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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

individuellen Besitz, der je nach der Persönlichkeit seines Inhabers wechselt, aber immerdar das Mittel darstellt, durch welches der Redner, der Künstler, der Dichter auf uns wirkt. Kein Philosoph vermag das Interessante zu definiren, wie er etwa das Gute, das Schöne, das Wahre begrifflich genau zu umschreiben vermag; interessant ist an dem Einen, was an dem Andern abstoßend sein kann; interessant findet man in dieser Stimmung, wovon man in einer andern sich vielleicht abkehrt. Das ist der Charakter unserer Zeit, rasch mit den Sympathien und Antipathien zu wechseln, von gestern auf heute die Maßstäbe zu vertauschen, Liebe und Haß nicht als ein Gegeneinander zu empfinden, sondern als ein Nacheinander, Geschmack zu entwickeln an Contrasten, die ästhetisch sozusagen einander anschreien. Wer dieser wechselnden Hast der Zeit sich anzupassen versteht, wer sie in sich selbst als einen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit besitzt, der ist der Künstler, der Dichter, der Staatsmann dieser Zeit.

Man hat unsere Literaturepoche diejenige der allgemeinen Bildung genannt; als solche würde sie kaum einen einzigen Vertreter besitzen, der sie getreuer widerspiegelt, als Adolf Wilbrandt. Denn Wilbrandt hat unglaublich viel gelernt und gearbeitet, auf den mannigfachsten Gebieten und zu den verschiedensten Zwecken. Er übersetzt antike Tragödien, liefert eine Monographie über Heinrich von Kleist, welche fast abschließend die Literatur dieses unglücklichen Genies bereichert, macht Hölderlin zum Gegenstande einer geistvollen Studie und veranstaltet eine Ausgabe der Werke Fritz Reuter’s, der zwar sein Landsmann war, aber sich von ihm unterschied, wie etwa der „Entspecter“ Bräsig von einem modernen Schöngeist.

Doch das ist es nicht allein; man kann als Polyhistor der alleruninteressanteste Mensch von der Welt sein. Es klebt an dem vielen Wissen nicht selten dicker Bücherstaub und unleidliche Pedanterie. Erst wenn der Polyhistor sich modisch kleidet und benimmt, wenn sein Wissen von dem Hauche der Anmuth und Schönheit durchweht, mit Geschmack und Gewandtheit geordnet ist, dann ergiebt sich die interessante Persönlichkeit. Bei Wilbrandt ist dies der Fall. Man sieht es diesem bleichen Manne mit dem halbmüden, halb wehmütigen Lächeln an, daß er Vieles weiß und Alles wissen möchte, aber er spreizt sich nicht mit seinem Wissen und Können; er drängt es nicht auf, sondern schrickt im Gegentheil zusammen, wenn banaler Vorwitz sich anschickt, ihm seine Weisheit abzufragen. In seiner Erscheinung ist eine seltsame Keuschheit, etwas Gedämpftes und Verhaltenes, das seine Dichtungen am allerwenigsten charakterisirt; über seiner Persönlichkeit liegt bisweilen eine Stille und Verschämtheit, wie über derjenigen eines Mädchens, welches noch niemals einen Mann geküßt.

Das ist der merkwürdige Contrast in dem Wesen Wilbrandt’s, der das Geheimniß der interessanten Wirkung in sich birgt, zumal der Lebensgang des Dichters zweifellos geeignet war, diesen Contrast zu verwischen. Als Journalist pflegt man sich eine gewisse Sicherheit des Auftretens, ja eine unverhohlene Selbstgefälligkeit anzueignen: man muß rasch mit seinem Urtheil über Menschen und Ereignisse fertig sein, muß den Muth haben, den Anderen zu sagen, was sie nachsprechen und nachfühlen sollen, muß streiten und polemisiren, kämpfen und widerlegen, angreifen und abwehren. Und Wilbrandt war ein Journalist, noch dazu in einer bewegten Zeit; er hat in der „Süddeutschen Zeitung“ für den Anschluß Schleswig-Holsteins an Deutschland vortreffliche publicistische Arbeit gethan. Dann hat er mit der Bühne Fühlung gesucht, das Leben hinter den Coulissen studirt, von den Brettern herab sich seine Gattin geholt, und der Verkehr mit der Bühne ist bekanntlich ebenfalls nicht geeignet, das Wesen in keuscher Schüchternheit und Befangenheit zu erhalten, die angeborene Bescheidenheit zu conserviren und dem Geiste eine vornehme Zurückhaltung aufzuprägen.

Das Sonderbarste bei alledem aber ist, daß der Dichter Wilbrandt eine fast völlig andere Physiognomie zeigt, als der Mensch Wilbrandt. Da ist in den Novellen, den Romanen und den späteren Dramen kein Problem zu dreist, kein Conflict zu gewaltsam, kein Verhältniß zu fragwürdig, daß der Dichter damit nicht operirte. Eine schreiende Sinnlichkeit tritt unverhüllt zu Tage, eine wahre Wollust, sich an den äußersten Grenzen des ästhetisch Statthaften zu bewegen, drängt sich hervor, und der Kritiker, der den Dichter auch aus dem Leben kennt, steht rathlos diesem klaffenden Widerspruche gegenüber, weiß zwischen dem Sein und Schaffen keine Vermittelung zu finden, es sei denn diese, daß Wilbrandt augenscheinlich über seinen Problemen grübelt wie ein Einsiedler, zu dem die Stimmen der Welt nicht dringen, wie ein Philosoph, der abseits gekehrt seinen Gedanken nachirrt und dennoch den Nerv des Publicums in lebhafte Schwingung zu versetzen weiß.

