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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

geknickt für lange, und ein großes Interesse, an dem sich ein neues Geschlecht hätte in Begeisterung ausrichten können, blieb noch ein Jahrhundert lang danach unserm Volk versagt. Aus dem Elend der Wirklichkeit suchten seine tiefern Geister die ideale Rettung im eigenen Gemüth, unmächtig, wie sie es waren, zur praktischen, bessernden Umgestaltung. Der Pietismus wurde deren erste Frucht. Eine solche fortgesetzte Seelenschau und Selbstbetrachtung führt nothwendig zur Entnervung, Eitelkeit und inneren Unwahrheit. Man sah mit froher Genugthuung die Thränen dem eigenen Auge entfließen in andächtiger Entzückung und gläubiger Rührung, und man gewöhnte sich daran, sie so oft wie möglich fließen zu machen, und im Bewußtsein der so erwiesenen Herzensweichheit und Gottseligkeit zu schwelgen. Der ursprüngliche, ausschließlich bewegende Grund dieser Thränen und schmerzlichen Freuden, das fromme Sündenbewußtsein der Pietisten, hatte freilich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts längst andern Erregern und andern Gegenständen der Empfindung weichen müssen, welche nun die schönen Seelen der Gebildeten erfüllten, aber die Wirkung und Aeußerung war fast dieselbe geblieben. Auf den Flügeln hochgesteigerter Empfindungen versuchte man sich über die Enge und Armseligkeit der nahen Umgebung hinauszuschwingen, im Träumen und Dichten ihrer zu vergessen, seltner sie darin anzufeinden und zu höhnen.

Beinahe einzig der eine deutsche Mann unter den Heroen unserer großen Literaturperiode, Lessing, blieb fest und unberührt von der allgemeinen Versessenheit und schaute der Wirklichkeit klar in’s Auge, statt ihr zu entfliehen. Sonst verleugnet keiner der Andern, noch eines der in dieser Aufgangszeit jener Periode erwachsenen Werke das Gepräge solcher Stimmung. Selbst der größte unter den Meistern der Dichtung, welche den Deutschen das mangelnde politische Band wenigstens durch das eines gemeinsamen geistig-künstlerischen Interesses ersetzten, hat in seinem gewaltigen Erstlingswerk, den „Leiden des jungen Werther“, jene beherrschende Stimmung, jene Art des Empfindens und inneren Lebens in der reinsten Kunstgestalt verkörpert und sich damit gründlich selbst befreit von solcher Herrschaft. Der Werther markirt den letzten Höhenpunkt und ist der vollkommene künstlerische Ausdruck der Zeit der schönen und weichgeschaffenen Seelen.

An der bloßen Beobachtung und Wartung ihrer Herzensangelegenheiten aber war es jenen Empfindsamen keineswegs genug. Die dabei gewonnenen Erfahrungen mußten fixirt und gleichsam gebucht werden, wie es die zahllosen reflectirenden Tagebücher jener Zeit bekunden, sowie das massenhafte briefliche Ausströmen der Gefühle der Freundschaft und Liebe, das Schildern der Herzenserlebnisse der verwandten Seelen. Dabei konnte es dann nicht ausbleiben, daß die Erlebnisse erfunden, die Gefühle gemacht wurden, um das gewohnte Bedürfniß der Correspondenz zu erfüllen.

Es bildeten sich in deutschen Landen gewisse Mittelpunkte, von welchen nach allen Seiten hin bis in die Schweiz und Frankreich hinein die Anregungen zu solcher Arbeit in der Empfindsamkeit ausstrahlten und zu welchen als Erwiderung alle jene Ergüsse schöner Seelen zurückströmten. Solch ein Mittelpunkt war das Haus des Vater Gleim zu Halberstadt, der es freilich verstand, den Freundschafts- und Liebesgluthen seiner zahlreichen Dichterfreunde noch eine realere und wirksamere Nahrung zu geben, als den unversiechlichen Zufluß empfindsamer und überschwänglicher Briefe; nämlich directe, thatsächliche Unterstützung und Förderung durch Geld und Gunst. Ein anderer, mehr auf Süddeutschland hin wirksamer Mittelpunkt aber lag am Fuß des Ehrenbreitenstein im gastlichen Hause der liebenswürdigsten Frau und gefeierten Dichterin, Sophie Laroche. Die über ganz Deutschland verbreitete sentimentale Gemeinde von Poeten, schönen Seelen und empfindsamen Frauen gab sich von Zeit zu Zeit an solchen für sie geheiligten gastlichen Stätten Zusammenkünfte, ihre „sentimentalen Congresse“, wie Goethe sie bezeichnet. Man belebte und erfrischte den Eindruck, welchen man gegenseitig aus der Correspondenz gewonnen, durch die persönliche Gegenwart und Anschauung – freilich auf die Gefahr hin, den ersteren dadurch auch wohl gründlich zu erkälten oder zu vernichten.

Auf solchen Congressen spielten dann zuweilen die zur allgemeinen Mittheilung mitgebrachten Briefschaften und Tagebücher von nicht erschienenen gefeierten Größen der Gemeinde eine wichtige Rolle. Einer der unermüdlichsten Träger solcher Schätze war jener Leuchsenring, den Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ so ergötzlich schilderte, immer „mehrere Schatullen bei sich führend welche den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten.“ Ein solcher Congreß fand am 12. Mai 1771 statt, und ist Gegenstand unseres Bildes.

