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Retter wider Willen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Retter wider Willen
Untertitel:
aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1915, Vierter Band, Seite 215–219
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Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
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[215] Retter wider Willen. – Der Bankier Howgard hatte eines Vormittags in einem Vorort von New York eine geschäftliche Besprechung mit dem Leiter einer großen Fabrik gehabt. Als er das Direktionsgebäude verließ und auf die Straße hinaustrat, wo sein Auto auf ihn wartete, nahte sich sehr eilig ein elegant gekleideter Herr, der eine kleine Ledertasche in der Hand hielt und Howgard schon von weitem zuwinkte. Der Bankier öffnete die Tür seines Autos und blieb dann stehen, obwohl er selbst nicht viel Zeit hatte.

Der Fremde war inzwischen näher gekommen und rief ganz atemlos, indem er seinen Hut lüftete: „Ich bin der Arzt Doktor Wilson. Soeben wurde ich telephonisch zu einem Kranken gerufen. Es liegt ein schwerer Fall von Vergiftung vor. Mein Suchen nach einem Auto war vergeblich. Im Namen der Barmherzigkeit – bringen Sie mich schleunigst nach der 16. Straße! Ein Menschenleben ist in Gefahr.“

Howgard nickte nur, und beide stiegen schleunigst ein, nachdem der Lenker verständigt war.

Ohne auf das am Ende der Straße laut werdende Geschrei zu achten, ließ der Mann den Wagen anfahren und steuerte ihn in schnellstem Tempo nach dem angegebenen Ziele.

Der Arzt hatte sich aufatmend in die Polster zurückgelehnt, wischte sich zunächst den Schweiß von der Stirn und bedankte sich dann bei dem Bankier aufs wärmste für die menschenfreundliche Hilfe. Howgard lehnte jeden Dank ab, denn in einem solchen Falle hätte wohl niemand sich geweigert, seinen Wagen zur Verfügung zu stellen, meinte er.

In der 16. Straße, die man nach knappen fünf Minuten erreichte, sprang Doktor Wilson aus dem Auto, drückte dem [216] Bankier nochmals die Hand und verschwand in dem Hause Nummer 18, während Howgard dem Zentrum der Stadt zufuhr.

Am Abend desselben Tages las der Bankier in einer Zeitung folgenden Bericht über einen in dem Postamt eines Vorortes verübten Raubanfall: „Dem Angestellten einer Firma, der heute vormittag gegen halb zwölf Uhr auf dem Postamt in der Bersonsstraße größere Einzahlungen machen sollte, wurde plötzlich, als er den gerade menschenleeren Vorraum der Post durchschritt, von einem Unbekannten Pfeffer in die Augen gestreut und dann die Handtasche, in der sich gegen viertausend Dollars in Gold und Banknoten befanden, entrissen. Auf das Hilfegeschrei des Geblendeten eilten sofort Leute herbei, die augenblicklich dem Diebe nachsetzten, der eben um die nächste Straßenecke verschwand. Leider blieb die weitere Verfolgung ergebnislos, da in der Nähe auf den Räuber ein Auto wartete, das in schnellster Fahrt davonraste, nachdem dieser kaum eingestiegen war.“

Der Bankier ließ die Zeitung sinken. Mit einem Schlage tauchte ein böser Verdacht in ihm auf. Die Bersonsstraße in jenem Vorort, der Mann mit der Handtasche – alles stimmte. Dieser Doktor Wilson, der zu dem Vergifteten eilen wollte, war offenbar der Dieb gewesen! Und er, der ahnungslose Howgard, hatte dem Gauner durch seine Menschenfreundlichkeit das Entkommen erleichtert!

Sofort ließ der Bankier sich telephonisch mit der Polizei verbinden und meldete dieser sein Abenteuer vom Vormittage sowie die Vermutungen, die jetzt nach der Lektüre jenes Berichtes in ihm aufgestiegen waren. Die Polizei fragte, um Klarheit zu gewinnen, umgehend in der Nummer 18 der 16. Straße nach, ob dort jemand erkrankt sei. Die Antwort lautete verneinend. Nunmehr war es nicht weiter zu bezweifeln, daß Howgard tatsächlich den Spitzbuben vor den Verfolgern gerettet hatte. –

