Schiller und das Publicum der Gegenwart

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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Schiller und das Publicum der Gegenwart
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 793–795
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Schiller und das Publicum der Gegenwart.[1]

Von Rudolf von Gottschall.

Hundertfünfundzwanzig Jahre sind verflossen, seitdem Schiller, der Lieblingsdichter unserer Nation, das Licht der Welt erblickte, und fünfundzwanzig Jahre, seitdem Deutschland das große Fest zu seinen Ehren feierte, welches als der Ausdruck einer einmüthigen nationalen Gesinnung im Festkalender unseres Volkes eine hervorragende und dauernde Stelle verdient. Fünfundzwanzig Jahre – es ist für den Nachruhm eine kurze Frist – und doch können sie das Bild eines Dichters in eine veränderte Beleuchtung rücken; es muß offen eingestanden werden: ein Dichterfest, wie dasjenige des Jahres 1859, wäre in heutiger Zeit nicht mehr möglich, und wenn man jenes Fest oft mit den Panathenäen der olivenumkränzten Ilissosstadt verglichen hat, so würden im Festzuge einer heutigen Schiller-Feier zwar nicht die Jungfrauen fehlen, wohl aber die Kriegsmänner und Volksführer; denn der Lorbeer des Kriegers hat seitdem den Lorbeer des Dichters abgelöst.

Fünfundzwanzig Jahre – doch welche Fülle weltgeschichtlicher Ereignisse in diesem kurzen Zeitraume, welche Schlachten und Siege! Ueber die Meerenge von Alsen flog der Preußenaar und trug Nordalbingiens deutsche Lande dem deutschen Reiche zu; auf den Hügeln von Königgrätz wurde die große Entscheidungsschlacht geschlagen, welche Oesterreich aus dem Verbande der deutschen Staaten löste; bei Metz rang drei Tage hindurch Volk mit Volk auf der blutigsten Wahlstatt der Neuzeit, bei Sedan wurde ein Kaiser geschlagen und gefangen. Die Weltstadt Paris, die Königin der Städte, mußte sich den deutschen Truppen ergeben, und mehr als dies Alles – ein deutsches Reich wurde begründet, und die Krone der Staufen wanderte auf das Haupt der Zollern.

Diese letzten fünf Lustra bilden eine Epoche deutscher Geschichte, ruhm- und thatenreicher, als jede andere – und mögen die Ereignisse den Mitlebenden noch weiter aus einander liegend erscheinen, für die Nachwelt werden sie enger zusammenrücken und mit vermehrtem, blendendem Glanze wirken.

Der Ruhm der Fürsten, der Feldherren und Staatsmänner steht glänzend auf diesem Piedestal großer Thaten; erheben sich doch überall auch unter rauschendem Volksjubel die Denksäulen derselben. Da muß die Dichtung in den Hintergrund treten und der Oelzweig von Olympia verschwindet gegen den Lorbeer der Thermopylen.

Freilich, ein festbegründeter Dichterruhm kann durch nichts erschüttert werden; doch können immerhin vorüberziehende Wolken das Licht der Sterne verdunkeln. Zwar sind bald wieder anderthalb Jahrzehnte seit den großen Kriegsjahren verflossen: doch diese haben der nächsten Folgezeit ihr unverkennbares Gepräge aufgedrückt.

Von Jahr zu Jahr heftiger wurde der Kampf der politischen Parteien im neubegründeten deutschen Reiche. Die Parteiführer und Redner beschäftigten das allgemeine Interesse; es war ein geistiger Schwerpunkt in die Parlamente gelegt. Und dabei traten die Principienfragen immer mehr zurück, die Interessenfragen immer mehr in den Vordergrund. Die Politik wurde praktischer, aber auch prosaischer.

Es giebt ohne Frage eine berechtigte politische Lyrik, und sie hat zu allen Zeiten geblüht; auch unsere Lyrik der vierziger Jahre hat echte poetische Blüthen gezeitigt; doch eine solche Dichtung gedeiht eben am besten in einer Epoche feurigen Aufschwungs unbestimmter Ahnungen, zukunftsfreudiger Hoffnungen: so war es in jenen denkwürdigen Jahren, welche der Märzrevolution vorausgingen; da waren die Dichter Propheten, und sie prophezeiten in der That Vieles, was später eingetroffen ist.

