differenz hat für evangelisches Christentum gar kein Verständnis, sucht es instinktiv zu unterdrücken und rühmt ihm gegenüber wohl den Katholizismus. Zweitens kommt hier in Betracht, was ich die „natürliche Religion“ nennen möchte: die, welche von Furcht und Hoffnung leben, die, welche vor allem nach Autorität in der Religion suchen, die, welche die eigene Verantwortlichkeit los sein wollen und eine Rückversicherung begehren, die, welche eine „Beigabe“ zum Leben, sei es in seinen Feierstunden, sei es in seinen schlimmsten Nöten suchen, eine ästhetische Verklärung oder eine akute Hülfe, bis die Zeit hilft – sie alle schieben ebenfalls, ohne daß sie es wissen, die Religion auf die katholische Linie; sie wollen „etwas Festes“, sie wollen dazu noch seht viel anderes, Anregungen und Hülfen aller Art; aber evangelisches Christentum wollen sie nicht; dieses aber wird, wenn es solchen Wünschen nachgiebt, katholisches Christentum. Die dritte Macht nenne ich ungern, und doch darf sie nicht verschwiegen werden – es ist der Staat. Es ist ihm nicht zu verdenken, daß er an der Religion und den Kirchen vor allem das Konservative und die Nebenwirkungen schätzt, die sie in Hinsicht auf Pietät, Gehorsam und Ordnung leisten. Eben deshalb aber übt er einen Druck in dieser Richtung aus, schützt alles Stabile in den Kirchen und sucht sie von jeder inneren Bewegung abzuhalten, welche ihre Einheit und ihren „öffentlichen Nutzen“ in Frage stellen könnte; ja er hat oft genug darnach getrachtet, die Kirche der Polizei nahe zu rücken und sie als Mittel für die Aufrechterhaltung der Staatsordnung zu benutzen. Man kann das entschuldigen – der Staat mag versuchen, Machtmittel zu nehmen, wo er sie findet; aber die Kirche darf sich nicht zu einem gefügigen Werkzeug hergeben; denn neben allen den verwüstenden Folgen, die das für ihren Beruf und ihr Ansehen hat, wird sie auch auf diesem Wege zu einer äußeren Anstalt, in der die Ordnung wichtiger ist als der Geist, die Form wichtiger als die Sache, der Gehorsam wertvoller als die Wahrheit.
Diesen drei so verschiedenen Mächten gegenüber gilt es den Ernst und die Freiheit des evangelischen Christentums aufrecht zu erhalten. Die Theologie allein vermag das nicht; Festigkeit des christlichen Charakters ist gefordert. Die evangelischen Kirchen werden rückwärts geschoben, wenn sie nicht standhalten. Aus so freien Schöpfungen, wie die paulinischen Gemeinden es waren, ist
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/190&oldid=- (Version vom 30.6.2018)