Seite:Die Gartenlaube (1867) 424.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Der Gensd’arm ließ uns unbehelligt passiren. Ein dritter College war nicht zu sehen. Auch Nummer Eins nicht, dem wir auf Befragen ruhig berichtet haben würden, daß seine Meinung von der Unzugänglichkeit der Marienburg für Nichtlegitimirte ein Irrthum gewesen. In bester Laune über unsern Erfolg schlenderten wir über die Kalkbrennerei und die Leinebrücke neben derselben nach Nordstemmen zurück, und wohlbehalten waren wir Abends halb elf Uhr wieder in Hannover. Ein kleines Abenteuer hätte die Tour und ihre Beschreibung unzweifelhaft gewürzt. Aber es wollte sich durchaus keins begeben. Manche Leute erleben eben keine Abenteuer, selbst wenn sie solche suchen, und so muß der freundliche Leser ohne dieses Gewürz vorlieb nehmen.




Gefängnißleben zur Schreckenszeit.
Von Johannes Scherr.


Es ist unnütz, sie zu preisen, es ist kindisch, sie zu schmähen, die große Revolution. Sie war, wie sie sein mußte; ihre Wirkungen entsprachen ganz genau ihren Ursachen, wie Blitz und Donner den ihrigen entsprechen. Man kann sie auch nicht mehr eine „Sphinx“ heißen, denn die historische Analyse hat ihre Motive bis zum größten und bis zum kleinsten bloßgelegt und klar gemacht. Wir wissen, was sie wollte, was sie erreichte, wie sie irrte, wo sie fehlte. Wir kennen ihre titanische Tendenz, bewundern ihre gigantische Kraft, segnen ihre unvergänglichen Schöpfungen und verdammen ihre Verbrechen. Und dennoch ist etwas Geheimnißvolles in diesem erhabensten Trauerspiel der Weltgeschichte, etwas, das mit der unwiderstehlichen Macht eines grandiosen Naturphänomens wirkt, dessen Gesetz noch nicht gefunden ist. Sollte es vielleicht der Riesenodem der Leidenschaft, welcher dieses Drama schwellte, sollte er es sein, der demselben diesen magischen Reiz, dieses unvergleichliche Interesse verleiht?

Oder werden wir, je mehr wir die Revolution in ihren Ursachen, Wirkungen und Folgen, in ihren Triumphen und Verirrungen begriffen zu haben glauben, nur um so mehr von dem Gefühle der Unbegreiflichkeit dieser Erscheinung angefaßt? Mir selber, der ich mich viel damit beschäftigte und auch Einiges zur Berichtigung des Urtheils über die Menschen und die Ereignisse der großen Katastrophe beigetragen zu haben glaube, mir selber ist, so oft ich mich in die Betrachtung der Revolution versenke, als stände ich wieder vor der bekannten Medusa Rondanini in München, deren tödtliche Schönheit jeden Empfänglichen mit Entzücken zugleich und mit Grauen durchschauert. Oder auch empfinde ich, die Revolutionstragödie in ihrer Ganzheit fassend, den gewaltigen Schlageindruck, welchen unser Dichter von der „Macht des Gesanges“ ausgehen läßt:

„Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude mit Gigantenschritt
Geheimnißvoll nach Geisterweise
Ein ungeheures Schicksal tritt:
Da beugt sich jede Erdengröße
Dem Fremdling aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöse
Verstummt und jede Larve fällt.“

Das ist’s! Alle Larven fielen und die Personen des weltgeschichtlichen Dramas sprachen und handelten, wie sie waren, in ihrer ganzen Größe und in ihrer ganzen Blöße. Alles, was menschlich und was bestialisch im Menschen, kam ohne Maske, ohne Schminke und ohne Feigenblatt zum Vorschein. Helden und Heldinnen, Narren und Närrinnen, Schelme und Schelminnen, Schurken und Schurkinnen, Fanatismus und Berechnung, Begeisterung und Selbstsucht, Weisheit und Thorheit, Tugend und Laster, sie spielten nach der Natur, ganz nach der Natur, und äschyleischen Heroen und sophokleischen Heroinnen zur Seite tölpelten shakespeare’sche Clowns und rissen rabelais’sche Panurge ihre Zoten.

Sie ist immer noch nicht geschrieben, die Geschichte dieser Revolution, wie sie geschrieben sein könnte, sollte, müßte. Aber freilich, wer so sie schreiben wollte, müßte mit dem Gewissen des Tacitus die Phantasie Dante’s und mit dem Genie Shakespeare’s die Kühnheit des Aristophanes vereinigen. Bis ein solches „Ungeheuer von Vorzügen“ dermaleinst kommt, mag es gerathen sein, diese und jene Seite des großen, nie zu erschöpfenden Gegenstandes unbefangen zu untersuchen und mit rücksichtsloser Wahrhaftigkeit darzustellen, falsch Beleuchtetes in ein besseres Licht zu rücken, gäng und gäbe Irrthümer als solche zu signalisiren und also auch in weiteren Kreisen einer richtigeren Anschauung und Würdigung einer Epoche Bahn zu brechen, welche die Menschen so viel lehren könnte und würde, falls sie nur sich belehren lassen wollten.