Diese prophetische Ader besaß auch Schiller, besonders der „Dramatiker“ Schiller; als solcher war er ein großer politischer Dichter. Die kommenden Ereignisse warfen in seine Dichtungen ihren Schatten oder, wenn man will, ihren Feuerschein. „Die Räuber“ waren auf deutscher Erde die Vorboten der französischen Revolution – diese Roller, Schweizer und Schufterle konnte man in den Jacobinerclubs wiederfinden, und Karl Moor selbst war wie eine Verkörperung des revolutionären Genius, der aus gekränktem Rechtsgefühle zur Fackel der Vernichtung greift und vor blutigen Gräuelthaten nicht zurückschreckt. Es war kein Zufall, daß der Convent den Dichter der „Räuber“ zum französischen Ehrenbürger machte und daß dies Actenstück die Unterschrift Danton’s, des gewaltigen Anstifters der Septembermorde, trug; es war die Anerkennung einer Thatsache: der geistigen Verwandtschaft zwischen dem Jacobinerthum auf dem Pariser Straßenpflaster und dem Jacobinerthum in den böhmischen Wäldern. Der innere Kampf des Helden Fiesco erschien wie ein Vorbild jenes Kampfes, der den Helden des 18. Brumaire, den Republikaner von gestern, wenn auch nur auf kurze Zeit bewegte: beide traten die Republik mit Füßen und beide streckten die Hand nach der Krone aus.

Und noch einmal spiegelte die deutsche Muse den Helden der französischen Geschichte: es war der Kriegsfürst Wallenstein, mächtig wie der Kriegsfürst Napoleon, alles Volk in seinen Lagern sammelnd und an seinen Stern glaubend wie dieser. Und schon war in diesen Sternen der Zusammenbruch seiner Herrlichkeit geschrieben; der Geist nationaler Unabhängigkeit und Freiheit sollte sie stürzen – wo aber hat der kampfesmuthige Volksgeist, der sich gegen die fremden Unterdrücker wendet, einen begeisterteren Ausdruck gefunden, als in Schiller’s „Jungfrau von Orleans“ und „Wilhelm Tell“?

Gewiß, es war ein geniales Vorschauen der Zukunft in des Dichters Werken ausgeprägt, und sie wurden ein bewegendes Ferment in dem Aufschwunge deutscher Nation. In einer Epoche ähnlicher Krisen und ähnlicher Begeisterung werden sie, wenn auch der Zauber so unmittelbarer Wirkung nicht wieder erreicht werden kann, doch von Neuem mächtig das Herz der Nation bewegen. In stiller Zeit, in einer Zeit praktischer politischer Arbeit, heftiger Interessenkämpfe und vielfacher Verstimmungen und Enttäuschungen wird jener Dichtung die gesammelte Kraft der Wirkung fehlen.

Wie oft hört man die Klage: „die Zeitung hat das Buch verdrängt!“ Das Neueste, was die Zeit bringt, schafft eine willkommene, oft fieberhafte Erregung und außerdem kann jeder selbstthätig in die Debatte eingreifen; als Wähler ist er nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, eine eigene Meinung zu haben, und was er an der Wahlurne vertritt, wird er auch sonst im Leben zu vertheidigen suchen. Diese leidenschaftliche Theilnahme an der Tagespolitik wird durch die Zeitung genährt: es ist zweifellos, daß Viele nur noch Zeitungen und keine Bücher mehr Lesen; die Vertiefung in ein Buch ist weit seltener geworden als früher. Damit hat die Theilnahme für die Dichtung eine unbestreitbare Schädigung erfahren; natürlich leidet darunter die neuere Dichtung, die sich erst Bahn brechen will, am meisten; aber auch der Cultus der Classiker, auch derjenige Schiller’s, hat eine Einbuße erlitten. Die zahlreichen wohlfeilen Ausgaben der Neuzeit machen es zwar fast jedem Haushalte möglich, seinen Schiller zu besigen; aber wie oft und wie viel dieser Schiller gelesen wird, das ist eine andere Frage.

Die Politik der großen Perspectiven wird stets in Schiller noch ihren Dichter finden; aber die alltägliche Gewohnheitspolitik mit ihrem Bedürfnisse augenblicklicher Erregung, die Kirchthurmspolitik hat so viele Geister ausschließlich in ihren Bann gezogen, daß sie dem Cultus der Musen durchaus entfremdet sind.

