Das Gewissen

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Autor: Walther Kabel
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Titel: Das Gewissen
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 11, S. 5–16
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[5]
Das Gewissen.
Erzählung nach Tatsachen. Von W. Kabel.

Mit Bildern von A. Wald.[ws 1]

(Nachdruck verboten.)

Fahles Dämmerlicht des heraufziehenden Tages kriecht durch das enge, vergitterte Fenster immer weiter hinein in den graugetünchten, engen Raum. Ein paar Frühaufsteher unter dem Spatzenvolk zwitschern draußen bereits dem jungen Morgen lebensfroh entgegen.

Dieses durchdringende Tschiptschip ihrer kleinen Kehlen weckt den Mann aus halber Betäubung auf, der bisher, an Händen und Füßen gefesselt, dumpf vor sich hinbrütend auf seiner Lagerstatt gesessen hat. Ein Schreck, der ihm den Herzschlag stocken macht, befällt ihn. Ist der neue Tag wirklich schon da, dieser Tag, der sein letzter werden soll?

Düster starrt er vor sich hin. Er wagt nicht aufzuschauen, wagt nicht hinzublicken nach dem kleinen Zellenfenster. Heute fürchtet er das Tageslicht. Es bringt ihm ja den Tod, das Ende!

Wie ein Schwindel überkommt‘s den Verurteilten. Die Angst, diese wahnsinnige Angst vor dem letzten Augenblick, aufsteigend im Halse wie ein fester, würgender Knäuel, droht ihn zu ersticken.

Jäh erhebt er sich. Seine Augen fliegen nach rechts, während die Hoffnung ihm noch schnell zuflüstert: [6] Vielleicht ist’s noch Nacht draußen, vielleicht ist’s dir vergönnt, noch einige Stunden zu leben. Da sieht er den grauen Lichtschein. Die Augen weiten sich unnatürlich. Er taumelt und sinkt kraftlos auf das eiserne Bett zurück.

Plötzlich stürzen ihm heiße Tränen aus den Augen. Er weint, weint wie ein Kind, fassungslos, ohne Gedanken, weint, weil die rinnende Tränenflut ihm Erleichterung bringt.

Schlüssel rasseln, Siegel werden zurückgeschoben, und lautlos dreht sich die Zellentür in ihren Angeln. Ein graubärtiger, starkknochiger Gefängniswärter erscheint, eine Laterne in der Hand.

Fritz Gumpert fährt auf, weicht bis an die entgegengesetzte Wand zurück wie ein trunkener mit unsicheren Füßen.

„Laßt mich leben!“ schreit er in schrillen Lauten. „Ich bin unschuldig, ich hab‘s nicht getan!“

Der alte Aufseher stellt die Laterne auf das kleine Tischchen. So sagen sie alle – alle. Er kennt das. Denn dieser da ist ja nicht der erste, den er auf dem letzten Gange begleitet. Die Kollegen fürchten diesen Auftrag. Er nicht. Er hat ein Mittel, den Todgeweihten diesen Gang leichter zu machen. Niemand hat er’s bisher verraten, dieses Mittel. Man könnte ihm solche Reden sonst verbieten. Und das darf nicht sein. Er sieht’s als seine besondere Aufgabe hier auf Erden an, die Todesangst derer etwas, wenigstens etwas zu lindern, die dem Beile des Henkers unrettbar verfallen sind.

Jetzt nickt er dem Delinquenten verstohlen zu. In seinem gutmütigen, faltigen Gesicht liegt ein besonderer Ausdruck, etwas Geheimnisvolles, Hoffnungerweckendes.

[7] „Immer vernünftig, Gumpert, nur immer vernünftig!“ meint er aufmunternd. „Eigentlich sollte ich’s ja nicht sagen, aber –“

Er tritt noch näher zu dem Verurteilten heran. Seine Stimme sinkt zum vorsichtigsten Flüstern herab.

