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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

oder so etwas halten, denn er trug nicht selten die Embleme des Dienstes, ein Actenstück oder eine Ledermappe mit Skripturen in der Tasche oder unter dem Arme mit sich herum, ohne daß man wundersviel dahinter suchen mochte.

Aber den nämlichen Mann mit Dienstmütze und blauem Kittel sah man, wie er raschen Schrittes über die Straße der Stadt eilte, gefolgt von allerhand dienstbeflissenen, schwarzbefrackten Herren in Hüten, denen man es ansah, daß ihnen der kleine blaue Domino keineswegs gleichgültig war.

Noch mehr. Wenn Wege und Straßen im Festschmucke prangten, wenn die bewimpelten Häuser und die Glocken der Thürme der wogenden Volksmasse den Einzug des Thronfolgers oder Königs verkündeten, wenn der Sechsspänner heranstürmte und der Monarch im grauen Soldatenmantel freundlich grüßte: dann saß gar oft neben ihm der Mann mit dem klugen Gesicht und dem nämlichen blauen Kittel, in welchem man ihm draußen in Flur und Wald begegnete. Auch die Pfeife war selbst neben dem Landesfürsten nicht vergessen.

Dieser Mann war kein Anderer, als Freiherr Ludwig von Vincke, der Oberpräsident von Westphalen.

Werfen wir, ehe wir zur Schilderung des Mannes übergehen, einen Blick auf dieses Westphalen und seine Bewohner.

Bekanntlich scheidet sich Westphalen in zwei sehr verschiedene Landschafts- und Bevölkerungsmassen: in das Flachland, welches sich von der Egge und dem Haarstrang, im Nordosten vom Teutoburger Waldgebirge begrenzt, gegen Westen nach Holland, Hannover und Oldenburg zu jenen unabsehbaren Haideflächen und Torfmooren ausbreitet, und in die gebirgigen Landestheile, südlich vom Haarstrang und der Egge, das Paderbornerland, Sauer- und Siegerland, die Grafschaften Ravensberg und Mark.

In dem einsamen Sand-, Moor- und Haidelande nun, in jenem Baum- und Buschgrün, jenem tiefen Frieden, wo jedes Bauernhaus wie im Haine vergraben liegt, wohnt ein sehr merkwürdiger Menschenschlag. Er ist je nach den verschiedenen Landstrichen verschieden, ohne seine specifisch zusammengehörigen Seiten zu verleugnen. Der Westphale zeigt im Ganzen einen starken, kräftigen Wuchs, er liefert ausgezeichnete Beiträge zum Gardecorps nach Berlin, ist breitschultrig und hübsch gewachsen, sein Naturell seinem Boden angemessen. Hager und sehnig mit scharfen, schlauen, tiefgebräunten, vor der Zeit von Mühsal und Leidenschaft durchfurchten Zügen, die Frauen voll früher, üppiger Blüthe, aber mit eben so frühem, zigeunerhaftem Alter, so begegnet Dir das Paderborner Volk. Hier findest Du die rauchigsten und dachlückigsten Hütten, die ärmlichsten Heerdstellen, die ärgste Noth neben dem frömmsten Aberglauben, der tollsten Gespensterfurcht, neben Hexenglauben und sympathetischen Curen. Der Name „grober Paderborner“ begegnet Dir durch ganz Westphalen. Die Einwohnerschaft des Hochlands, der lieblichen, gewerblichen Flußthäler, praktische Köpfe, ein gemachtes schlaues Handelsvolk zeigt gefälligere Formen, aber Allen wohnt eine gewisse Zurückhaltung gegen fremde Lebensformen, ein ernstes, gegen freundliche Ironie stutziges Wesen bei, das überhaupt den Westphalen andern Deutschen gegenüber charakterisirt. Er stemmt sich gern mit der ganzen Zähigkeit seiner Volksnatur gegen das Neue, besonders wenn es ihm durch irgend eine Gewalt aufgedrungen wird. Dieser Sinn ist so alt wie die westphälischen Eichen. Karl der Große brauchte dreißig Jahre unaufhörlichen Kampfes, um die Freiheit in Westphalen zu brechen, und erhoben sich nicht früher noch auf westphälischem Boden die Schaaren, welche die Römerherrschaft abschüttelten? Westphalen war es, wo die communistische radikalste Reaction gegen den Bestand kirchlicher, staatlicher und socialer Zustände empor wuchs, die wir die Unruhen der Wiedertäufer nennen.

