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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

waren, hielt noch immer die Gemüther in Erregung und Spannung, und unter den Sieben waren bei den Studenten am populärsten die Gebrüder Wilhelm und Jacob Grimm, welche erst acht Jahre vorher von Kassel herüber gekommen waren und in der kurzen Zeit alle Herzen erobert hatten, Jacob durch seine tiefe und ausgebreitete Gelehrsamkeit, welche das gesammte germanistische Wissen umfaßte, Wilhelm durch seine milde und liebenswürdige Persönlichkeit. Selbst solche Studenten, welche, wie das in dem damaligen Göttingen fast die Regel war, sich sonst strenge auf ihr Fachstudium beschränkten, pflegten doch wenigstens bei Jacob Grimm ein germanistisches Collegium zu hören, und der Abgang der beliebten und berühmten Gebrüder hatte der Hochschule sehr an Frequenz und Ansehen geschadet. König Ernst August freilich wußte sich darüber zu trösten mit der leichtfertigen Phrase: „Professoren und Courtisanen sind immer wieder zu haben.“

Alle jene Erinnerungen werden in mir lebhaft wieder wachgerufen durch den vor einigen Wochen erschienenen, von dem verdienten Gelehrten Dr. Camillus Wendeler herausgegebenen „Briefwechsel des Freiherrn Carl Hartwig Gregor von Meusebach mit Jacob und Wilhelm Grimm“ (Heilbronn, Gebr. Henniger, 1880), welcher uns namentlich über die Berufung der Grimm nach Göttingen (1829), über deren Vertreibung von da (1937) und über deren Wiederanstellung durch König Friedrich Wilhelm den Vierten (1840) neue durch Correspondenzen und Actenstücke unterstützte Auskunft giebt. Das Buch Wendeler’s wird seiner Natur nach nicht weit über die Kreise der Gelehrten hinausdringen. Dagegen darf ich wohl mit Grund annehmen, daß das gesammte deutsche Volk sich sowohl für seine Lieblinge, für das durch Wissenschaft und politische Ueberzeugungstreue so leuchtend hervorragende Brüder-Paar, für deren persönliche Schicksale interessirt und daher einer Darstellung mit Aufmerksamkeit folgen wird, welche den Zweck hat, aus den Meusebach’schen Papieren das Allgemein-Interessante zusammenzustellen und durch eigene Erinnerungen zu ergänzen.

Vorausschicken will ich nur einige Notizen über die Persönlichkeit des Herrn von Meusebach.

Derselbe war in den ersten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Nassauischen geboren und befand sich am Anfang des neunzehnten in Diensten des Fürsten von Oranien-Nassau und dann des von Napoleon aufgerichteten Großherzogthums Berg, welches der Cavallerie-General Murat unter dem Namen Joachim der Erste zum Geschenk erhielt. Als es im Jahre 1813 mit dem französischen Großherzogthum Berg zu Ende ging und die der Fremdherrschaft wieder entrissenen Länder im Namen der hohen Alliirten von dem Generalgouverneur Justus von Gruner verwaltet wurden, übertrug man Meusebach die Leitung der Justizverwaltung in Trier und ernannte ihn später zum Vorsitzenden des Revisionshofes in Coblenz. So ist er in preußische Dienste gekommen, in welchen er, da er sich während der Fremdherrschaft eine gründliche Kenntniß des französischen Rechtes angeeignet hatte, vorzugsweise auf dem Gebiete des rheinischen Rechtes verwendet und schließlich als Geheimer Ober-Revisionsrath Mitglied des später, im Jahre 1853, mit dem Obertribunal verschmolzenen rheinischen Revisions- und Cassations-Hofes in Berlin ward. Die letzten Tage seines Lebens brachte Meusebach auf seinem schönen Landsitze bei Berlin zu, von wo er seine Briefe datirt: „Zwischen Potsdam und Baumgartenbrück, wo der Thurm auf dem Hause steht“. Da ist er denn auch am 22. August 1847 an Gehirnerweichung im siebenundsechszigsten Jahre seines Lebens gestorben, mit Hinterlassung einer sehr reichen und werthvollen Sammlung von Büchern und Manuscripten, welche die königliche Bibliothek in Berlin von seinen Erben erworben hat.

Der officielle Meusebach war französischer, oder wie man später sagte, „rheinischer“ Jurist, der nicht officielle, der Privat-Meusebach, war deutscher Romantiker und literarischer Forscher, als welcher er vorzugsweise den höchst eigenthümlichen Schriften des etwas grotesken Humoristen Fischart, des deutschen Rabelais, seine Aufmerksamkeit zuwandte. Vielleicht war er mehr Sammler als Forscher. Aber jedenfalls hat er Verdienste um die germanistische Wissenschaft, und sein Briefwechsel bietet uns einen ebenso klaren wie charakteristischen Einblick in die Werkstätte dieser damals noch jungen Wissenschaft; seine Briefe zeigen uns, wie dieselbe aus kleinen Anfängen zu einem mächtigen Baume emporwuchs.