„Sie werden nämlich auf dem Schafott begnadigt, Gumpert, ein Ausnahmefall, weil die Akten den Landesherrn von Ihrer Schuld nicht ganz fest überzeugen konnten. Also Kopf hoch, Mann! Und nichts verraten!“

[8] Der andere starrt ihn wie eine überirdische Erscheinung an. Erst langsam begreift er. Und dann packt er den Arm des Alten mit beiden gefesselten Händen, mit zitternden, vor Aufregung kraftlosen Fingern. Heiser wie die eines halb Erwürgten klingt seine Stimme. „Ist – ist das die Wahrheit?“

„Na, so was kann man doch nicht aus der Luft greifen!“ meinte der Wärter mit einem gütigen Lächeln. Und dabei denkt er: Wie oft hast du nicht schon dasselbe gelogen, wie oft log nicht schon dein Gesicht in derselben Weise! – Aber er wußte auch: da droben im Himmel wurde der liebe Gott ihm diese Lüge nicht anrechnen. Sicherlich nicht.

Gumperts Augen wühlen indessen noch immer forschend in dem Gesicht des vor ihm Stehenden. Dann plötzlich eine Frage, hastig, vom Augenblick eingegeben.

„Schwören Sie mir beim ewigen Gott, bei Ihrer Seele Seligkeit, daß es die Wahrheit ist! – Schnell, schwören Sie, foltern Sie mich nicht!“

Seine Finger haben jetzt frische Kraft, geschöpft aus dem Born der Hoffnung. Sie krallen sich immer fester um den Arm des Alten.

„Schwören Sie!“

Ein Schrei aus gequältem Menschenherzen ist’s, der den Wärter zusammenschaudern läßt.

Er zögert. Einen solchen Schwur hat noch keiner verlangt. Alle haben sie ihm geglaubt, sind mit der festen Erwartung hinaus auf den öden Gefängnishof vor den harrenden Scharfrichter getreten, daß man nur zur Strafe mit ihnen diese furchtbare Komödie spiele, daß das rettende Halt im letzten Augenblick gesprochen werden würde. In solcher Lage glaubt ja jeder, da klammert sich auch der Schuldigste an den leisesten Hoffnungsschimmer.

[9] Und nun dieser hier – der verlangt mehr, der verlangt einen Schwur beim ewigen Gott, bei der Seele Seligkeit! – Nein, den kann der alte Andreas nicht leisten, das – das würde der Herrgott droben nie verzeihen.

Ein gellendes Lachen stört den Wärter aus diesen jagenden Gedanken auf.

„Sie Elender!“ preßt Gumpert aus schwer atmender Brust in sich überstürzenden Worten hervor. „Sie treiben Ihren Spott noch mit mir, machen sich über mich lustig! Wissen Sie denn, was es heißt, in einem Augenblick Hoffnungen wecken und wieder zerstören, wissen Sie, was Sie mir angetan haben? Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen, mich darein gefunden, zu sterben, noch heute, in wenigen Minuten zu sterben! Und da kommen Sie mit Ihren scheinheiligen Reden, mit Ihren Lügen, die ich wie einen neuen Lebensodem in mich aufnahm, die mir Zauberbilder einer lichten Zukunft vorgaukelten! Und alles das nur eine schändliche Vision, von Ihnen hervorgerufen! Die Wahrheit ist der Tod – der Tod!“

Des Verurteilten Stimme ist immer leiser geworden, ihr Tonfall hat gewechselt. Und das letzte kommt nur noch heraus wie ein Hauch, grausig, entsetzlich in dieser gelallten Monotonie.

Der Wärter wagt nichts zu erwidern. Lautlos beginnt er seines Amtes zu walten. Er hat es nicht schwer mit dem Delinquenten. Fritz Gumperts Kräfte sind völlig erschöpft. Willenlos läßt er alles mit sich geschehen. Und auch auf die Frage, ob er nicht doch noch dem bisher stets zurückgewiesenen Geistlichen Gehör schenken wolle, schüttelt er nur langsam den Kopf.

Dann führen sie ihn hinaus durch die hallenden Gänge.

[10] Er sieht nichts, hört nichts. Automatisch bewegt er sich vorwärts, wohin man ihn leitet. Vor seinem geistigen Auge ziehen jetzt noch einmal jene Ereignisse vorüber, aus denen man die Beweise für seine Schuld aufgebaut hat.

