Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
|
und Ihr sollt nicht am Schaden bleiben!“ sagte sie, steckte die Epistel durch das Laub des Hages und eilte davon, wie von einer Schlange gebissen, sich auf ihrem Stübchen verbergend.
Wilhelm schaute ihr nach wie Einer, der eine Erscheinung sah; dann nahm er den Brief sachte aus dem Weißdorn, machte einen Umweg, so groß ihn das kleine Grüngärtchen erlaubte, und schlüpfte dann in sein kleines Gemach, welches unmittelbar am Gärtchen lag. Dort las er hastig den Brief, einmal, zweimal, und rief, indem ihm das Herz übermächtig zu schlagen anfing: „O Herr Jesus! Das ist wahrhaftig ein Liebesbrief!“ Sogleich zerküßte er das Papier, dann stutzte er wieder, erinnerte sich jedoch des Blickes, welchen sie ihm zugeworfen, und hielt sich für geliebt. Er sah sich um in seinem Stübchen. Dichte Winden mit blauen und rothen Blumen verhüllten fast ganz die niederen Fenster, doch drang die Abendsonne hindurch und streute einige goldene Lichter an die Wand, über sein ärmliches Bett und seine drei oder vier Götterlehren und das Schreibzeug. Der erste Gedanke, der sein dankbares Gemüth durchblitzte, war der liebe Gott, und zwar der alleinige und christlich anständige. „Versteht sich!“ rief er auf- und niedergehend, den Brief in der Hand, wie eine Depesche, „versteht sich, giebt es
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/177&oldid=- (Version vom 31.7.2018)