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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Die „Gehturniere“ und der „Autoren-Carneval“ in San Francisco.
Von Theodor Kirchhoff.
II. (Schluß.)


Im Jahre 1863 fand der erste „Autoren-Carneval“, das heißt eine Darstellung durch lebende Bilder und Declamationen aus den Werken berühmter Schriftsteller verschiedener Nationen, in Boston statt, welche Stadt auf den Namen eines westlichen Athens mit Recht Anspruch machen kann und von jeher eine Pflanzstätte der feineren Cultur in Amerika gewesen ist. Später wurden ähnliche Aufführungen in Philadelphia, St. Louis, Buffalo und zuletzt in Chicago mit großem Erfolge abgehalten, und endlich kam ein speculativer Kopf auf den Gedanken, daß San Francisco der rechte Platz sei, um einen „Autoren-Carneval“ im großartigen Stile zu veranstalten. Die kosmopolitische Bevölkerung dieser Stadt bildet ein trefflich zu verwerthendes Material, falls das Unternehmen hier von den richtigen Kräften in’s Werk gesetzt werden könnte.

Es gelang, sechs wohlthätige Gesellschaften in dieser Stadt für das Unternehmen zu interessiren. Ein Comité, bestehend aus hervorragenden Männern und Frauen und unter der Oberleitung eines in solchen Dingen geschulten Theaterintendanten, nahm die Sache praktisch in die Hand; nicht weniger als zwölfhundert Männer, Jünglinge, Frauen und Jungfrauen aus den tonangebenden Kreisen der Stadt erboten sich, als thätige Theilnehmer Rollen zu übernehmen, alle Kosten für die Costüme selbst zu tragen und für den Erfolg nach besten Kräften zu wirken. Wenn ich sage, daß hunderttausend Dollar für Costüme von Privatleuten ausgegeben wurden, so wird der Leser zugeben müssen, daß der Enthusiasmus unter den activen Theilnehmern des Carnevals fast ein beispielloser gewesen ist.

Die Werke von sechszehn Dichtern verschiedener Nationen sollten durch lebende Bilder illustrirt und einzelne Scenen daraus dramatisch aufgeführt werden. Hervorragende Schauspieler übernahmen es, die Rollen einstudiren zu lassen und die lebenden Bilder künstlerisch zu gestalten, und es wurde weder Geld noch Mühe gespart, um dem Unternehmen einen durchschlagenden Erfolg zu sichern. Die Franzosen, Italiener, Spanier, Engländer, Amerikaner und Deutschen stürzten sich mit einem wahren Enthusiasmus in das neue Unternehmen, um Scenen aus den Lieblingsdichtern ihrer Nationen zur möglichst vollkommenen Geltung zu bringen. Zahlreiche Proben wurden abgehalten, prachtvolle Costüme angefertigt und umfassende Vorbereitungen für das schnelle Aufschlagen der Bühnen und der Bazare getroffen, da der „Autoren-Carneval“ schon zwei Tage nach dem Schlusse des Laufturniers beginnen sollte.

Als der siegreiche Schimmel „Pinafore“, von jubelnden Volkscohorten begleitet, erst kaum den Pavillion verlassen hatte und sich die zu Tode ermüdeten Fußgänger wie die Nachzügler eines geschlagenen Heeres mühselig daraus entfernten, rückten hundertfünfzig Arbeiter in das Riesengebäude ein, um dasselbe in zweimal vierundzwanzig Stunden aus einem Pferdestalle und einer Arena niedriger Schaustellungen in einen farbenbunten, glänzenden Musentempel umzugestalten. Eine radicalere Umwandlung in so kurzer Zeit, wie sie hier stattfand, läßt sich kaum denken, aber in San Francisco, wo das gewaltige „Palace-Hôtel“ in einem Jahre erbaut wurde, ist das Wort: „langsam“ überhaupt aus dem Wörterbuche verschwunden.

Schon die mächtige, oben von einer breite Gallerie umkränzte Halle, mit dem Gewimmel der zu vielen Tausenden sich darin drängende Menge, dem Lichterglanz, Fahnen- und Blumenschmuck bietet einen überaus fesselnden Anblick dar. Zu beiden Seiten des riesigen Raumes aber reiht sich eine lange Linie von Bühnen an einander, auf denen sich bald hier, bald dort der Vorhang öffnet, um das Auge mit Schaustellungen von oft blendendem Effect zu überraschen.

Hier erschließt sich der Bazar, in welchem sich die Märchen aus „Tausend und eine Nacht“ in so verschwenderischer Pracht präsentiren, als wäre die schöne Scheherazade in eigener Person wieder erschienen, um dem Kalifen inmitten seines Harems ihre Erzählungen vorzutragen. Der Glanz der im reichsten orientalischen Stil costümirten Schönheiten aus der californischen Wunderstadt würde sicherlich auch in Bagdad Furore gemacht haben.

