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Gericht und Barmherzigkeit verlangt hatte – wie verlockend war es, ihn als den Gott zu proklamieren, der sein Volk im Elend sehen will, um dann den Elenden Erlösung zu bringen! In der That, man kann mit ein paar Strichen die Religion und ihre Hoffnungen konstruieren, die aus den Zeitverhältnissen mit Notwendigkeit zu folgen scheinen – ein Miserabilismus, der sich an die Erwartung eines wunderbaren Eingreifens Gottes klammert und sich vorher gleichsam in das Elend hineinwühlt.

Aber so gewiß die furchtbaren Zeitverhältnisse vieles in diesem Sinn entbunden und entwickelt haben, sie reichen doch längst nicht aus, um die Predigt des Täufers zu erklären, während man die wilden Unternehmungen der falschen Messiasse und die Politik fanatischer Pharisäer leicht aus ihnen abzuleiten vermag. Wohl erklären sie es, daß die Loslösung von weltlichen Dingen weitere Kreise erfaßte und daß man zu Gott aufschaute – Not lehrt beten; aber die Not an sich bringt keine sittliche Kraft; diese aber ist in der Predigt des Täufers das Hauptstück gewesen. Indem er an sie appellierte, indem er alles auf die Grundlage des Sittlichen und der Verantwortung setzen hieß, erhob er sich über die Schwächlichkeit der „Armen“ und schöpfte nicht aus der Zeit, sondern aus dem Ewigen.

Es sind noch nicht hundert Jahre her, da hat nach der schrecklichen Niederlage unseres Vaterlandes Fichte hier in Berlin seine berühmten Reden gehalten. Was that er in ihnen? Nun zunächst, er hielt der Nation einen Spiegel vor und zeigte ihr ihre Sünden und deren Folgen, den Leichtsinn, die Gottlosigkeit, die Selbstgefälligkeit, die Verblendung, die Schwäche. Was that er dann? Rief er sie einfach zu den Waffen? Aber eben die Waffen vermochten sie nicht mehr zu führen; sie waren ihnen aus den kraftlosen Händen geschlagen worden. Zur Buße und inneren Umkehr hat er sie gerufen, zu Gott und deshalb zur Anspannung aller sittlichen Kräfte, zur Wahrheit und zum Geiste, damit aus dem Geiste alles neu werde. Und durch seine kraftvolle Persönlichkeit hat er im Bunde mit gleichgestimmten Freunden den mächtigsten Eindruck hervorgerufen. Die verschütteten Quellen unserer Kraft vermochte er wieder aufzudecken, weil er die Mächte kannte, von denen Hülfe kommt, und weil er selbst von dem lebendigen Wasser getrunken hatte. Gewiß, die Not der Zeit hat ihn gelehrt und gestählt; aber es wäre sinnlos und lächerlich zu behaupten, Fichte’s Reden wären

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 029. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/033&oldid=- (Version vom 30.6.2018)