Ähnlich erging es im Frühjahr 1910 dem Majoratsherrn Freiherrn v. S. Dieser, dessen Besitzung in der Nähe von Frankfurt a. O. liegt, verließ eines Morgens in Begleitung [217] seiner Gattin im geschlossenen Auto die Reichshauptstadt, um nach seinem Gute zurückzukehren. Etwa fünfzehn Kilometer vor Frankfurt hielt der Wagen plötzlich. Der Lenker sprang ab und meldete Herrn v. S., daß vor ihnen mitten auf der Straße ein Mensch liege. Die flüchtige Besichtigung ergab, daß der Betreffende, ein anständig gekleideter Mann, eine Wunde an der Stirn hatte und offenbar ohnmächtig war. Der Freiherr trug darauf mit Hilfe des Chauffeurs den Fremden in sein Auto und nahm ihn mit nach seinem Gute, da man unterwegs keine Ortschaft mehr passierte, wo der Verletzte hätte abgeliefert werden können. Als man ihn dann in einer Stube des Inspektorhauses untergebracht und die Wunde an der Stirn, die im übrigen recht unbedeutend war, ausgewaschen hatte, kam er zu sich und erzählte dem Freiherrn folgendes. Er sei der Privatdozent Doktor Friedrich Möller von der Berliner Universität und habe heute morgen in aller Frühe auf seinem Rade nach Berlin fahren wollen. Unterwegs sei er dann von einem Manne, der ihm entgegenkam, überfallen und mit einem Stock vom Rade geschlagen worden. Weiter könne er über den Vorfall nichts angeben, da er wohl mehr vor Schreck als infolge des Stockhiebes das Bewußtsein verloren habe.

Es stellte sich dann heraus, daß Doktor Möller von dem Strolch vollständig bis auf die kleinste Kleinigkeit ausgeplündert war. Sogar die Radlermütze schien der Attentäter mitgenommen zu haben.

Der Majoratsherr zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit dieser Angaben, zumal Doktor Möller ein äußerst gewandtes Auftreten besaß und auf der linken Wange einen flotten Schmiß hatte, der ihn als Akademiker auswies. Der Privatdozent tat dann sehr bestürzt, als er erfuhr, daß es inzwischen zwei Uhr nachmittags geworden sei. Auf des Gutsbesitzers teilnehmende Frage erklärte er, er müsse unbedingt um sechs Uhr abends in Berlin sein, da er um sieben im Kultusministerium einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten habe. Seine Absicht sei ja auch gewesen, von der nächsten Station aus die Eisenbahn zur Weiterfahrt zu benützen, damit er ja zur Zeit in Berlin eintreffe.

[218] Der Majoratsherr ließ darauf den jungen Gelehrten, nachdem dieser noch an dem Mittagessen im Gutshause hatte teilnehmen müssen, in seinem Auto nach der Reichshauptstadt zurückbefördern, da der Dozent mit der Eisenbahn zu seinem Vortrag nicht mehr zurechtgekommen wäre. Der liebenswürdige Freiherr half seinem Gast sogar noch mit einem Mantel aus, worauf der Doktor sich mit herzlichen Dankesworten verabschiedete und davonfuhr.

Inzwischen hatte sich auch in dem zum Gute gehörigen Dorfe die Geschichte von dem Überfall auf den Berliner Gelehrten herumgesprochen. Abends gegen acht Uhr ließ sich der Ortsgendarm bei dem Majoratsbesitzer melden und bat um eine genaue Personalbeschreibung des angeblichen Möller. Kaum hatte Herr v. S. den Schmiß erwähnt, als der Beamte auch schon Bescheid wußte. Doktor Möller war niemand anderes gewesen, als der berüchtigte Berliner Einbrecher Seiffert, der am Morgen aus der nahen Irrenanstalt Herzberge, wohin man ihn vor acht Tagen zur Beobachtung seines Geisteszustandes gebracht hatte, ausgebrochen und ohne Kopfbedeckung geflüchtet war. Da sofort eine ganze Anzahl von Wärtern seine Verfolgung aufgenommen hatte und ihm ein Entkommen mit dem geringen Vorsprung daher recht ungewiß erscheinen mußte, hatte er den Bewußtlosen gespielt – eben in der Hoffnung, daß das herannahende Auto ihn irgendwohin mitnehmen würde. Sein späteres Verhalten hatte der verschlagene Verbrecher dann aufs geschickteste den Umständen angepaßt, sich schnell zum Privatdozenten gemacht und das Märchen von dem Vortrage vor dem Minister erfunden, eine Schwindelei, die ihre Wirkung nicht verfehlte und den Freiherrn veranlaßte, dem Herrn Doktor sein Auto zur Verfügung zu stellen.

Der „Schmiß“ des Einbrechers, der früher Maschinentechniker gewesen war und nie anders als in Zylinder und Lackschuhen auftrat, stammte von einer Messerstecherei her, während das sichere Auftreten die Folge einer jahrelangen internationalen Tätigkeit als Geldschrankknacker war.

Eine Woche später erhielt der Majoratsbesitzer aus Köln einen ironisch gehaltenen Brief, in dem Seiffert sich für die [219] freundliche Hilfeleistung bei seiner Flucht bedankte und bat, den beifolgenden Zehnmarkschein dem Chauffeur als verspätetes Trinkgeld aushändigen zu wollen.

W. K.