Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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um keinen Preis den Anschein haben, als ob sie hinter irgend einer Sache zurückblieben, nicht Alles wüßten und nicht an der Spitze der Dinge ständen. Diese rüsteten sich mit schweren Waffen und setzten sich auf die äußersten Zweige des Baumes hinaus, von wo sie einst mit großem Klirren herabfallen werden.
Der Pfarrer von Schwanau hatte sich zu dieser Schaar gesellt, weil auch ihm es nicht möglich war, im Widerspruche mit dem Geiste und der Bildung der Zeit zu leben, wie er sie verstand.
Er lehrte daher, es sei der Wissenschaft zuzugeben, daß ein persönlicher Lenker der Welt und hierüber eine Theologie nicht mehr bestehen könne. Aber da wo die Wissenschaft aufhöre, fange das Glauben und Ahnen des Unerklärten und Unbestimmten an, welches allein das Gemüth ausfüllen könne, und diese Ausfüllung sei eben die Religion, die nach wie vor verwaltet werden müsse, und die Verwaltung dieses Gebietes sei jetzt Theologie, Priester- und Kirchenthum. Das göttliche Wort sei demnach unsterblich und heilig und seine Verwaltung heilig und weihevoll. Nach wie vor stehe der Tabernakel aufgerichtet, um welchen Alle sich schaaren sollen, die nicht an trostloser Leere des Herzens zu Grunde gehen wollen. Ja, das geheimnißvolle Ausfüllsel des Tabernakels bedürfe mehr als je der weihenden und räuchernden
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/444&oldid=- (Version vom 31.7.2018)