Leichtsinnig war er gewesen, einer, der des Lebens Freuden auskosten wollte bis auf den Grund. Und dazu hatte er gespielt, hatte durch leichten Gewinn die Mittel zum Genießen erwerben wollen. Bald kam die erste Bücherfälschung, die erste Unterschlagung. Weitere folgten. Ihm, dem Prokuristen des aufstrebenden Bankhauses, war das Betrügen ja so leicht gemacht. Ein halbes Jahr hindurch hatte er alles vertuschen können, bis er dann urplötzlich dicht, ganz dicht vor dem Abgrund stand. Kein Zweifel – schon am nächsten Tage mußten seine Verfehlungen entdeckt werden. Ein Depot war gekündigt worden, das er nie gebucht hatte. Da gedachte er zu entfliehen. Aber nicht mittellos wollte er in die Welt hinaus. Abends, kurz vor Kassenschluß, nahm er aus dem offenen Tresor mit blitzschnellem Griff ein Paket Banknoten, schob dafür ein äußerlich ganz ähnliches an die Stelle, das nur wertloses Papier enthielt. Der anwesende Kassierer hatte nichts bemerkt. Wer beargwöhnte auch Fritz Gumpert! – Mit dem Abendzuge suchte er das Weite, die gestohlenen fünfzigtausend Mark in der Tasche. Er hatte sich nach Möglichkeit unkenntlich gemacht, den Bart abnehmen lassen und eine dunkle Perücke über sein blondes, kurzgeschorenes Haar gestreift. Trotzdem fing man ihn in Hamburg, als er gerade den Dampfer besteigen wollte, brachte ihn zurück und stellte ihn unter Anklage wegen – Raubmordes.

Wegen Raubmordes! Denn wenige Stunden vor seiner Flucht hatte der Direktor der Bank nochmals [11] den Kassenraum betreten und dort den Kassierer mit einer furchtbaren Schädelwunde tot vor dem ausgeraubten Panzerschrank aufgefunden. So war er, Fritz Gumpert, bei dem man die fünfzigtausend Mark bei seiner Verhaftung beschlagnahmt hatte, in aller Augen zum Mörder geworden.

Was halfen ihm all seine Unschuldsbeteuerungen gegenüber den schwerbelastenden Momenten, die sein bisheriger Lebenswandel, seine Unterschlagungen ergaben. Was half es ihm, daß er immer wieder versicherte, er sei unschuldig. Niemand glaubte ihm. Er solle angeben, wo er den Rest des geraubten Geldes, weitere hundertachtzigtausend Mark, versteckt habe, solle wenigstens durch ein offenes Geständnis sein Gewissen entlasten. Er konnte nichts weiter beichten, konnte nicht. Er wußte ja nichts von einem Morde, war schuldlos an dieser blutigen Tat.

So nahmen die Geschworenen sein Schweigen als Verstocktheit, seine heißen Unschuldstränen als Heuchelei hin, so ward er zum Tode verurteilt.

***

Unter den zwölf Zeugen, die gesetzmäßig jeder Hinrichtung beiwohnen sollen, befand sich auch Bankdirektor Gruber, der Inhaber jenes von Gumpert so schwer geschädigten Instituts.

Grubers Gesicht sah in dem Zwielicht des frühen Tages unter dem schwarzen Zylinderhut erschreckend bleich aus. Seine Mundwinkel zuckten fortwährend in nervöser Erregung, und immer wieder trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn. Nur mit Mühe vermochte er seine äußere Haltung zu bewahren, nur stotternd konnte er sich an der leisen Unterhaltung der Umstehenden beteiligen, die immer wieder scheu, mit stillem [12] Grauen nach dem niedrigen Block mit dem Korb dahinter und dem ernsten Scharfrichter und seinen Gehilfen hinblicken mußten, wie getrieben von einem unwiderstehlichen Zwange.

Jetzt begann das Armesünderglöckchen zu läuten. [13] Bei diesen wimmernden Klängen überlief den Bankdirektor ein eisiger Schauer. Einer Ohnmacht nahe lehnte er sich an die kalte Steinwand. Der Boden schien unter seinen Füßen zu schwanken. Das Blut sang ihm in den Ohren, bunte Sternchen zuckten vor seinen Augen auf, zerstiebten wieder. – Nur nicht schwach werden, nur aushalten! Wenn er doch nur den Mut gehabt hätte, die Eintrittskarte zu diesem furchtbaren Schauspiel zurückzuweisen! dachte er jetzt angstvoll. Aber er hatte es nicht gewagt in seiner steten Furcht, durch irgend eine Kleinigkeit Argwohn zu erregen. – Am liebsten hätte er sich jetzt die Finger in die Ohren gestopft und die Augen fest geschlossen, nur um nichts mehr zu sehen, nichts zu hören.

