Lebenswerke.

Man faßt den großen Preußenkönig nicht nach seiner vollen Bedeutung auf, wenn man ihn nur als den Begründer der preußischen Staatsmacht und ihrer politischen Weltstellung, und daneben als einen aufgeklärten Regenten betrachtet. – Viel bedeutender steht er zunächst in der Geschichte unseres deutschen Volkes da, als Wiedererwecker der ersten Regungen deutschen Nationalbewußtseins, als die erste große Persönlichkeit, im Hinblick auf welche der Deutsche als solcher seit lange wieder einmal jenen edlen Stolz empfinden konnte, den Lessing in seinem Volke zu erwecken so unablässig beflissen gewesen ist.

Wir wissen aus Goethe’s biographischen Jugendbekenntnissen, wie „der Enthusiasmus für den offenbar über alle seine Zeitgenossen erhabenen Mann, der täglich bewies und darthat, was er vermöge,“ sich durch ganz Deutschland und selbst in den stillen, abgeschlossenen Kreisen des Frankfurter Lebens geltend machte, und wie in der alten Krönungsstadt der deutschen Kaiser die Begeisterung für diesen Empörer gegen Kaiser und Reich selbst Familien und Befreundete zu erbitterter Parteinahme auseinanderriß. So waren der Knabe Goethe und die nächsten Seinen, wie er in „Dichtung und Wahrheit“ sagt, „Fritzisch gesinnt“; „Fritzisch“, fährt Goethe fort, „nicht preußisch! denn was ging uns Preußen an? Es war die Persönlichkeit des großen Königs, die auf alle Gemüther wirkte.“ – Und wie der Knabe Goethe die fliegenden Blätter der Siegeslieder auf die Thaten des großen Königs und die Spottlieder auf seine Feinde und Gegner eifrig abschrieb, so stand auch dem in Leipzig studirenden Jünglinge Goethe Friedrich II. noch immer über allen vorzüglichen Männern des Jahrhunderts. Selbst das Elend und die Gräuel, mit welchen der langjährige Krieg einen Theil Deutschlands so schwer heimsuchte, konnten diese Begeisterung nicht mindern. „Die Siege, die Großthaten, die Unglücksfälle, die Wiederherstellungen folgten auf einander, verschlangen sich, schienen sich aufzuheben; immer aber schwebte die Gestalt Friedrich’s, sein Name, sein Ruhm in Kurzem wieder oben“.[1] War es doch seit Jahrhunderten das erste Mal, daß ein deutscher König über auswärtige Feinde Siege erfocht, die das deutsche Nationalgefühl erwecken konnten! Es war ein Großes für diese Erweckung des deutschen Selbstgefühls, daß Friedrich die prahlerischen Franzosen, die übermüthigen Verächter alles Deutschen, bei Roßbach zum Hohn und Spott der Welt machte – zehn Jahre bevor Lessing ihrer geistigen Despotie über Deutschland ihr Roßbach angedeihen ließ – und daß sächsische Bauern auf der Siegesstätte der Preußen ein Denkmal errichteten. Daß er die räuberischen Erbfeinde Deutschlands demüthigte, daß er die barbarischen Horden Rußlands niederwarf, daß er, er allein, einer Welt in Waffen sieben Jahre lang, ungebeugt und letztlich siegreich, Trotz bot: das ließ viele Deutsche vergessen, was der Krieg Schreckliches über sie brachte. Das war es, was sie in dem Empörer wider Kaiser und Reich vielmehr nur den muthigen, aufstrebenden Helden sehen ließ, der über die niedergeworfenen Schranken des Hergebrachten hinweg dem instinctiven Drange seines Geistes nach freier Entfaltung seiner Kraft und eigener Gestaltung und Erfüllung seines Lebens und seiner Lebensaufgabe mit kühnem, auf sich selbst allein gestellten Muthe folgte. Das war es, was die Gemüther der Menschen jener Zeit unwillkürlich auf Friedrichs Seite zog; das war es, was die Tellheims, wie Lessing sie schildert, unter seine Fahnen trieb, und was den Sachsen Lessing hinzog zu dem Verwüster seines Vaterlandes. Das endlich war es, was einen Goethe aussprechen ließ: daß durch Friedrich den Großen und die Thaten des siebenjährigen Krieges der erste wahre und höhere, eigentliche Lebensgehalt in die deutsche Poesie und mit ihr in die lebendige Seele der Nation gekommen sei, und daß dadurch das protestantische Deutschland für seine Literatur einen Schatz gewonnen habe, welcher der Gegenpartei fehlte. Neben solchem Verdienste um die Erweckung des deutschen Nationalgefühles sind es weiter besonders zwei Gedanken, welche den großen Preußenkönig als den Vorläufer und Mitstreiter Lessing’s bezeichnen.