Und wie die Tagespolitik, so hat auch der veränderte Zeitgeschmack der Schiller-Begeisterung einige Dämpfer aufgesetzt. Es ist ganz unmöglich, daß ein Jahrhundert vorüberrauscht, und zwar ein an Umwälzungen reiches Jahrhundert, ohne daß auch die Dichtung andere Wege einschlägt. Auch das Große und Schöne soll man nicht mumienhaft einbalsamiren, und thöricht wäre es, dem Flusse geistiger Entwickelung eine Schranke sehen zu wollen. Auch große Dichter tragen das Gepräge ihrer Zeit, und dem Unvergänglichen haftet allerlei Vergängliches an, das nicht mit dem gleichen Maße der Bewunderung gemessen werden darf. So war unserer classischen Epoche die Vorliebe für das Antike eigen, und die Gedichte Schiller’s sind an mythologischen Anspielungen und Bildern überreich. Obgleich das classische Alterthum für alle Zeiten ein Urquell echter Dichtung bleibt, so hat sich doch die Muse der Gegenwart von solchen Anlehnungen frei gemacht und mehr auf ihre eigenen Füße gestellt.

Käme eine solche übermäßige Verwendung der antiken Zierrathe in neueren Gedichten vor, so würde das Publicum daran [794] Anstoß nehmen, und mit Recht; denn der Dichter soll aus seiner Zeit heraus dichten, und die Entwickelung unserer Poesie hat ja auch diesen Weg genommen. Mit Schiller’s genialsten Gedichten ist aber der Aufwand mythologischer Bilder unlöslich verknüpft. Sie erscheinen deshalb nicht weniger bewundernswerth, aber jedenfalls sind sie für unsere Zeit weniger nachahmenswerth.

Fremdartig ist auch der Gegenwart jene sentimentale Liebe, welche vor einem Jahrhundert ihre Wurzeln schlug in Werther und den Werther Romanen und in Jean Paul’s Heldinnen die idealsten Vertreterinnen fand. An diese Richtung seiner Zeit hat auch Schiller den damals unerläßlichen Tribut abgetragen: die Liebe eines Max und einer Thekla ist zu schattenhaft, zu unsinnlich, und während die frische Sinnlichkeit eines Gretchens und Clärchens jeder Zeit verständlich bleiben wird, sind wir jener sentimentalen Liebe der Wallenstein-Tragödie und ähnlichen Gefühlsergüssen in den Gedichten mehr oder weniger entfremdet. Wenn sich der Zeitgeschmack hiervon sowie von dem mythologischen Ballast der Schiller’schen Lyrik abgewendet hat, so kann ihm die ästhetische Kritik nur Recht geben.

Etwas Anderes ist es mit der Abwendung von allen idealen Tendenzen, von jeder höheren Richtung der Poesie: diese ist unleugbar eine bedauerliche Thatsache, der gegenüber der Eifer der jüngeren unermüdlich strebenden Talente erlahmen muß. Es wäre eine große Einseitigkeit, etwa die Schiller’sche Richtung als die ausschließlich berechtigte hinstellen und der Poesie alle anderen Wege versperren zu wollen: liegt doch schon in dem großen Dioskuren Schiller’s, in Goethe, die Correctur dieser Einseitigkeit; eine große Zahl tüchtiger Begabungen wandelt die Wege Goethe’s, und charakteristisch für sie ist das Streben nach dem Ausdrucke inniger einfacher Empfindung und unverfälschter Lebenswahrheit, allerdings mit jenem Hauche poetischer Verklärung, welcher die Schöpfungen des großen Dichters umschwebt. Doch diese Lebenswahrheit in fahler Nacktheit, in Gestalt der alltäglichsten Prosa ist neuerdings das herrschende Gesetz der Tagesliteratur geworden – und hierin liegt jedenfalls eine Verleugnung der Schiller’schen Principien, die zugleich eine verwüstende Wirkung auf die Entwickelung unserer Dichtung ausübt. Viel haben schon die deutschen Realisten und ihre kritischen Herolde gesündigt, es ist soviel geistig Nichtiges und Triviales mit dem Weihwasser ästhetischer Anerkennung besprengt worden, daß die Instincte des großen Publicums, welche dieser Lebenswahrheit immer entgegenkommen, dadurch gestärkt wurden. Gleichwohl hielt sich auch diese Richtung, obschon Schiller selbst ähnliche Bestrebungen der Zeitgenossen als eine Misere bezeichnete, „der nichts Großes passiren kann“, noch innerhalb gewisser Schranken des guten Geschmackes.

