Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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Munde! Sie hatten in ihrem beschränkten Sinne all die Herrlichkeit noch gar nie genauer beschaut und Zierrath schlechtweg für Zierrath genommen, der seinen Dienst zu thun habe, ohne daß ernsthafte Leute ihn eines schärferen Blickes würdigen. Nun sahen sie mit Entsetzen, welch' eine heidnische Gräuelwelt sie dicht unter ihren ehrbaren Augen hatten. Aber sie waren empört über die neugierige und ungezogene Art, mit welcher die Seldwyler den unbedeutenden Tand an's Licht zogen, anstatt gesetzt und würdig darüber wegzusehen und nur die Kostbarkeit der Stoffe zu bewundern. Die Herren lächelten sauer und mißvergnügt, wenn hier eine Leda und dort eine Europa entdeckt wurde; die Frauen aber errötheten und wurden blaß vor Zorn, und sie waren eben daran, entrüstet aufzubrechen, als der traurige Klang einer Glocke sie plötzlich beruhigte. Es war das Armensünderglöckchen von Ruechenstein; ein dumpfes Geräusch auf der Straße verkündete, daß der junge Dietegen jetzt zum Galgen hinausgeführt werde. Die ganze Tischgesellschaft erhob sich und eilte an die Fenster, wobei die Ruechensteiner ihren aufgeräumten Gästen mit hämischem Lächeln den Platz frei ließen.
Ein Pfaffe, ein Henker mit seinem Knecht, einige Gerichtspersonen und Schaarwächter zogen vorbei und an ihrer Spitze ging der gute Dietegen barfuß und
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/295&oldid=- (Version vom 31.7.2018)