Mit den Gebrüdern Grimm ist Meusebach wahrscheinlich durch den großen Juristen von Savigny bekannt geworden, der damals Professor in Marburg war, von welcher kleinen Universität so viele große Geister ausgegangen. Meusebach besuchte die Grimm’s 1819 in Kassel. Seitdem entspinnt sich die Correspondenz, welche von da ab über ein Vierteljahrhundert, allerdings mit zeitweiligen Unterbrechungen, mehr oder weniger lebhaft fortgedauert hat. Der letzte Brief von Wilhelm Grimm datirt von einem Jahre vor Meusebachs Tod. Meusebach ist aus anderem Holze geschnitten als die beiden großen Gelehrten. Ein knorriger, seltsamer und schwer zu behandelnder Charakter, cultivirt er mehr seine „Eigenheiten“ als seine „Eigenschaften“, im Gegensatze zu dem Rathschlage Goethe’s, welcher lautet:

„Cultivirt eure Eigenschaften!
Eigenheiten werden von selber haften.“

Bei ihm ist Alles mehr Liebhaberei als Studium. Deshalb kommt er in der Regel zu keinem Abschluß, sondern bleibt im Sammeln kleben. Dabei steckt er voll bureaukratischer Marotten und koboldartiger Tücken. Es macht ihm ein „spitzbübisches“ Vergnügen, den guten Lachmann und andere Gelehrte zu mystificiren und mit allerlei Schabernack in die Irre zu führen. Bekanntlich hat jeder Mensch das Bedürfniß, zur Zeit aus seiner Haut zu fahren, oder wenigstens sich ein Steckenpferd zu halten, welches mit seinem officiellen Paraderoß wenigst möglich Verwandtschaft hat. Friedrich der Große blies die Flöte, und der preußische Finanzminister Bitter schreibt musikalische Bücher. Meusebach hatte seinen Fischart.

Wie Meusebach in großherzoglich Bergischen so war auch Jacob Grimm vormals in Königlich Westfälischen Diensten. Er war Privatbibliothekar des Königs Jérome und genoß, da der Faschings-König von literarischen Bedürfnissen ziemlich frei war, hinreichende Muße für seine Studien. Nach der Rückkehr des alten Kurfürsten, welcher die Zöpfe wieder herstellte, die Generale zu Fähnrichs zurückavanciren und sich von seiner Schildwache auf der Löwenburg 1814 rapportiren ließ, es sei seit der letzten Ronde von 1809 „Nichts Neues vorgefallen“, wurde das anders. Grimm mußte – sehr gegen seinen Geschmack, der ihn an seine Bücher fesselte – kurfürstlicher Legationssecretär im Hauptquartier der Verbündeten werden, und später wurde er zwar wieder Bibliothekar in Kassel, aber nur Unterbibliothekar, während Wilhelm Grimm nur Bibliotheksecretär war. Im Jahre 1829 schreibt Jacob Grimm an Meusebach:

„Hier in Kassel habe ich es nach dreiundzwanzig Dienstjahren bis auf sechshundert Thaler und mein Bruder Wilhelm hat es bis auf die Dreihundert gebracht. Letztes Frühjahr bekam Jeder von uns hundert Thaler Zulage, allein gleichzeitig bezeichnet man diesen Gehalt als den äußersten Punkt, über welchen hinaus wir es hier zu Lande niemals bringen würden, und darin liegt etwas Hartes; denn wir brauchen jährlich zwei- bis dreihundert Thaler mehr, und wir müssen diese sonst woher schaffen, entweder durch andern Erwerb oder durch Aufopfern der Ueberreste unseres Vermögens.“

Dies war die Lage zweier großer Gelehrten, welche die Vierzig schon seit einigen Jahren hinter sich hatten.

Gleichwohl hätten sie in ihrem bescheidenen Sinne nicht daran gedacht, ihre Lage zu verbessern, wenn nicht persönliche Kränkungen hinzugekommen wären, worüber wir aus dem Briefe von Jacob Grimm an C. von Meusebach, datirt Kassel den 15. November 1829, Folgendes vernehmen:

Oberbibliothekar, also Vorgesetzter der Gebrüder Grimm, war bis 1829 Herr Völkel. Dieser interessirte sich mehr für Antiken und Münzen und widmete sich ganz dem Museum, indem er die Bibliothek den Gebrüdern Grimm zur selbstständigen Verwaltung überließ. Nach dem Tode Völkel’s glaubte Jacob Grimm einen Anspruch darauf zu haben, daß man ihm die Stelle eines Oberbibliothekars, welche er schon seit zehn Jahren hinsichtlich der Pflichten ausgefüllt hatte, auch hinsichtlich des Titels, der Rechte und der Besoldung übertrage. Allein man überging ihn und machte den Professor Rommel zum Oberbibliothekar, obwohl dieser schon Archivdirector war. Es ist wahrhaft rührend, die Klagen Jacob Grimm’s über diese Mißhandlung zu hören, welche ihn zwang, sein geliebtes Kassel zu verlassen.

„Ein ehemaliger Professor aus Marburg,“ schreibt er, „der sich hierher als kurfürstlicher Historiograph hat versetzen lassen, weil er dort als Professor keinen Beifall fand, und der später auch Archivdirector geworden, obwohl er bis zur Stunde noch keine Urkunde ordentlich lesen kann – ein reichlich besoldeter wohlhabender

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_010.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)