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Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/191

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einst die katholische Kirche entstanden – wer bürgt dafür, daß nicht auch die Kirchen „katholisch“ werden, welche an der „Freiheit eines Christenmenschen“ ihren Ursprung gehabt haben?

Aber das Evangelium würde deßhalb nicht untergehen: das bezeugt die Geschichte. Es würde als ein roter Faden im Innern des Gewebes immer noch zu finden sein, und es würde an irgend einer Stelle aufs neue hervortreten und sich aus den verstrickenden Verknüpfungen befreien. Auch in den äußerlich geschmückten, innerlich verfallenen Tempeln der griechischen und römischen Kirche ist es nicht verlöscht. „Wage dich vorwärts! unten tief in einem Gewölbe wirst du noch den Altar und seine heilige, ewig brennende Lampe finden!“[AU 1] Dieses Evangelium hat sich mit der Spekulation und der Kultusmystik der Griechen verbunden und ist in ihnen doch nicht untergegangen; es ist mit dem römischen Weltreich vereinigt worden und hat sich sogar in dieser Verschmelzung erhalten, ja noch die Reformation hervorgehen lassen! Seine dogmatischen Lehren, seine Kultusordnungen haben gewechselt, noch viel mehr – es ist von der reinsten Einfalt und von den tiefsten Denkern ergriffen worden; es ist einem Franziskus und einem Newton teuer gewesen. Es hat den Wandel der Weltanschauungen überdauert; es hat Gedanken und Formen, die einst heilig waren, abgestreift wie ein Gewand; es hat an dem gesamten Fortschritt der Kultur teilgenommen; er hat sich vergeistigt und im Laufe der Geschichte seine sittlichen Grundsätze sicherer anzuwenden gelernt. In seinem ursprünglichen Ernst und Trost ist es zu allen Zeiten Tausenden aufgegangen und hat in ihnen alle Belastungen abgeworfen und alle Verzäunungen durchbrochen. Wenn wir ein Recht hatten zu sagen, dass Evangelium sei die Erkenntnis und Anerkennung Gottes als des Vaters, die Gewißheit der Erlösung, die Demut und Freude in Gott, die Thatkraft und die Bruderliebe, wenn es dieser Religion wesentlich ist, daß der Stifter nicht über seiner Botschaft, die Botschaft nicht über dem Stifter vergessen wird – so zeigt die Geschichte, daß das wirklich in Kraft geblieben ist und sich immer wieder durchringt.


Sie werden vielleicht vermißt haben, daß ich auf unsere gegenwärtige Lage, nämlich auf das Verhältnis des Evangeliums zu unserem gegenwärtigen geistigen Zustand, unserer ganzen Welterkenntnis und Weltaufgabe, nicht eingegangen bin. Aber um

Anmerkung des Autors (1908)

  1. Das Wort stammt von Carlyle.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/191&oldid=- (Version vom 30.6.2018)