Da brach aber von Frankreich eine ästhetische Sturmfluth herein, in der auch diese Schranken überfluthet wurden; und jene Werke waren nicht der Erguß überschäumender Jugendlichkeit, einer wilden Lebenspraxis, sondern sie brachten gleichzeitig eine ästhetische Gebrauchsanweisung mit, ein neues Evangelium der Dichtung; und wie alles, was von der Seine kommt, eroberten sie im Sturm ein großes Publicum, fanden begeisterte Anwälte unter den Kritikern und zeigten wiederum, daß die Besiegten von Sedan noch immer die geistigen Besieger Deutschlands sind. Hier galt es nicht nur die einfache und schlichte, hier galt es die nackte und vor allem die häßliche Natur, und Schiller hätte gewiß, wie in seiner Kritik Blumauer’s, auch in derjenigen Zola’s erklärt, daß bei diesen Werken die Grazien Reißaus nehmen. Das Widerliche, Abschreckende, Ekelhafte zu schildern, wurde als eine große That der Dichtung gepriesen; nicht blos das wilde Feuer der Leidenschaft fand hier seinen Ausdruck, sondern auch die dämonische Besessenheit durch den Naturtrieb in allen ihren Verirrungen. Jeder künstlerische Aufbau einer Dichtung wurde verworfen als ein Verstoß gegen die Naturtreue; man wollte nur einzelne Fetzen des Lebens in Romanen und Dichtungen geben. Und das war alles nicht Ausgeburt einer einzelnen ausschweifenden Phantasie, eines urwüchsigen Originalgenies, das seine ganz aparten Wege ging; nein, das war die Losung, das Palladium einer ganzen Schule.

Für die Anhänger und Anhängerinnen dieser Richtung, des neuen deutsch-französischen Naturalismus, ist Schiller natürlich ein todter Mann; er schuf ja Kunstwerke – überflüssige Mühe, da der Dichter nur das Leben abschreiben soll; er war ein lyrischer Dichter – und mit der Lyrik ist’s zu Ende; für Zola ist die Lyrik nur eine poetische Exaltation, die dem Wahnsinn ganz nahe steht, Musik, die von nervösen Frauen applaudirt wird; er haßt ihre Phrasen und die Luftsprünge in’s Blaue; was er von Victor Hugo sagt, würde er mit noch schärferer Betonung von Schiller sagen – er sieht in jenem nur einen großen Sprachkünstler, der für die jetzt kommende wahre Poesie die Waffen geschmiedet und den Weg gebahnt hat. Nein, zwischen Schiller und Zola giebt es keine Brücke mehr, und derjenige Theil unseres Publicums, der zu dem letzteren schwört, macht sich der Fahnenflucht schuldig gegenüber unserem großen Dichter. Es sind das vielleicht Augenblicksbilder des Zeitgeschmacks; aber es kommen wieder andere, und so bleibt die Desertion beständig.

Doch auch vom Zeitgeschmack abgesehen, giebt’s und gab es von jeher gesellschaftliche Kreise, in denen es zum guten Ton gehörte, von Schiller gering zu denken; wir möchten diese ganze Richtung als Schiller-Blasirtheit bezeichnen. Den vornehm Geistreichen, welche sich in Ironie und spielendem Witze gefielen, kam der Dichter mit seinem oft feierlichen Ernst und seiner unbeugsamen sittlichen Haltung als ein subalterner Geist vor, auf den sie glaubten herabsehen zu können. Die Romantiker gaben hierin den Ton an; jene Karoline Schlegel-Schelling wollte mit ihren Freundinnen vor Lachen vom Stuhle sinken, als sie zuerst das Lied von der „Glocke“ lasen – so kleinbürgerlich kam ihnen das dumme Ding vor. „Der bleierne Schiller,“ sagte Schlegel – und so ist’s geblieben in den Kreisen der Geistreichen, wo die Orgien des Esprit gefeiert werden! Ihm fehlte zu sehr die glänzende Beweglichkeit; er verstand es nicht, mit souverainem Hohn über den Dingen zu stehen; er ging in dem, was er schuf, in dem Dichterworte, das er verkündete, auf mit seinem ganzen Herzen – in der That, der Shakespeare’sche Bilderwitz wie das französische bonmot waren ihm fremd, ebenso Goethe’s gefällige und graziöse Lebensweisheit, welche den harmonischen Genuß auf ihr Wappen geschrieben hatte; die Weltmänner wußten sich nichts für ihr Leben aus Schiller anzueignen – so war’s zu seiner Zeit, und so ist’s noch heute!

