alles andere gleichgültig ist. Die Hinterlassenschaft, die er hier seiner Kirche zurückgelassen hat, ist ein verhängnisvolles Erbe geworden!
Viertens, die Gegenkirche, die sich rasch gegenüber der römischen und unter ihrem Druck bilden mußte, erkannte nicht ohne Grund ihre Wahrheit und ihr Recht in der Wiederaufrichtung des Evangeliums. Aber indem sie dieses unter der Hand mit dem gesamten Inhalt ihrer Lehre identifizierte, schlich sich ebenfalls unter der Hand der Gedanke ein: Wir, d. h. die Partikularkirchen, die nun entstanden waren, sind die wahre Kirche. Luther selbst hat freilich nie vergessen können, daß die wahre Kirche die heilige Gemeinde der Gläubigen sei, aber in Unklarheiten darüber, wie sich zu ihr die sichtbare neue Kirche verhalte, die nun entstanden war, geriet er doch, und in der Folgezeit bürgerte sich das schlimme Mißverständnis immer mehr ein: Wir sind die wahre Kirche, weil wir die rechte „Lehre“ haben. Von hier aus ist, neben den bösen Folgen der Selbstverblendung und Intoleranz, auch jene schlimme Unterscheidung von Theologen und Pastoren einerseits und Taten andererseits, über die wir bereits gesprochen haben, noch weiter verstärkt worden. Nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis bildete sich wieder, wie im Katholizismus, ein doppeltes Christentum aus, und trotz der Anstrengungen, die der Pietismus dagegen gemacht hat, ist es bis heute nicht überwunden: der Theologe und Pastor muß die ganze Lehre vertreten, muß orthodox sein; für den Laien genügt es, daß er einige Hauptstücke festhält und die Orthodoxie nicht angreift. Noch jüngst ist mit erzählt worden, ein sehr bekannter Mann habe über einen unbequemen Theologen geäußert, er wünsche, derselbe möge in die philosophische Fakultät übergehen, „dann hätten wir statt eines ungläubigen Theologen einen gläubigen Philosophen“. Das ist ganz konsequent gedacht von dem Standpunkt aus, daß die Lehre auch in den evangelischen Kirchen etwas ein für allemal Festgelegtes und trotz ihrer allgemeinen Verbindlichkeit etwas so Schweres ist, daß ihre Vertretung den Laien gar nicht zugemutet zu werden braucht. Aber auf diesem Wege, und wenn die andern Verwirrungen sich auch noch steigern oder verfestigen, droht der Protestantismus zu einer kümmerlichen Doublette des Katholizismus zu werden. Kümmerlich nenne ich sie; denn zweierlei wird er doch nicht erreichen können, nämlich den Papst und den Mönchspriester. Die unbedingte Auto-
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/188&oldid=- (Version vom 30.6.2018)