„Ein Mensch, der die Wahrheit sucht und sie liebt, muß unter aller menschlichen Gesellschaft werth gehalten werden!“

Mit diesem herrlichen Ausspruche hatte Friedrich wie mit einem strahlenden Sonnenaufgange seinen Regierungsantritt und seine erste Regierungshandlung, die Zurückberufung des von seinem Regierungsvorgänger schimpflich vertriebenen Philosophen Wolf begleitet. Diese Werte enthalten den innersten Lebenskern des Princips der freien Selbstthätigkeit und der souveränen Berechtigung des nach Erkenntniß der Wahrheit strebenden Menschengeistes über die Welt des Gegebenen um ihn her.

Der zweite berühmte Ausspruch des großen Herrschers ist nur eine nothwendige Consequenz jenes ersten. Er lautete:

„Alle Religionen müssen tolerirt und ein jeder muß nach seiner Façon selig werden.“

Mit diesen beiden Sätzen, die seine Macht in seinem Staate aufrecht erhielt, so lange sein klares Auge über Preußen wachte, tritt Friedrich ebenbürtig hin neben seinen größten Zeitgenossen, als dessen Vorläufer er damit auf dem Gebiete der Geistesfreiheit erscheint. Das Wort Friedrichs von der höchsten Werthachtung, welche unter aller menschlichen Gesellschaft dem muthigen Wahrheitforscher gebühre, dieses herrliche Wort, das unsere Zeit noch lange nicht eingelöst hat, ist es nicht gleichsam das Motto der Lessingschen Schriften zur Vertheidigung des Verfassers der Wolfenbüttelschen Fragmente gegen die Götze von damals, deren Saat eben jetzt wieder so wuchernd emporschießt? Und jenes andere Wort des großen Königs – ist es nicht, in unscheinbarer Form, der Grundgedanke des Nathan, des erhabensten Werkes, das Lessing seinem Volke und der Menschheit hinterlassen hat?

Es wird eine Zeit kommen, und sie ist nicht mehr allzuferne, in welcher man von Friedrich nur noch das wissen und preisen wird, was er im Sinne des größten deutschen Geistes seiner Zeit, als Lessing’s dienender Helfer gethan und gewirkt hat. Es wird eine Zeit kommen, wo all der blutige Ruhm der Schlachten und Kampfthaten des siebenjährigen von Bruderblut befleckten Krieges in dämmernden Schatten gehüllt und nur noch etwa einem Specialhistoriker bekannt sein wird. Aber die Heldenthaten des Geistes, welche Lessing, der Tapferste der Tapfern, für die Befreiung des menschlichen Geistes aus den Fesseln des Irrthums und der Intoleranz vollbracht hat, – sie werden nimmer vergessen werden. Nein! dieser Thaten Ruhm wird vielmehr nur immer höher steigen unter den Geschlechtern der redenden Menschen, in je weiteren Kreisen unseres Volkes diese Thaten gekannt und nach ihrem Werthe erkannt werden. Und ist es nicht jetzt schon die höchste Huldigung, welche dem Genius dargebracht werden kann, wenn schon heute gesagt werden darf, daß der höchste Ruhm des größten Königs seines Jahrhunderts darin besteht, daß er zu seinem Theile ein Mitstreiter Lessing’s gewesen ist? Fürwahr! es wird hinfort kein deutscher König mehr im Herzen und in der Geschichte des deutschen Volkes fortleben, der nicht sich würdig macht, daß dereinst von ihm gesagt werden könne, er habe sich und sein Thun erfüllt mit einem Hauche Lessingschen Geistes! –