Ist dies nicht der wahre Typus des interessanten Poeten, ja ist es nicht der echte Dichter unserer Zeit, welche, just wie er, ernsthaft und rastlos, aber auch unstet und unberechenbar zu sein scheint? Was haben wir nicht Alles in den letzten zwanzig Jahren angefaßt und wieder bei Seite geschoben, glorificirt und dann in den Winkel gestellt! Von Arthur Schopenhauer ging’s zu Charles Darwin; das Mittelalter stritt um unser Interesse mit dem ägyptischen, dem römischen Alterthum; die Novelle, welche einen kurzen Athem hat, concurrirte mit dem Drama, das sich mit einem flüchtigen Eindrucke nicht begnügt. Und man frage Adolf Wilbrandt, ob es ihn nicht gedrängt, alledem einen poetischen Ausdruck zu verleihen.

Der Darwinismus bot ihm novellistische Probleme; man lese „Fridolin’s heimliche Ehe“; das Mittelalter gestaltete er dramatisch im „Graf von Hammerstein“, das römische Alterthum in „Gracchus, der Volkstribun“, in „Arria und Messalina“. Dabei ließen ihm auch andere Impulse der Zeit keine Ruhe. „Durch die Zeitung“ heißt eines seiner Lustspiele, und Giordano Bruno, der Philosoph, ist einer seiner Stoffe. So sensitiv ist dieser Dichter, daß es mitunter scheint, als gäbe es keinen festen Punkt, keine Axe in seinem Wesen, sondern immer blos Peripherie. Aber das gerade ist das Moderne an ihm, daß er von den allgemein menschlichen Vorwürfen seiner ersten dramatischen Production, von dem reizenden Einacter „Jugendliebe“, von den beiden vortrefflichen Lustspielen „Die Vermählten“ und „Die Maler“ resolut abschwenkt, weil er zeitig erkennt, daß die Gegenwart nicht lyrisch, nicht sentimental gestimmt ist, sondern gewaltsam packender Effecte bedarf, um in dem Interesse für die Dichtung festgehalten zu werden.

Dieses Verständniß für alle Regungen der Zeit ist an und für sich eine Bürgschaft für Wilbrandt’s Beruf zur Leitung des Wiener Burgtheaters. Aber mit einer einzigen Bürgschaft wäre es vielleicht nicht gethan; er bietet ihrer mehrere. Schon bevor er sich Auguste Baudius zur Gattin wählte, lebte er fast ausschließlich mit dem Theater und für dasselbe; er schrieb seiner nachmaligen Gattin mehr als eine Rolle, wie es im Schauspieler-Jargon heißt, auf den Leib, und die große Ueberlegenheit seiner Bildung kam ihm dabei vortrefflich zu Statten. Er war nicht der rohe Handwerker, der ein Stück „zerschneidet“; die Feinheit seines Geistes übertrug sich auf den Dialog, auf die Oekonomie, auf die technische Construction seiner Stücke. Sie zeichnen sich allesammt nicht blos durch virtuose „Mache“ aus, sondern es schwebt über ihnen ein Hauch modernster Theaterempfindung; wovon das geistige Leben der Zeit nur irgend bewegt schien, das brachte er auf die Bühne. Jener äußere Zusammenhang mit dem Theater und diese Vielseitigkeit sind die weiteren Bürgschaften. Das Bühnenpersonal vermag zu seinem sittlichen und künstlerischen Ernste Vertrauen zu hegen, der Dichter, welcher für das Theater schafft, darf auf sein feines Verständniß zählen, das Publicum gewiß sein, daß er zumeist gerade das bringen wird, was in dem Mittelpunkte des allgemeinen Interesses steht.

Modern und interessant als Mensch wie als Dichter — interessant als Mensch, wie es in anderer Art Franz Dingelstedt gewesen; modern als Dichter, wie es Heinrich Laube war: ist auf diese Weise durch Wilbrandt’s Ernennung die Tradition nicht am besten fortgeführt, welche allezeit bestimmend gewesen für die Besetzung des Directorpostens im Wiener Burgtheater? Und könnte man beiläufig nicht auch in manchem Nebenumstande ein Zeichen erblicken, daß Wilbrandt der rechte Mann auf dem rechten Posten sein werde? Franz Dingelstedt war dem Theater gewonnen durch die Verbindung mit der Sängerin Jenny Lutzer, Friedrich Halm’s Egeria war die unvergeßliche Schauspielerin Julie Rettich. Auch Wilbrandt ist wohl eigentlich erst durch Auguste Baudius dem Theater erobert worden, welche in ihrer künstlerischen Blüthezeit weit über jegliche Routine hinausragte, und wegen der Durchgeistigung ihrer Rollen, wegen ihres entzückenden, zwischen Heiterkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_035.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)