Vor allen Westphalen ist der Bewohner des Münsterlandes eine interessante Erscheinung, ein Rest eines absonderlichen Wesens, welches in unsern Tagen, in welchen sich alles Menschliche abschleift und nivellirt, einen höchst pikanten Originalitätsreiz gewährt. Nach uralter Sage gelangten einmal der Herr und sein Jünger St. Peter nach Westphalen, das sie mit Eichenwäldern bedeckt und nur von Schweinen bewohnt fanden. Petrus drang in den Herrn, diese Einsamkeit auch mit Menschen zu bevölkern; Christus schüttelte das Haupt, als aber der Jünger nicht abließ, versetzte er: „Nun, ich will Deinen Wunsch gewähren, aber Du wirst sehen, was daraus entsteht!“ Darauf stößt der Herr einen von den Schweinen zurückgelassenen unästhetischen Gegenstand, der vor ihm lag, mit dem Fuße an und sprach: „Werde ein Mensch.“ Alsobald erhebt sich ein trotziger, starker Kerl von der Erde und fährt den Herrn mit den Worten an: „Wat stött he mie?“ (Was stößt er mich?) Das war der erste Westphale, dessen Nachkommen dann der Sympathie für Schweinefleisch so treu blieben, daß der Maler auf dem Fenstergemälde in der Wiesenkirche zu Soest das Osterlamm beim Abendmahl in einen Schinken verwandelt hat. Sollen wir uns hiernach wundern, daß der berühmte Gelehrte Justus Lipsius seine in Westphalen geschriebenen Briefe „aus der Barbarei bei den Breifressern“ datirte, daß Voltaire’s „Candide“ so manchen Unglimpf über das Land schleuderte? Jedenfalls hat der Racencharakter hier seinen Typus bewahrt. Es ist dies vorzugsweise die feste, knorrige Eichenholznatur, die ererbte Sitten und Anschauungen festhält, einen religiösen Sinn nährt, gute Hauswirthe und tüchtige Soldaten giebt, daneben aber nicht ohne Fanatismus, Härte, Eigensinn ist. Dieser Starrsinn hat bei dem Bauer die gute Folge, daß er seinen Besitz erhält. Vergeblich würde man einem rechten westphälischen Hofbesitzer für ein zum Bestande seines Colonats gehöriges Grundstück das Zwanzigfache des Werths bieten: „davon bruk wie nich to küren!“ wäre die Antwort. Man ist schwer von Begriff, ohne eigentliches Wohlwollen, mißtrauisch, unzugänglich für die Macht der Form, ohne Schwung und Enthusiasmus, der „sich gern in’s Allgemeine taucht, gern mit dem vollen Strom des Lebens geht.“ Irgendwelches Organ von Idealismus besitzt der Münsterländer nicht. Villen, schöne Gartenanlagen und Parks finden wir auch neben den Schlössern des Adels nicht, diese zeigen eine eben so eigenthümliche Schmucklosigkeit, wie die ländlichen Friedhöfe.

Der am prägnantesten ausgebildete Theil westphälischen Stammes ist aber seine aristokratische Genossenschaft. Der Adel Westphalens hat auf die Geschichte des Landes einen imposanten Einfluß geübt, seine Vergangenheit zeigt eine Reihe von eigenthümlichen Kernnaturen von viel absonderlichen, viel abstoßenden Eigenschaften, aber in Allen ist tüchtige zähe Kraft; es sind praktische realistische Menschen, hart, unbeugsam, in alter Zeit vornehmlich, zu Zorn und Gewaltthat geneigt, sie haben einen starken Unabhängigkeitssinn. Wer Originale des frühern westphälischen Adels kennen lernen will, der lese die sorgfältig und geistvoll von Levin Schücking gezeichneten „Westphälischen Charaktere“. Gestalten, wie Rudolph v. Langen, Hermann v. Busch, Ferdinand v. Fürstenberg, drei historisch bedeutende Charaktere auf dem Gebiete der Wissenschaft, wandeln an ihm vorüber. Kriegshelden, wie Bernhard v. Horstmar im 13. und vor allen Walter v. Plettenberg, der „Bombenfürst“ genannt, Heermeister des deutschen Ordens, am Ende des 15. Jahrhunderts, einer der Helden, welche im deutschen Pantheon, der Walhalla, einen ehrenvollen Platz gefunden haben; ferner die derbste und schroffste Adelsnatur, Christoph Bernhard v. Galen, Fürstbischof und Schlachtenheld zugleich, der das Schwert gegen die Generalstaaten, Holland, Frankreich, Kurbrandenburg, Dänemark und die Türken schwingt, schließen sich an. Wer kennt ferner nicht den Staatsmann, Minister v. Fürstenberg, seit 1763 an der Spitze des Münsterlandes, wie er mit genialer Schöpferkraft im Sinne der neuen Humanitätsideen des Jahrhunderts wirkt, einen geistreichen Kreis, repräsentirt durch die Fürsten Galyzin, Hamann, Jacobi, Hemsterhuys, Stollberg und Goethe, dem verrotteten Münster näher bringt? Er war eine echt westphälische, gegen alle Form gleichgültige Natur, klein im grauleinenen Kittel und Lederkäppchen, reitend auf einem kleinen Pferde, und so zerstreut, daß er den Namen seines Lieblingsrößleins statt seines eignen Namens unter eine Verordnung schrieb, ein genialer Abenteurer, dessen Sonderlingseigenschaften wie ein vererbtes Stammgut durch mehrere Generationen hindurchgehen. Die letzte mächtige Verkörperung westphälischer Stamm- und Raceeigenschaften trat 1837 auf die Schaubühne europäischer Ereignisse und stellt jene Eigenschaften in der ausgeprägtesten Vollendung dar. Es ist der Erzbischof Freiherr v. Droste zu Vischering. Wir werden seine nähere Bekanntschaft machen.

Die meisten adeligen Excentricitäten sind von der Cultur, „die alle Welt beleckt“, beseitigt, der Adel hält sich nach dem Umschwung aller seiner Verhältnisse mit vornehmer Resignation und in ruhiger Zurückgezogenheit auf seinen Gütern, bringt einige Zeit des Jahres in seinen stattlichen Hotels entre cour et jardin in Münster zu, wo er eine streng abgesonderte Gesellschaft bildet, trägt ererbte Schulden ab, vergrößert seine Besitzungen, wird täglich reicher, sorgt für strengkirchliche Erziehung seiner Kinder und beschränkt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_230.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)