Gleiches zieht das Gleiche an. War es ein Wunder, daß Lessing sich angezogen fühlte von Friedrich? Daß Er, der immer auf sich selbst Gestellte, Er, der Charakter im Vollsinn des Wortes, die Größe der charaktervollen Persönlichkeit des auf sich selbst gestellten Königs empfand? Aber auch Lessing, der Sachse, war, wie Goethe, der Frankfurter Patriziersohn, eben nur „Fritzisch“ gesinnt, nicht preußisch. Er, der keine Ader von Localpatriotismus besaß und anerkannte, wohl aber deutschen Patriotismus hegte, sich als Deutscher empfand in einer Zeit, wo deutscher Patriotismus seinen meisten Volksgenossen ein vollständig fremder Begriff war, – er, dessen Geburtsland der Krieg verwüstete, er trug sich während dieses Krieges hier in Leipzig mit dem Erfolge einer Ode auf den großen Preußenkönig. Er, der in Leipzig als Preußenfreund verdächtigt wurde, während er in Berlin als eingefleischter Sachse angesehen ward, – er sehnte sich von Leipzig fort nach Berlin, wo er (wie er seinem Freunde Gleim schrieb) „nicht länger nöthig haben werde, es seinen Bekannten ins Ohr zu sagen, daß der König von Preußen dennoch ein großer König sei.“ Er wußte wohl, warum er so fühlte und empfand. Er schrieb in sein Tagebuch: „Ich beneide alle jetzt regierenden Könige, den einzigen König von Preußen ausgenommen, der es einzig mit der That beweist: Königswürde sei eine glorreiche Sclaverei.“ Schon als Jüngling hatte er in Berlin den großen Regenten besungen, aber als einen solchen, „dem es ein Glück sein würde, wenn sein Volk [124] seiner schon werth wäre“. Das heißt mit andern Worten: wenn selbst ein so erleuchteter Despotismus für dasselbe entbehrlich wäre. Wem fällt nicht als Commentar hierzu das schwermüthige Bekenntniß des sterbenden Königs ein: „Ich bin es müde über Sclaven zu herrschen!“

So urtheilte Lessing über Friedrich, über den König, der ihn nicht kannte, nicht beachtete, und dessen Schwächen und Mängel er selbst schärfer als die meisten andern Zeitgenossen durchschaute, er, der mit seinem persönlichen Interesse das Opfer dieser Schwächen und Mängel wurde. Aber Lessing sah und ehrte in ihm den Helden und den Charakter, weil er selbst Beides, ein Held und ein Charakter, war.

Friedrich und Lessing, die Großen, waren groß, eben weil sie Charaktere waren. Denn der Charakter ist es, der den Menschen groß macht. Charakter nennen wir jenen Inbegriff von Grundsätzen des Handelns, der, durch immer neue Anwendung „im Strome der Welt“ ausgebildet und gewählt, stark genug ist, dem Wollen und Handeln des Menschen in jedem einzelnen Falle und siegreich gegen jeden Widerstand seine unerschütterlich feste Richtung zu geben. Durch den Charakter erst gewinnt der Mensch die innere Freiheit, gewinnt er die Würde des Bewußtseins, welche „Männerstolz vor Königsthronen“ verleiht, oder, wie Lessing es ausdrückt, die Würde, welche den freien Mann berechtigt, zu einem Könige zu sprechen: „Wenn auch mächtiger als ich, darfst du dich darum doch nicht besser dünken.“ Der Charakter ist die Basis und Voraussetzung aller Freiheit, auch der politischen. Das meinte Lessing, als er am Schlusse seiner Dramaturgie bitter klagend ausrief: „Ueber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu schaffen, da wir Deutschen noch keine Nation sind! Ich rede nicht (fährt er fort) von der politischen Verfassung, sondern blos von dem sittlichen Charakter.“ Jenes kleine Wörtchen „blos“ ist bedeutungsvoll. Denn dies eine Wort drückt aus, daß der sittliche Charakter eben die Vorbedingung und Grundlage der wahrhaften Nationalität und ihres Ausdrucks in einheitlicher und freier nationaler Verfassung und Selbstständigkeit ist.