Auf der nächsten Bühne werden Episoden aus den Werken der deutschen Dichterfürsten Schiller und Goethe in wunderbar schönen Tableaux dargestellt. Diese Bilder waren ohne Frage das Vollendetste, was auf dem „Autoren-Carneval“ geboten wurde.

Die mannigfaltigen Scenen aus „Faust“, „Don Carlos“, „Hermann und Dorothea“, „Die Glocke“, „Götz“, „Wilhelm Tell“ etc. waren herrlich, die Darstellungen vom „Haideröschen“, „Lotte und die Kinder“ classisch schön, und alle kamen unter der trefflichen Leitung des Regisseurs der hiesigen deutschen Bühne zu einer so hervorragenden Geltung, daß sich ein wählerisches deutsches Publicum in der alten Heimath gewiß nicht minder daran gefreut haben würde, als das hier versammelte kosmopolitische Publicum der californischen Metropole.

Neben der Schiller- und Goethe-Bühne liegt die sogenannte ägyptische, auf der sich die Darsteller, sechszig an der Zahl, meistens in Massenscenen präsentiren. Die Pracht der Aegypter übertrifft noch den Pomp von „Tausend und eine Nacht“. Wenn ich beiläufig bemerke, daß die durchgängig aus Seide und Sammet verfertigten und mit Goldstickereien und (allerdings meistens unechten) Perlen förmlich überladenen Costüme der vierzig Damen dieses Bazars 12,000 Dollar gekostet haben und daß z. B. die Sphinx mit Diamanten vom Nipptische einer Bonanzaprinzessin geschmückt war, die einen Werth von 50,000 Dollar repräsentiren, so wird man sich einen Begriff von dem dort entfalteten Aufwand machen können. Unter den prächtigsten Bildern auf dieser Bühne sind „Esther vor dem Könige“, „Antonius und Kleopatra“ und „Die Auffindung des Moses“ rühmlich hervorzuheben, welche letztere Persönlichkeit zum Gaudium des Publicums durch ein veritables schreiendes „Baby“ personificirt wurde.

Weiterhin steht ein Tempel der Flora, in welchem die schönsten Mädchen der Stadt – und kein Ort der Welt vermag sich schönerer Frauengestalten und lieblicherer Mädchengesichter zu rühmen, als San Francisco – in classischen griechischen Gewändern die Blumenpracht des Goldlandes für schnöden Mammon austauschen und manchen respectablen Obolus aus den Taschen eines bewundernden Publicums locken.

Auf den nächsten Bühnen werden die Werke von Walter Scott und Tennyson bildlich dargestellt. Die holländischen und schottischen Helden des zuerst genannten Dichters sind nicht minder charakteristisch, als der „Traum von den schönen Frauen“ Tennyson’s, wobei die herrlichsten Frauengestalten allmählich aus dem Dunkel in den vollen Glanz hervortreten und langsam wieder verschwinden. Weiterhin präsentirt sich Longfellow mit seiner rührenden Idylle „Evangeline“ und den Indianern aus „Hiawatha“. Indianische Häuptlinge stolziren im vollen Kriegerschmuck dort auf und ab, und es ist eine Freude, sie anzuschauen; Sitting Bull oder die „Rothe Wolke“ hätten sicherlich nichts an ihnen auszusetzen. Einen seltsamen Contrast mit den romantischen rothen Kriegern und ihren Squaws und einem unverfälschten Indianer-Wigwam bildet der Salon der Madame Recamier mit dem Ensemble der französischen feinen Welt, welche sich um jenen Schöngeist zu sammeln pflegte. Die Repräsentanten der Madame de Staël, Madame Marat, der Herzogin von Broglie, von Chateaubriand etc. treten hier im getreuen Costüm ihrer Zeit auf.

Auf der gegenüberliegenden Längenseite der großen Halle befindet sich zunächst die Bühne, auf der die Werke von Charles Dickens durch Tableaux und humoristische Declamationen von nicht weniger als 120 Darstellern verherrlicht werden. Nikolaus Nickleby, David Copperfield und andere lebensgleiche Gestalten des berühmten Briten treten dort abwechselnd auf, und die Pickwickier erfreuen uns durch ihren unverwüstlichen Humor. Nebenan liegt die Cervantes-Bühne, auf welcher Don Quixote, der edle Ritter von der traurigen Gestalt, und Sancho Pansa ihre wunderbaren Abenteuer bestehen und wo mitunter ein Fandango von echten Spanierinnen aufgeführt wird. Minder schön und ganz unpassend für ihre Umgebung sind die in der Mitte dieser Bühnenreihe aufgebauten Korallenriffe, Muschelbänke und nie gesehenen Seepflanzen aus Jules Verne’s Zauberstück „Auf dem Meeresgrund“, die aus New-York importirt wurden. Die zwischen dem Seetang hinter einem blauen Gazevorhang beim Orgelspiel herumschwimmenden Nixen würden schwerlich einen Fischer in den „wohlig kühlen Wellengrund“ gelockt haben.

Zu den besten Darstellungen auf dem Carneval gehören die von Bret Harte. Hier ist das urwüchsige Leben in den wilden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_619.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)