ein jeder verstehen kann, auch der Knecht und die Magd. Aber dann nahm er doch nicht nur die alten Dogmen von der Trinität und den zwei Naturen in das Evangelium hinein – er war auch außer stande, sie geschichtlich zu prüfen – und bildete sogar neue, sondern er vermochte überhaupt nicht sicher zwischen „Lehre“ und „Evangelium“ zu scheiden, in diesem Punkte weit hinter Paulus zurückbleibend. Die notwendige Folge war, daß der Intellektualismus nicht überwunden wurde, daß sich aufs neue eine scholastische Lehre als heilsnotwendig bildete, und daß wiederum zwei Klassen unter den Christen entstanden – solche, welche die Doktrin verstehen, und solche, welche an das Verständnis jener gebunden und daher unmündig sind.
Zweitens, Luther war überzeugt, daß „Wort Gottes“ nur das ist, wodurch der Mensch innerlich neu geschaffen wird – die Verkündigung der freien Gnade Gottes in Christus. Auf den Höhepunkten seines Lebens war er frei von jeglicher Knechtschaft des Buchstabens, und wie vermochte er zu unterscheiden zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Altem und Neuem Testament, ja wie vermochte er im Neuen Testament selbst zu unterscheiden! Er wollte nichts anderes als die Hauptsache gelten lassen, die aus diesen Büchern hervorleuchtet und ihre Kraft an den Seelen bewährt. Aber er hat nicht reinen Tisch gemacht. Er forderte doch in Fällen, wo ihm ein Buchstabe wichtig geworden war, Unterwerfung unter das: „Es steht geschrieben“; er forderte sie peremptorisch, ohne sich zu erinnern, daß er selbst anderen Sprüchen der h. Schrift gegenüber jenes „Es steht geschrieben“ für unverbindlich erklärt hatte.
Drittens, Gnade ist Sündenvergebung und darum die Gewißheit des gnädigen Gottes, Leben und Seligkeit: wie oft hat Luther das wiederholt und stets hinzugefügt, daß das Wort dabei das Wirksame ist – der Zusammenschluß der Seele mit Gott in Vertrauen und kindlicher Ehrfurcht, am Worte Gottes gewonnen; um ein persönliches Verhältnis handelt es sich. Aber derselbe Mann hat sich in die peinlichsten Streitigkeiten verstricken lassen über die Gnadenmittel, über das Abendmahl und die Kindertaufe, in Kämpfe, in denen er in Gefahr stand, sowohl seinen hohen Begriff von Gnade wieder gegen den katholischen einzutauschen, als die grundlegende Einsicht einzubüßen, daß er sich um etwas rein Geistiges handelt und daß neben Wort und Glaube
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/187&oldid=- (Version vom 30.6.2018)