selbst erworben hat. Dieser Staat aber identifiziert sich mit dem Himmelreich; im übrigen verfährt er wie andere Staaten auch. Von hier aus mögen Sie selbst alle Ansprüche der Kirche ableiten; sie ergeben sich ohne Schwierigkeit. Auch das Exorbitanteste erscheint als das Selbstverständliche, sobald nur die beiden Obersätze richtig sind: „Die römische Kirche ist das Reich Gottes“, und „die Kirche muß wie ein irdischer Staat regieren.“ Daß auch christliche Motive in diese ganze Entwicklung mit hinein gespielt haben – der Wille, die christliche Religion wirklich mit dem Leben in Verbindung zu setzen und alle Verhältnisse von ihr durchdringen zu lassen, sowie die Sorge um das Heil der einzelnen und der Völker –, soll nicht geleugnet werden. Wie viele ernste katholische Christen haben wirklich nichts anderes gewollt, als die Herrschaft Christi auf Erden aufzurichten und sein Reich zu bauen! Allein so gewiß sie durch diese Absicht und die Energie ihrer Arbeit den Griechen überlegen gewesen sind, so gewiß ist es ein schweres Mißverständnis der Anweisung Christi und der Apostel, das Reich Gottes durch politische Mittel herbeiführen und bauen zu wollen. Dieses Reich kennt keine anderen Kräfte als religiöse und sittliche und steht auf dem Boden der Freiheit. Die Kirche aber, die wie ein irdischer Staat auftritt, muß alle Mittel desselben, also auch verschlagene Diplomatie und Gewalt, brauchen; denn der irdische Staat, selbst der Rechtsstaat, muß unter Umständen zum Unrechtsstaat werden. Die Entwicklung, die die Kirche als irdischer Staat genommen hat, mußte sie dann folgerecht bis zur absoluten Monarchie des Papstes und bis zur Unfehlbarkeit desselben führen; denn die Unfehlbarkeit bedeutet in einer irdischen Theokratie im Grunde nichts anderes als das, was die volle Souveränität in dem Weltstaate bedeutet. Daß aber die Kirche vor dieser letzten Konsequenz nicht zurückgeschreckt ist, ist ein Beweis, in welchem Maße das Heilige in ihr verweltlicht ist.
Daß nun dieses zweite Element die charakteristischen Züge des Katholizismus im Abendland – den Traditionalismus, die Orthodoxie, den Ritualismus und das Mönchtum – durchgreifend verändern mußte, ist offenbar. Der Traditionalismus gilt nach wie vor; wenn aber ein Element in ihm unbequem geworden ist, so fällt es, und der Wille des Papstes tritt an die Stelle: „Die Tradition bin ich“, soll Pius IX. gesagt haben.[WS 1] Ferner die „rechte Lehre“ ist noch immer ein Hauptstück; aber die Kirchenpolitik des Papstes vermag sie faktisch zu ändern;[AU 1]durch kluge Distinktionen hat so
Anmerkung des Autors (1908)
- ↑ Die Kirchenpolitik des Papstes vermag die Lehre faktisch zu ändern – dieser Satz ist bestritten worden; aber auf dem „faktisch“ liegt der Nachdruck, und dann kann er nicht bestritten werden, oder ist z. B. die Unfehlbarkeit des Papstes wirklich die alte katholische Lehre?
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ In einer Auseinandersetzung mit dem Erzbischof von Bologna, Filippo Maria Guidi, über die päpstliche Unfehlbarkeit (1870).
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/163&oldid=- (Version vom 30.6.2018)