Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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lein!" bis sie voll Zärtlichkeit und Scherz das Wort rasch, aber fast unhörbar hersagte: Lumpaci! worauf Jukundus sie küßte.
Wie sie nun so sich umfaßt hielten und eine Weile schwiegen, sagte Justine unversehens:
„Jukundus, was wollen wir nun mit der Religion oder mit der Kirche machen?"
„Nichts", antwortete er. Nach einigem Sinnen fuhr er fort:
„Wenn sich das Ewige und Unendliche immer so still hält und verbirgt, warum sollten wir uns nicht auch einmal eine Zeit ganz vergnügt und friedlich still halten können? Ich bin des aufdringlichen Wesens und der Plattheiten aller dieser Unberufenen müde, die auch nichts wissen und mich doch immer behirten wollen. Wenn die persönlichen Gestalten aus einer Religion hinweg gezogen sind, so verfallen ihre Tempel und der Rest ist Schweigen. Aber die gewonnene Stille und Ruhe ist nicht der Tod, sondern das Leben, das fortblüht und leuchtet, wie dieser Sonntagsmorgen, und guten Gewissens wandeln wir hindurch, der Dinge gewärtig, die kommen oder nicht kommen werden. Guten Gewissens und ungetheilt schreiten wir fort; nicht Kopf und Herz oder Wissen und Gemüth lassen wir uns durch den bekannten elenden Gemeinplatz auseinanderreißen; denn wir
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/531&oldid=- (Version vom 31.7.2018)