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Besiegung jeglichen Widerstandes entwickeln. Welch eine Stunde muß es gewesen sein, in der er sich als den erkannte, von dem die Propheten geredet hatten, als er die ganze Geschichte seines Volkes von Abraham und Moses an im Lichte seiner eigenen Sendung sah, als er der Erkenntnis nicht mehr auszuweichen vermochte, er sei der verheißene Messias! Nicht mehr auszuweichen vermochte – denn wie läßt es sich anders vorstellen, als daß diese Erkenntnis zunächst als die furchtbarste Last von ihm empfunden werden mußte? Doch, wir sind schon zu weit gegangen: wir vermögen nichts mehr zu sagen. Nur das verstehen wir von hier aus, daß Johannes recht hat, wenn er Jesus immer wieder bezeugen läßt: „Ich habe nicht von mir selber geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir ein Gebot gegeben, was ich thun und reden soll,“[WS 1] und: „Ich bin nicht allein; denn der Vater ist bei mir.“[WS 2]


Wie wir immer über den Begriff „Messias“ denken mögen – er war doch die schlechthin notwendige Voraussetzung, damit der innerlich Berufene innerhalb der jüdischen Religionsgeschichte – der tiefsten und reifsten, die ein Volk erlebt hat, ja wie die Zukunft zeigen sollte, der eigentlichen Religionsgeschichte der Menschheit – die absolute Anerkennung zu gewinnen vermochte. Diese Idee ist das Mittel geworden, um den, der sich als den Sohn Gottes wußte und das Werk Gottes trieb, wirklich auf den Thron der Geschichte, zunächst für die Gläubigen seines Volkes, zu setzen. Aber eben darin, daß sie dies leistete, war auch ihre Aufgabe erschöpft. Der „Messias“ war Jesus und war es nicht, und zwar deshalb nicht, weil er diesen Begriff weit hinter sich ließ, weil er ihn mit einem Inhalt erfüllt hatte, der ihn sprengte. Wohl vermögen wir heute noch an diesem uns so fremden Begriff einzelnes nachzuempfinden – eine Idee, die ein ganzes Volk Jahrhunderte lang gefesselt und in der es alle seine Ideale niedergelegt hat, kann nicht ganz unverständlich sein. Wir erkennen in dem Ausblick auf die messianische Zeit die alte Hoffnung auf ein goldenes Zeitalter wieder, jene Hoffnung, die, versittlicht, das Ziel jeder kräftigen Lebensbewegung sein muß und ein unveräußerliches Stück jeder religiösen Geschichtsbetrachtung bildet; wir sehen in der Erwartung eines persönlichen Messias den Ausdruck der Erkenntnis, daß das Heil in der Geschichte in den Personen liegt und daß, wenn eine Einheit der Menschheit in der Übereinstimmung ihrer

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joh 12,49.
  2. Joh 16,32.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 089. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/093&oldid=- (Version vom 30.6.2018)