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alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet“[WS 1], dieses herrliche Wort Goethe’s[AU 1] drückt die Sache aus, um die es sich hier handelt. Sie bleibt, und sie ist das Wesentliche in den dramatischen, zeitgeschichtlichen Bildern, in welchen das Evangelium den Gegensatz ausdrückt, dessen Überwindung es gilt. Ich weiß auch nicht, wie uns unsere fortgeschrittene Naturerkenntnis hindern sollte, die Wahrheit des Bekenntnisses zu bezeugen: „Die Welt vergehet mit ihrer Lust, wer aber den Willen Gottes thut, bleibet in Ewigkeit“[WS 2]? Um einen Dualismus handelt es sich, dessen Ursprung wir nicht kennen; aber als sittliche Wesen sind wir überzeugt, daß er, wie er uns gesetzt ist, damit wir ihn bei uns überwinden und zur Einheit führen, so auch auf eine ursprüngliche Einheit zurückweist und letztlich seinen Ausgleich im Großen – in der verwirklichten Herrschaft des Guten – finden wird.

Träume, sagt man; denn was wir vor Augen sehen, bietet uns ein ganz anderes Bild; nein, nicht Träume – wurzelt doch die Existenz unseres wahren Lebens hier –, wohl aber Stückwerk; denn wir vermögen unsere raumzeitlichen Erkenntnisse mit dem Inhalt unsers Innenlebens nicht in die Einheit einer Weltanschauung zu bringen. Nur in dem Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, ahnen wir diese Einheit.

Doch bereits haben wir den Kreis unserer nächsten Aufgabe verlassen. Das Evangelium wollten wir in seinen Grundzügen und in seinen wichtigsten Beziehungen kennen lernen. Ich habe versucht, dieser Aufgabe zu entsprechen; der letzte Punkt führte uns über sie hinaus. Wir kehren zu ihr zurück, um im zweiten Teile den Gang der christlichen Religion durch die Geschichte zu verfolgen.


Anmerkung des Autors (1908)

  1. Das Wort Goethes ist an dieser Stelle mißverständlich. Es ist hierher gesetzt, nicht um die spontane Selbstüberwindung zu preisen, sondern um die Gewalt zu charakterisieren, um deren Überwindung es sich handelt, und um die Notwendigkeit dieses Kampfes zu bezeugen. Einsichtige Leser haben das auch richtig verstanden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Wolfgang von Goethe, Die Geheimnisse, in: Sämtliche Werke, 1. Abt., Bd. 8.
  2. 1. Joh 2,17.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 095. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/099&oldid=- (Version vom 30.6.2018)