Doch alle hatten als Knaben in der Schule seine Balladen declamiren, Aufsätze über ihn und seine Stücke schreiben müssen. So galt er ihnen als Dichter für die Schulbänke, sie hatten ihn dort zur Genüge, zur Sättigung genossen: auf seinen Werken ruhte der Schulstaub; wie konnten sie dieselben in die Hand nehmen, ohne ihre weltmännische Toilette zu beflecken? Daß sie schillermüde, daß sie schillerblasirt sind, das ist ja eben ein Zeugniß ihrer geistigen Bedeutung. Schiller ist ihnen ein Dichter für das Volk, für welches die Schule zeitlebens den Höhepunkt der Bildung vertritt; seine Balladen eignen sich nur für Schuldeclamationen und seine Stücke für die Gallerie – höchstens gelten seine Werke noch für ein Schatzkästlein geflügelter Worte, mit denen man gelegentlich glänzen kann. Auch galt Schiller besonders als ein Dichter der Frauen; doch auch hierzu macht die heutige Bildung vielfach ihre Fragezeichen. Frauen, welche ihren Zola lesen, werden es jedenfalls für eine überflüssige Arbeit halten, himmlische Rosen in’s irdische Leben zu flechten.

Diese Schiller-Blasirtheit in gewissen socialen, besonders auch in gelehrten Kreisen findet nun ihre Unterstützung in weitverbreiteten literarischen Anschauungen: nicht nur die nüchternen Aufklärer Berlins, sondern auch die Romantiker mit ihrer phantastischen Ueberschwenglichkeit und überlegenen Ironie sind nicht müde geworden, Schiller herabzusetzen. Ihnen schlossen sich die neueren Realisten und Shakespearianer, wie Otto Ludwig, an: eine geharnischte Gegnerschaft gegen Schiller geht durch unsere ganze neuere Literatur. Hierzu kommen die Antipathien der Feudalen und Orthodoxen gegen den Freiheitsdichter Schiller, gegen den freigeistigen Sänger der „Götter Griechenlands“ – kurz, die Schiller-Blasirtheit als eine weitverbreitete Stimmung in gewissen socialen Kreisen könnte sich auf eine Menge literarischer und gelehrter Autoritäten stützen.

Fast schlimmer noch als die Schiller-Blasirtheit ist die Schiller-Heuchelei – und auch diese ist weit genug verbreitet. Die Gleichgültigen und Unempfindlichen, sowie die verkappten Gegner bekennen sich aus verschiedenen Rücksichten äußerlich zu dem Dichter, ohne ihm innerlich anzugehören. Es ist unglaublich, wie viel unsere Zeit in literarischer und künstlerischer Heuchelei leistet, und diese ist bald naiv, indem man sich selbst zu überreden sucht, sich für Kunstwerke zu begeistern, die einem im Innersten fremd sind, [795] bald ist sie sehr künstlich zurecht gemacht, um äußerlicher Schaustellung hohen Kunstsinnes oder anderen Zwecken zu dienen. So haben wir auch eine „Wagner-Heuchelei“, die dem echten Wagner-Enthusiasmus auf dem Fuße folgt und sich in verzückten Ausrufungen Luft macht, während sie im Herzen grenzenlose Oede und Langeweile empfindet; so wird in allen Salons für gewisse Modeschriftsteller ein Entzücken geheuchelt, die man im stillen Kämmerlein mit Seufzen und Herzeleid und stiller Ergebung in das Unvermeidliche gelesen hat.

