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Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/077

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Grade deshalb aber ergreift heute manchen unter uns eine schwere Zweifelfrage mit verdoppelter Gewalt: wir sehen einen ganzen Stand im Kampfe für sein Recht oder vielmehr, wir sehen ihn ringen, seine Rechte zu erweitern und zu vermehren. Ist das mit christlicher Gesinnung vereinbar, verbietet das Evangelium einen solchen Kampf nicht? Haben wir nicht gehört, man solle auf sein Recht verzichten, geschweige mehr Recht zu erlangen suchen? Also müssen wir als Christen die Arbeiter vom Kampf für ihre Rechte abrufen und müssen sie lediglich zur Geduld und Ergebung ermahnen?

Das Problem, um welches es sich hier handelt, wird auch in der Form einer leisen Anklage gegen das Christentum laut. Ernste Männer in den Kreisen z. B. der National-Sozialen und verwandter Richtungen, die sich gerne von Jesus Christus weisen lassen wollen, klagen, daß das Evangelium sie an diesem Punkte im Stiche lasse; es halte ein Streben nieder, dessen Berechtigung sie mit gutem Gewissen empfinden; mit seiner Forderung der unbedingten Sanftmut und Ergebung entwaffne es jeden, der kämpfen will, und narkotisiere gleichsam alle lebendige Thatkraft. Sie sagen es mit Bedauern und Schmerz, andere mit Genugthuung. Diese erklären: wir haben es immer gewußt, das Evangelium ist nicht für die gesunden und starken Menschen, es ist für die Blessierten; es weiß nichts davon und will es nicht wissen, daß das Leben, zumal das moderne, ein Kampf ist, ein Kampf für das eigene Recht. Welche Antwort sollen wir ihnen geben?

Ich meine, die so sprechen oder klagen, haben sich noch immer nicht klar gemacht, um was es sich im Evangelium handelt, und beziehen es vorschnell und ungehörig auf irdische Dinge. Das Evangelium richtet sich an den inneren Menschen, der immer derselbe bleibt, mag er gesund oder verwundet, mag er in Glückslage oder im Unglück sein, mag er in dem irdischen Leben kämpfen oder Gewonnenes ruhig behaupten müssen. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“[WS 1]; das Evangelium richtet kein irdisches Reich auf. Diese Worte schließen nicht nur die politische Theokratie aus, welche der Papst aufrichten will, und jede weltliche Herrschaft; sie reichen noch viel weiter; sie verbieten jedes direkte und gesetzliche Eingreifen der Religion in irdische Verhältnisse. Positiv aber sagt uns das Evangelium: Wer du auch sein magst und in welcher Lage nur immer du dich befinden magst, ob Knecht oder Freier, ob kämpfend

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joh 18,36.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 073. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/077&oldid=- (Version vom 30.6.2018)