evangelisch denkbar und notwendig ist, verschwand überhaupt. Eine jede Gemeinschaft aber braucht Persönlichkeiten, die ausschließlich ihrem Zwecke leben; so braucht auch die Kirche Freiwillige, die jeden anderen Beruf fahren lassen, auf die „Welt“ verzichten und sich ganz dem Dienst des Nächsten widmen, nicht weil dieser Beruf ein „höherer“ ist, sondern weil er notwendig ist, und weil aus einer lebendigen Kirche auch dieser Antrieb hervorgehen muß. Er ist aber in den evangelischen Kirchen gehemmt worden durch die decidierte Haltung, die sie gegen den Katholizismus einnehmen mußten. Das ist ein teurer Preis, den wir gezahlt haben; die Erwägung, wieviel schlichte und ungefärbte Frömmigkeit dagegen in Haus und Familie entzündet worden ist, kann ihm nichts abziehen! Aber wir dürfen uns freuen, daß in unserm Jahrhundert ein Anfang gemacht worden ist, den Verlust wieder einzubringen. In den Diakonissen und manchen verwandten Erscheinungen erhalten die evangelischen Kirchen das zurück, was sie einst von sich gestoßen haben, weil sie es in seiner damaligen Gestalt nicht anzuerkennen vermochten. Aber es muß sich noch viel reicher und mannigfaltiger ausgestalten!
2. Die Reformation hat nicht nur einen hohen Preis zahlen müssen, sie hat auch nicht vermocht, ihre neuen Erkenntnisse in allen Konsequenzen zu überschauen und rein durchzuführen. Nicht davon ist die Rede, daß sie nicht überall schlechthin Gültiges und Bleibendes geschaffen hat – wie wäre das möglich, und wer könnte das wünschen! Nein, ihre Ausgestaltung ist auch dort rückständig geblieben, wo man nach dem ersten, grundlegenden Anfang Höheres erwarten durfte. Verschiedene Ursachen haben hier zusammengewirkt. Hals über Kopf mußten seit dem Jahre 1526 evangelische Landeskirchen gegründet werden; sie mußten abgeschlossen und „fertig“ sein, als noch so vieles im Flusse war. Dazu kam, daß das Mißtrauen nach links, nach Seite der „Schwarmgeister“, sie bestimmte, Richtungen, mit denen sie noch ein gutes Stück Wegs hätte zusammengehen können, energisch zu bekämpfen. Daß Luther von ihnen schlechterdings nichts lernen wollte, ja daß er gegen seine eigenen Erkenntnisse, wenn sie mit denen der „Schwarmgeister“ zusammentrafen, argwöhnisch wurde, hat sich bitter gerächt und wurde den evangelischen Kirchen in der Aufklärungsepoche heimgezahlt. Man muß noch mehr sagen auf die Gefahr hin, zu den Verkleinerern Luther’s gerechnet zu werden: dieser Genius hatte
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/185&oldid=- (Version vom 30.6.2018)