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das Produkt des allgemeinen Elends. Sie sind der Gegensatz zu ihm. Nicht anders ist über die Predigt Johannes’ des Täufers und – daß ich es gleich sage – über die Predigt Jesu selbst zu urteilen. Daß sie sich an die wandten, die von der Welt und der Politik nichts erwarteten – von dem Täufer ist das übrigens nicht direkt berichtet –, daß sie von jenen Volksleitern nichts wissen wollten, die das Volk ins Verderben geführt hatten, daß sie den Blick überhaupt von dem Irdischen ablenkten, das mag man auch aus den Zeitverhältnissen ableiten. Aber das Heilmittel, welches sie verkündigten, war kein Produkt derselben. Mußte es nicht vielmehr als ein Versuch mit untauglichen Mitteln erscheinen, lediglich zur gemeinen Moral die Leute zu rufen und von ihr alles zu erwarten? Und woher stammte die Kraft, die unbeugsame Kraft, welche andere bezwang? Dies führt uns auf die letzte der Fragen, die wir aufgeworfen haben.

Drittens, was ist denn Neues in dieser ganzen Bewegung gewesen? War es neu, die Souveränetät Gottes, die Souveränetät des Guten und Heiligen in der Religion gegenüber allem anderen, was sich eingedrängt hatte aufzurichten? Was hat also Johannes, was hat Christus selbst Neues gebracht, was nicht schon längst verkündigt worden war? Meine Herren! Die Frage nach dem Neuen in der Religion ist keine Frage, die von solchen gestellt wird, die in ihr leben. Was kann „neu“ gewesen sein, nachdem die Menschheit schon so lange vor Jesus Christus gelebt und so viel Geist und Erkenntnis erfahren hatte. Der Monotheismus war längst aufgerichtet, und die wenigen möglichen Typen monotheistischer Frömmigkeit waren längst hier und dort, in ganzen Schulen, ja in einem Volke, in die Erscheinung getreten. Kann der kraftvolle und tiefe religiöse Individualismus jenes Psalmisten noch überboten werden, der da bekannt hat: „Herr, wenn ich nur Dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde“[WS 1]? Kann das Wort Micha’s überboten werden: „Es ist Dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor Deinem Gott“[WS 2]? Jahrhunderte waren bereits verflossen, seitdem diese Worte gesprochen waren. Also, „Was wollt ihr mit eurem Christus?“ wenden uns namentlich jüdische Gelehrte ein; „er hat nichts Neues gebracht.“ Ich antworte hierauf mit Wellhausen: Gewiß, das, was Jesus verkündigt, was Johannes vor ihm in seiner Bußpredigt ausgesprochen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ps 73,25.
  2. Mi 6,8.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 030. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/034&oldid=- (Version vom 30.6.2018)