Zu dieser Vorbedingung aber, uns Deutsche zu erziehen, ist Keiner so geeignet als derjenige Mann, der vor allen Deutschen, nicht blos seines Jahrhunderts, dasteht als das unübertroffene, ja unerreichte Musterbild eines Charakters. „Ein Charakter wie Lessing thäte uns noth“, – klagte der greise Goethe am Abende seines Lebens im Hinblick auf die von der romantischen Reaction niedergedrückte Nation; „aber wo ist jetzt noch ein solcher Charakter!“ Sagen wir Alles in Allem: Lessing ist der deutsche Charakter, wie er sein soll, und darum war er und ist er uns in einer sclavischen Zeit der Freiste der Freien. Darum war er in einer Zeit, wo es ein Deutschland noch nicht gab, – selbst ein literarisches noch nicht, das er erst schaffen sollte – ein Deutscher, würdig des Deutschlands und der Zeiten, die auch uns erst noch kommen sollen, und die da sicherlich kommen werden, wenn die Saaten, die Lessing gestreut hat, voll und ganz aufgegangen sein werden in den Herzen aller deutschen Volksgenossen!

In Lessing’s Charakter liegt das Geheimniß der Macht seines Wirkens, dessen Umfang ich hier nicht weiter zu schildern brauche, weil ihn an dieser Stätte die beiden Festredner des vorigen Jahres mit meisterhaften Zügen dargelegt haben[2]. Der Charakter ist es, der Lessing immer noch größer erscheinen läßt, als jedes, auch das größte seiner Werke. Sein Genie, seine Thaten sind uns unerreichbar. Aber seinem Charakter können und sollen wir nachstreben; seine erhabenen, in keinem Augenblicke seines Lebens verleugneten Grundsätze des Wollens und Handelns, seine feurige Wahrheitsliebe, seinen unerschütterlichen Wahrheitsmuth, seinen Muth nicht der kupplerischen halben, sondern der ganzen Wahrheit, die können und sollen wir uns zu eigen machen!

Man hat unsere Zeit wohl geringschätzend „eine Zeit der Epigonen“ genannt. Nehmen wir diese Bezeichnung an, aber erinnern wir uns, woher dieser Name stammt. Er bezeichnete einst in den hellenischen Heroenzeiten die Nachkommen der im rühmlichen Kampfe vor Theben gefallenen Helden, er bezeichnete jene tapferen Söhne, die sich an dem Heldenthume ihrer Väter zur Wiederaufnahme und Vollendung des Werks begeisterten, das ihre Väter unvollendet gelassen. Und diese „Epigonen“ waren es, welche die feste Burg des Kadmos eroberten. Wohlan denn! Unsere glorreichen Vorfahren, Lessing voran, haben uns die Rüstung und Waffen geschmiedet, mit denen allein die festen Burgen der Geistesknechtschaft, der Inhumanität und Intoleranz bezwungen werden können. Brauchen wir diese Rüstung, diese Waffen! Sammeln wir uns Alle, – alle Söhne Deutschlands – unter dem Paniere des Kampfes für die Geistesfreiheit, das uns Lessing’s unsterbliche Gestalt vorträgt! Und weil wir denn Epigonen sind, lassen Sie uns streben gleich jenen alten, werth unsrer Väter – siegreiche Epigonen zu sein! –



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fünzig
  1. Goethe: Werke XXIV., 112.
  2. Man s. „Die erste Lessingfeier in Leipzig“. Herausgegeben vom Schillervereine.