manches Dogma einen andern Sinn erhalten; auch neue Dogmen werden aufgestellt; die Lehre ist in vieler Hinsicht arbiträr geworden, und eine ungefüge Formel in der Glaubenslehre kann durch eine konträre Anweisung in der Ethik und im Beichtstuhl aufgehoben werden. Überall können die festen Linien der Vergangenheit zu Gunsten gegenwärtiger Bedürfnisse aufgelöst werden. Dasselbe gilt wie vom Ritualismus so auch vom Mönchtum. Ich kann hier nicht nachweisen, in welchem Maße, keineswegs immer nur zu seinem Nachteil, das alte Mönchtum sich hier verändert, ja sich in großen Erscheinungen geradezu in sein Gegenteil verwandelt hat. Diese Kirche besitzt in ihrer Organisation eine Fähigkeit, sich dem geschichtlichen Gang der Dinge anzupassen, wie keine andere: sie bleibt immer die alte – oder erscheint doch so – und wird immer neu.
Das dritte Element, welches den Geist dieser Kirche charakteristisch bestimmt hat, ist dem eben besprochenen entgegengesetzt und hat sich doch neben ihm behauptet: es ist durch die Namen Augustin und Augustinismus bezeichnet. Im 5. Jahrhundert, in derselben Zeit, in welcher diese Kirche sich anschickte, das römische Reich zu beerben, hat sie einen religiösen Genius von außerordentlicher Tiefe und Kraft erlebt, ist auf seine Empfindungen und Ideen eingegangen und vermag sie bis auf den heutigen Tag nicht abzustoßen. Es ist die wichtigste und wunderbarste Thatsache in ihrer Geschichte, daß sie gleichzeitig cäsarisch und augustinisch geworden ist. Was ist das aber für ein Geist und eine Richtung gewesen, die sie durch Augustin empfangen hat?
Nun zunächst, Augustin’s Frömmigkeit und Theologie bedeuteten eine eigentümliche Wiedererweckung der paulinischen Erfahrung und Lehre von Sünde und Gnade, von Schuld und Rechtfertigung, von göttlicher Prädestination und menschlicher Unfreiheit. Während diese Erfahrung und Lehre in den vergangenen Jahrhunderten verloren gegangen waren, erlebte Augustin in seinem Inneren die Erlebnisse des Apostels Paulus, brachte sie auf ähnliche Weise wie dieser zur Aussprache und faßte sie in bestimmte Begriffe. Von bloßer Nachahmung ist hier nicht die Rede – die Unterschiede sind im einzelnen höchst bedeutend, zumal in der Auffassung der Rechtfertigung, die sich für Augustin als ein stetiger Prozeß darstellte, bis die Liebe und alle Tugenden das Herz ganz ausfüllen; aber wie bei
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/164&oldid=- (Version vom 30.6.2018)