oder ruhend – deine eigentliche Aufgabe bleibt immer dieselbe; es giebt nur ein Verhältnis und eine Gesinnung für dich, die unverbrüchlich bleiben sollen, und der gegenüber die anderen nur wechselnde Hüllen und Aufzüge sind: ein Kind Gottes und Bürger seines Reiches zu sein und Liebe zu üben. Dir und deiner Freiheit ist es überlassen, wie du im irdischen Leben dich zu bewähren hast und in welcher Weise du deinem Nächsten dienen willst. So hat der Apostel Paulus das Evangelium verstanden, und ich glaube nicht, daß er es mißverstanden hat. Also kämpfen wir, streben wir, schaffen wir dem Unterdrückten Recht, ordnen wir die irdischen Verhältnisse, wie wir es mit gutem Gewissen können und wie es uns für unseren Nächsten am besten scheint; doch erwarten wir dabei von dem Evangelium keine direkte Hülfe, verlangen wir nichts in eigensüchtiger Weise für uns selbst und vergessen wir nicht, daß die Welt vergeht, nicht nur mit ihrer Lust, sondern auch mit ihren Ordnungen und Gütern! Noch einmal sei es gesagt: das Evangelium kennt nur ein Ziel und eine Gesinnung, und es verlangt, daß der Mensch sie niemals bei Seite setze. Tritt in den Worten Jesu die Ermahnung zum Verzicht in herber Einseitigkeit in den Vordergrund, so soll uns damit die Souveränetät und Ausschließlichkeit des Verhältnisses zu Gott und die Liebesgesinnung eindringlich vor Augen gestellt werden. Das Evangelium liegt über den Fragen der irdischen Entwicklungen; es kümmert sich nicht um die Dinge, sondern um die Seelen der Menschen.
Damit sind wir bereits zu der nächsten Frage, die uns beschäftigen soll, übergegangen und haben sie schon zur Hälfte beantwortet:
Es kommen hier wesentlich dieselben Gesichtspunkte in Betracht, die wir in der eben betrachteten Frage geltend gemacht haben; daher vermögen wir uns kürzer zu fassen.
Je und je, vor allem aber in unseren Tagen, hat man an der Predigt Jesu das Interesse für zweckvolle Berufsarbeit und den Sinn für alle die idealen Güter vermißt, die durch die Namen Kunst und Wissenschaft bezeichnet sind. Nirgendwo, so sagt man, fordere Jesus zur Arbeit und zu fortschreitender Bethätigung auf; vergeblich suche man in seinen Worten nach dem Ausdruck der
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 074. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/078&oldid=- (Version vom 30.6.2018)