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verfaßte eine Rede in Versen, die sich von den üblichen wesentlich unterschied. Unterwegs stellte sich heraus, daß jemand einen Bi-ba-bo mithatte – damals das Modespiel der großen Kinder. (Ein Chinesenköpfchen aus Celluloid, dem man ein Puppenkleid überhängte. Man setzte den Kopf auf zwei Finger, steckte zwei Finger in die leeren Ärmel und konnte dann das Männchen gestikulieren lassen.) Den ließ ich mir geben und ließ ihn die Ansprache halten. Damit war unsere Pflicht erfüllt. Wir erreichten es wirklich, daß wir vor der Dunkelheit auf der Koppe waren – der Gipfel wurde auf dem steinigen und steilen Zickzackweg im Sturm genommen – und oben übernachten konnten. Wir hatten einen gemütlichen Abend mit einer netten Aufführung, Gesang und Tanz, und am nächsten Tag eine schöne Rückwanderung. Die ganze Schule erwartete mit Spannung unsern Bericht über den Verlauf des ungewöhnlichen Unternehmens und bewunderte unsere Kühnheit.

In Unter- und Oberprima hatten wir außer Latein auch Deutsch bei Professor Olbrich. Davon waren alle begeistert. Es war wirklich ein großer Reichtum, den er den empfänglichen, jungen Gemütern bot. In Schillers philosophischen Gedichten fand ich die mir genehme Weltanschauung. Unser reguläres Pensum schloß mit den Klassikern ab. Wir bekamen aber als großmütige Zugabe einen Überblick über die dramatische Dichtung des 19. Jahrhunderts. Grillparzer - Hebbel - Otto Ludwig: das waren ja meine vertrauten Freunde. Ich lauschte mit größter Spannung und konnte bei allem Respekt vor dem „großen O“ manchmal auch hier eine Zwischenbemerkung nicht unterdrücken. Einmal, als er über Hebbels „Rubin“ sprechen wollte und mit der Inhaltsangabe begann, rief ich erstaunt: Das ist ja der ‘Diamant’, nicht der ‘Rubin’!“ Tatsächlich war ihm diese kleine Verwechslung unterlaufen. Nach einer Darstellung der „Agnes Bernauer“ meldete ich mich zum Wort, um meine abweichende Auffassung vorzutragen. An diesem Vormittag trat Olbrich noch einmal in einer Pause an mich heran, um die Diskussion fortzusetzen. Das war etwas Außergewöhnliches. Er ließ sich sonst kaum auf Privatgespräche mit uns ein. Vielleicht war es nicht immer angenehm, eine so kritische Zuhörerin zu haben. Aber das ließ er mich nicht fühlen.

Die Aufsätze, für viele das größte Kreuz, waren immer noch meine Freude. Olbrich fing immer sofort an zu korrigieren, sobald er einen Stoß Hefte bekam. Im alten Schulhaus konnten wir ihn in der Pause von einem gegenüberliegenden Fenster aus beobachten. Wenn er unserer Berechnung nach fertig sein konnte, hielt sich eine von uns’ in der Nähe des Lehrerzimmers. Auf einmal öffnete sich die Tür ein wenig, und durch den Spalt kam eine Hand mit

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/123&oldid=- (Version vom 31.7.2018)