hohen Mauern umgeben war. Alles atmete da Verfall, doch aus dem Verkommenden erwuchs Neues in uralter, gleichtöniger Wiederholung. Aus dem morschen, berstenden Gemäuer drängten sich Buschwerk und blühende Gräser zum Leben hervor ans Licht; in dem Unrat am Boden wühlten kleine schwarze Ferkel, pickten und scharrten Enten und Hühner, Nahrung suchend. Die Reisende ritt durch die morastige Dorfstraße, begegnete buddhistischen Mönchen mit glattrasierten Schädeln und alten Männern, die ihre Lieblingsvögel in kleinen Käfigen mit sich spazieren trugen. Drollige Kindergestalten, auf deren Köpfen die noch kurzen Haare zu mehreren starr abstehenden Zöpfchen geflochten waren, umstanden einen alten, blinden, fahrenden Sänger; mit mageren, gelben Fingern griff er in die Saiten einer Gitarre; schrill zirpende Töne begleiteten sein einförmig klagendes Lied.
»Auch ein Wanderer auf der weiten Welt«, dachte wehmütig die Vielgereiste, die ihr Pferd angehalten und dem seltsamen Sang ein Weilchen gelauscht hatte. Dann warf sie dem Alten eine Münze zu, ritt weiter zum Tore hinaus und schlug den Pfad ein, auf dem der Mafu, der chinesische Reitknecht, schon voraustrabte. Seitwärts von der Landstraße abbiegend, führte er sie zwischen Feldern hohen Kauliangs den Bergen zu. Die
Elisabeth von Heyking: Weberin Schuld. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Weberin_Schuld_Heyking_Elisabeth_von.djvu/110&oldid=- (Version vom 31.7.2018)