Schiller ist zwar kein Modeschriftsteller, aber er ist ein Classiker und auch die Classiker verlangen ihre Reverenz. Noch ist es ein Geheimniß, wie ein Autor, mitten unter den heftigsten Anfeindungen und den Ausdrücken unverhohlener Geringschätzung, mit der seine Gegner ihn nicht verschonen, sich zur Höhe eines nationalen Classikers emporarbeitet; aber ist das einmal geschehen, so hat er sich einen Glorienschein errungen, welcher mit Andacht begrüßt sein will. Man findet sich mit Schiller ab durch den schuldigen Zoll der Bewunderung; aber man thut die Schiller’sche Richtung in Acht und Bann.

Nicht an ihren Worten, heißt es, sondern an ihren Thaten sollt Ihr sie erkennen. Schiller-Heuchler sind alle diejenigen, welche ihre warme Theilnahme den alltäglichen Erzeugnissen niedrig gearteter Begabungen zuwenden und jeder höheren Dichtung aus dem Wege gehen, mögen sie noch so sehr Schiller’s Werke zu bewundern vorgeben; Schiller-Heuchler sind die Intendanten, welche die Tragödien des Dichters möglichst oft zur Aufführung bringen, während sie allen in hohem dichterischen Stil gehaltenen Schöpfungen der Neuzeit die Pforten verschließen und sich mit der Vorführung werth- und geistloser Stücke begnügen; Schiller-Heuchler sind alle diejenigen, welche die hohe schwungvolle Lyrik des großen Dichters anerkennen, aber in neueren Gedichtsammlungen nur den fadesten Singsang und die burschikosen Nichtigkeiten bewundern; Schiller-Heuchler sind endlich alle diejenigen, welche den Dichter feiern, während sie das Evangelium edler Humanität und geistiger Freiheit, das er gepredigt hat, fortwährend im Leben verleugnen.

Doch wie auch die vorherrschende Tagespolitik und der veränderte Zeitgeschmack die Wirkungen der Schiller’schen Dichtung einschränken, wie auch die Blasirtheit den Dichter offen, die Heuchelei ihn im Stillen verleugnen mag: immer ist mächtiger als dies alles die Schiller-Begeisterung, welche die Mehrheit unseres Volkes erfüllt und in großen Augenblicken die Halben und Zweifelnden, die Spötter und Heuchler in den Hintergrund drängt oder mit sich fortreißt. Schiller ist und bleibt ein Heros unseres Volkes, er ist noch nicht blos zum Dichter einer kleinen Gemeinde geworden; die vielen hundert einzelnen Gemeinden, die seinen besonderen Cultus auf ihre Fahne geschrieben haben, sind nur ebenso viele kleinere Kreise, welche mit dem großen Kreise der Nation den gemeinsamen Mittelpunkt haben. Und es ist keine vage, in’s Blaue hinausstürmende Begeisterung, die alle diese Gemeinden erfüllt: wir wissen, daß der Schiller Cultus verknüpft ist mit den höchsten Gütern des Lebens und der Dichtung. In der Ethik ist es der Glaube an das Ideal, der allein jedes höhere Streben ermuthigen kann, der Wille und die Kraft, je nach der Lebensstellung das Tüchtige wie das Bedeutende zu vollbringen, nach dem großen Worte des Dichters:

„Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Wolkenthron;“

in der Politik ist es der Kampf für Menschenwürde und Menschenrecht, für des eigenen Volkes Freiheit und Unabhängigkeit:

„Nichtswürdig ist die Nation, die nicht
Ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre;“

auf der Bühne ist’s die Begeisterung für den großen Gegenstand, der allein vermag, den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen; in der Dichtung aber ist’s der Gedankenreichthum und der Adel der Form. Das alles bedeutet Schiller für uns, und er ist uns nicht ein Fetisch für blinden und blöden Gözendienst, sondern ein Palladium, von dessen treu behütetem Besitze der Sieg abhängt auf allen Gebieten des Geistes.

Er hat das Beste unserer Nation in sich vereinigt; in ihm ehrt unser Volk sich selbst und sieht des eigenen Ruhmes Bürgschaft in dem seines unsterblichen Dichters!

  1. Vortrag, gehalten am 10. Nov. 1884 bei der Schiller-Feier in Leipzig.