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doch Verkümmerungen heraufgeführt. Sie haben das Gefühl der Verantwortlichkeit und die Aktivität der evangelischen Gemeinden geschwächt und dazu den nicht unbegründeten Argwohn geweckt, daß die Kirche eine Anstalt des Staates sei und sich nach ihm zu richten habe. In den letzten Jahrzehnten ist wohl manches geschehen, um durch größere Selbständigkeit der Kirchen jenem Argwohn zu steuern, aber weitere Fortschritte in dieser Richtung sind notwendig, namentlich in Bezug auf die Freiheit der einzelnen Gemeinden. Gewaltsam soll das Band mit dem Staate nicht durchschnitten werden; denn die Kirchen verdanken ihm auch manches Gute; aber die Entwicklung, in die wir getreten sind, muß befördert werden. Dabei ist die Mannigfaltigkeit der kirchlichen Bildungen kein Schade; sie erinnert vielmehr in kräftiger Weise daran, das alle diese Formen arbiträr sind.[AU 1]

Weiter, der Protestantismus hat im Gegensatz zum Katholizismus die Innerlichkeit der Religion und das sola fide ausschließlich betonen müssen; aber eine Lehre in scharfem Gegensatz zu einer anderen zu formulieren, ist immer gefährlich. Der „gemeine Mann“ hörte es nicht ungern, daß „gute Werke“ unnötig, ja seelengefährlich seien. Luther ist für das bequeme Mißverständnis, das sich daran anschloß, nicht verantwortlich; aber von Anfang an mußte in den deutschen Reformationskirchen über sittliche Laxheit und mangelnden Ernst in der Heiligung geklagt werden. Das Wort: „Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote“[WS 1] trat ungebührlich zurück. Erst der Pietismus hat wieder seine zentrale Bedeutung erkannt. Bis dahin war im Gegensatz zu der katholischen „Werkgerechtigkeit“ der Pendel der Lebensführung bedenklich auf die entgegengesetzte Seite hinübergeschwenkt. Aber die Religion ist nicht nur Gesinnung, sondern Gesinnung und That, Glaube, der in der Heiligung und in der Liebe thätig ist: das müssen die evangelischen Christen noch viel sicherer lernen, um nicht beschämt zu werden.

Noch etwas anderes hängt mit dem eben Ausgesprochenen eng zusammen. Die Reformation hat das Mönchtum abgethan und abthun müssen. Mit Recht hat sie es für eine Vermessenheit erklärt, sich durch ein für das ganze Leben abgelegtes Gelübde zur Askese zu verpflichten; mit Recht hat sie jeden weltlichen Beruf, gewissenhaft vor den Augen Gottes geführt, dem Mönchsstande gleich, ja überlegen erachtet. Aber es trat nun etwas ein, was Luther so nicht vorausgesehen und gewollt hat – das „Mönchtum“, wie es

Anmerkung des Autors (1908)

  1. An diesem, aber auch in den folgenden Abschnitten wäre des Unterschieds zwischen Kalvin und Luther, der großen selbständigen Aktivität der kalvinischen Kirchen und des Bruchs zu gedenken gewesen, den erst sie in bezug auf die mittelalterliche Kirche, den Staat, ja die ganze mittelalterliche Kultur vollkommen herbeigeführt haben. Die Kürze der Zeit erlaubte es leider nicht, auf diese Erscheinungen einzugehen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joh 14,15.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/184&oldid=- (Version vom 30.6.2018)