Er durfte es nicht. Nur nicht auffallen! Bald mußte ja alles vorüber sein, bald würde – ein Unschuldiger dort auf dem Block den letzten Seufzer ausgehaucht haben und er –

Nun, er würde die Ruhe und die alte Sicherheit wiederfinden.

Der Staatsanwalt verlas das Urteil. Vor ihm stand Fritz Gumpert, fahlen Antlitzes, die Augen starr nach oben gerichtet, wo der Himmel von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne mit durchsichtiger Helle durchtränkt war.

Und jetzt wurde ihm die mit der Unterschrift des Landesherrn versehene Urkunde vor die Augen gehalten.

Fritz Gumpert schien aus tiefster Betäubung zu erwachen. Sekunden trennten ihn nur noch von dem letzten Augenblick.

„Ich sterbe unschuldig, meine Herren,“ sprach er [14] mit leise zitternder und doch klarer Stimme und schaute dabei nach der Gruppe der Zeugen hin, wobei sein Blick unwillkürlich auf dem einzigen, ihm bekannten Gesicht, dem seines früheren Chefs, haften blieb. „Den aber, der den Mord auf dem Gewissen hat, wird der Himmel furchtbarer strafen als mich. Denn er ist ein doppelter Mörder!“

Das war zuviel für die erschöpften Nerven des Bankdirektors. Mit einem nicht mehr menschlichen Aufschrei stürzte er in Zuckungen sich windend zu Boden, brüllte immerfort: „Ich tat’s – ich tat’s ja! Schont ihn – nur keinen zweiten Mord, nur keinen zweiten Mord!“

***

Eine Stunde später trat der Staatsanwalt, noch ganz bleich vor innerer Erregung, zu Fritz Gumpert in die Zelle und überbrachte ihm die freudige Botschaft, daß Gruber soeben ein umfassendes Geständnis abgelegt habe.

„Ihre Unschuld ist jetzt klar erwiesen,“ sagte er herzlich und drückte dem Geretteten warm die Hand. „Gruber hatte an der Londoner Börse mit großem Verlust spekuliert und mußte sich schleunigst Geld beschaffen. Da er aber den Ruf seiner Bank durch die Aufnahme eines hohen Darlehens nicht gefährden konnte und auch keinen anderen Ausweg sah, erschlug er selbst nach Geschäftschluß den noch bei der Tagesabrechnung sitzenden Kassierer mit einem Totschläger, brachte seinen Raub in Sicherheit und machte dann Lärm, als ob er den Mord eben erst entdeckt hätte. Und da er gegen Diebstahl versichert war, mußte ihm die Versicherung, worauf er von vornherein gerechnet hatte, die von ihm selbst gestohlene Summe ersetzen, so daß er allen seinen [15] Verpflichtungen nachkommen konnte. Er hatte auch weiter insofern Glück, als Sie eben an demselben Abend geflohen waren und der Verdacht der Täterschaft dadurch sofort auf Ihre Person gelenkt wurde. – Jedenfalls werden Sie unter diesen Umständen in kurzer Zeit wieder frei sein, Gumpert, und ebenso dürfte Ihre Strafe wegen der anderen Vergehen als verbüßt angesehen werden.“ – – –

[16] Kaum hatte der Staatsanwalt die Zelle verlassen, erschien der alte Wärter mit einer Flasche Rotwein in der Hand.

„Dies schickt der Herr Gefängnisdirektor. Trinken Sie nur, damit Sie erst wieder etwas zu Kräften kommen. – So …! – Na, und wer hat nun damit recht gehabt, daß Sie begnadigt werden würden?! – Ich denke der alte Andreas!“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Da die biographischen Daten von Adolf Wald nicht ermittelt werden konnten, wurden die Bilder entfernt.