Da hat man z. B. aus den Einzelnheiten des Pariser Gefängnißlebens während der Herrschaft des „Schreckens“ (1792 bis 1794) einen Schauderroman zusammengekleistert, welcher ganz geeignet war, Unwissenden die Haare sträuben zu machen. Laßt uns nun zusehen, wie es sich damit in der Wirklichkeit verhält. Selbst wenn wir auf den Umstand, daß wir als auf unser Quellenmaterial fast durchweg auf die Erzählungen von Gefangenen angewiesen sind, welche sammt und sonders in höherem oder geringerem Maße Feinde der Revolution gewesen, nicht das Gewicht legen, welches wir von Rechtswegen darauf legen könnten, selbst dann wird sich als geschichtliche Wahrheit ergeben, daß die „Teufelin Revolution“ auch in dieser Richtung bedeutend viel schwärzer gemalt worden ist, als sie war. Es ist ihr das auch anderweitig sattsam widerfahren. Ist es doch Historikern vom gewöhnlichen Schlage nie eingefallen, über die Thatsache nachzudenken oder derselben auch nur zu erwähnen, daß manche der Schlachten Napoleon’s, z. B. die an der Moskwa, mehr Menschen hingerafft hat, als das ganze Schreckensregiment der Revolution. Aber freilich, Napoleon war ein gekrönter Kaiser und – das Uebrige mag sich der Leser denken oder auch nicht denken, wie es ihm beliebt.

Es ist wahr, während der Schrecken regierte, strotzten die Pariser Kerker von Gefangenen. Die Zahl von achttausend mag die regelmäßige gewesen sein. Es ist wahr, daß über allen diesen Tausenden beständig das Fallbeil schwebte. Es ist wahr, daß sich der Schrecken mit dem unauslöschlichen Schandmal befleckte, auch Frauen und Mädchen um ihrer politischen Meinungen willen eingekerkert und hingerichtet zu haben. Es ist endlich wahr, daß in diesem oder jenem der Gefängnisse die Insassen mit Strenge, in einzelnen Fällen auch mit Härte behandelt wurden. Aber eben so wahr ist, daß von einer raffinirten Kerkerpein im Ganzen und Großen gar keine Rede gewesen ist. Von einem System, die Gefangenen zu quälen, ist keine Spur vorhanden. Es war ja unserem „humanen“ Jahrhundert vorbehalten, die Marter der politischen Gefangenen in ein System zu bringen. Seid Zeugen dessen, ihr Casematten des Spielbergs, ihr Einzelzellen in deutschen Zuchthäusern, ihr Käfige des Mont Saint-Michel, ihr Bagnos von Ischia und Lambessa und du, o „trockene“ Guillotine von Cayenne! Die Titanen der Revolution – und Titanen bleiben sie, mag eine servile Historik noch so sehr sich befleißen, verkleinernd an ihnen herumzumäkeln – sie hatten gar keine Zeit, mit solchen kleinlichen Bosheiten und raffinirten Grausamkeiten sich zu befassen. Sie konnten dieselben getrost den nach ihnen kommenden Rettern der Gesellschaft überlassen.

Wie bereits angedeutet worden, mischten sich, wie in den meisten menschlichen Dingen, auch in dem Gefängnißleben der Schreckenszeit die Lichter und die Schatten. Wir werden jene hervorheben, ohne diese abschwächen zu wollen. Im Gegentheil, es soll den Schatten ihr volles Recht widerfahren.

Zuvörderst ist der Irrthum zu berichtigen, daß die Verwaltung und Beaufsichtigung der Gefängnisse beim Wohlfahrtsausschuß gewesen. Der hatte Wichtigeres zu thun. Die Stadtpolizei von Paris besorgte dieses Geschäft und unterstand dabei der Controle des Sicherheitsausschusses. Die Stadtpolizei hatte aber so ungeheuer viele Arbeit, daß sie ihre Gefängnißbeamten nur oberflächlich beaufsichtigen konnte, und demzufolge hing das in den einzelnen Gefängnissen herrschende Regiment von den Persönlichkeiten der Polizeicommissäre, der Schließer und Schließerinnen, der Wärter und Wärterinnen ab. Von dem einzigen Gefängniß Du Plessis wird uns authentisch gemeldet, daß das Aufsichts- und Wartungspersonal streng, herb und hart gewesen sei, und in diesem Hause war demzufolge der Aufenthalt am peinlichsten. An den Gefangenen, auch den weiblichen, wurde bei ihrem Eintritt

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_424.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)