Vor allen war nämlich Sophie Laroche die heißverehrte Gottheit vieler jener weichgeschaffenen Seelen. Die Tochter des Arztes Gutermann, zwei Jahre vor ihrem Vetter Wieland zu Kaufbeuren geboren, wurde sie mit diesem in ihrem neunzehnten Jahre im Hause ihrer Großeltern zu Biberach bekannt, und in dem damals einer frommen religiösen Schwärmerei hingegebenen Jüngling entzündete ihre Schönheit, Anmuth, Seelenhaftigkeit eine tiefe und zärtliche und, merkwürdig genug, sich in einem hochgestimmten geistigen Verkehr mit der Angebeteten zunächst freiwillig, später gezwungen, befriedigende Liebe. Gezwungen, – denn die Treue, welche der Jüngling ihr in seinen endlosen überschwenglichen Episteln immer von neuem zuschwor, schien nicht ganz nach dem Geschmack der jungen Dame zu sein. Bereits 1753 im December empfing er die Anzeige ihrer erfolgten Verlobung mit dem Herrn von Laroche, dem vertrauten Secretär des Grafen Stadion, von letzterem erzogen und unter anderem auch dazu herangebildet, seines Herrn vielseitige Liebescorrespondenz an dessen Statt zu führen, wie Goethe ausführlich und amüsant erzählt. Daß die Nachricht den jugendlichen Verehrer erschütternd treffen mußte, war natürlich. Schmerzlich erinnert er die Ungetreue daran, „daß wir uns tausend Mal im Angesicht Gottes zugesagt haben, uns so lange zu lieben, als wir die Tugend lieben würden, und wir meinten damals, das sei soviel als ewig“. Aber er findet auch schnell genug den Trost, daß es unmöglich sei, daß „diese Verbindung die zärtliche Zuneigung unseres Seelen, die sich auf die wahre Liebe des Guten und Schönen gründet, hinwegnehme.“

So erträgt er denn auch die Nachricht ihrer Vermählung mit getröstetem, wenn auch wehmüthig gefärbtem Anstand. Die ideale geistige Ehe zwischen ihm und der „werthen Abtrünnigen“ kann durch dies irdische Band, das sie an den Andern fesselt, nicht gelöst werden, konnte es selbst nicht durch alle tiefgreifenden Wandelungen seines Innern, seiner Weltanschauung und Denkweise, welche den seraphischen Sänger und den frommen Verächter der Sinnlichkeit, der Grazie, der „heiteren Sünden“ des Griechenthums und seiner Poeten zum weltklugen ironischen Skeptiker, zum Dichter der Grazien, zum Schüler der Griechen, zum beredten Propheten der reizenden und verführerischen Sinnlichkeit – wenigstens in der Theorie, umformten; konnte selbst nicht durch die spätere „hohe Liebe“ zu Julie Bondeli, noch durch seine eigene, zwar etwas äußerliche, aber nach eigener Versicherung durchaus glückliche Heirath mit einer „lieben kleinen Frau“ beeinträchtigt werden.

Während langer Jahre dauert der intimste briefliche Verkehr mit Sophie fort, in welchem die vollständigste Sammlung der Bekenntnisse des Menschen und Poeten Wieland niedergelegt ist, und wurde besonders lebhaft, als 1761 ein Aufenthalt in seiner Heimath Biberach ihn auf das Schloß Warthausen führte, wo die Geliebte mit ihrem Gatten in der Umgebung des Grafen Stadion ein den Jugendfreund vollständig berückendes, nach seinen Schilderungen ideales Dasein führte. „Warthausen ist der Mittelpunkt der Welt, die ich kenne, und ich würde es dem Aufenthalt in allen bezauberten Schlössern Ariost’s und Tasso’s vorziehen.“

Acht Jahre später sind diese neu entfachten Flammen noch so wenig abgekühlt, daß er in demselben (wie die meisten dieser Correspondenz französisch geschriebenen) Briefe, in welchem er von seiner jungen mit ihm vier Jahre verheiratheten Frau sagt: „Sue fährt fort, das beste der Geschöpfe zu sein,“ die „Göttin“ unterrichtet, daß er ihrem Bilde einen Altar errichtet habe, zu dem er „oftmals treten würde, seine Seele an dem Anblick zu nähren, der ihm der theuerste sei;“ „die besten Gefühle meines Herzens und manchmal eine meiner und Ihrer würdige Thräne werden das Opfer sein, das ich darauf bringe.“

In demselben Jahr tritt die so glühend Verehrte als Schriftstellerin auf und entzückt mit ihrem Roman, dem ‚Fräulein von Sternheim’, alle Seelen der empfindsamen Gemeinde. Größer aber und wirksamer, als der Zauber ihrer für uns etwas zweifelhaften dichterischen Kunst und Kraft, muß jedenfalls der ihrer Persönlichkeit gewesen sein; darin widersprechen sich die zahlreichen Zeugnisse der Mitlebenden keineswegs. Das glänzendste darunter

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_347.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)