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Walther Kabel: Das Gewissen. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 11, S. 5–16

Vielleicht ist’s noch Nacht draußen, vielleicht ist’s dir vergönnt, noch einige Stunden zu leben. Da sieht er den grauen Lichtschein. Die Augen weiten sich unnatürlich. Er taumelt und sinkt kraftlos auf das eiserne Bett zurück.

Plötzlich stürzen ihm heiße Tränen aus den Augen. Er weint, weint wie ein Kind, fassungslos, ohne Gedanken, weint, weil die rinnende Tränenflut ihm Erleichterung bringt.

Schlüssel rasseln, Siegel werden zurückgeschoben, und lautlos dreht sich die Zellentür in ihren Angeln. Ein graubärtiger, starkknochiger Gefängniswärter erscheint, eine Laterne in der Hand.

Fritz Gumpert fährt auf, weicht bis an die entgegengesetzte Wand zurück wie ein trunkener mit unsicheren Füßen.

„Laßt mich leben!“ schreit er in schrillen Lauten. „Ich bin unschuldig, ich hab‘s nicht getan!“

Der alte Aufseher stellt die Laterne auf das kleine Tischchen. So sagen sie alle – alle. Er kennt das. Denn dieser da ist ja nicht der erste, den er auf dem letzten Gange begleitet. Die Kollegen fürchten diesen Auftrag. Er nicht. Er hat ein Mittel, den Todgeweihten diesen Gang leichter zu machen. Niemand hat er’s bisher verraten, dieses Mittel. Man könnte ihm solche Reden sonst verbieten. Und das darf nicht sein. Er sieht’s als seine besondere Aufgabe hier auf Erden an, die Todesangst derer etwas, wenigstens etwas zu lindern, die dem Beile des Henkers unrettbar verfallen sind.

Jetzt nickt er dem Delinquenten verstohlen zu. In seinem gutmütigen, faltigen Gesicht liegt ein besonderer Ausdruck, etwas Geheimnisvolles, Hoffnungerweckendes.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Gewissen. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 11, S. 5–16. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Gewissen.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)