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Kreuz und Nacht (Nacht der Sinne)

sich mit weltlichen Dingen abzugeben. Am liebsten möchte die Seele ganz still verweilen, ohne sich zu rühren, alle Kräfte ruhen lassen. Aber das scheint ihr als Müßiggang und Zeitvergeudung. So etwa sieht es in der Seele aus, wenn Gott sie in die Dunkle Nacht einführen will. Nach gewöhnlichem christlichen Sprachgebrauch wird man einen solchen Zustand „ein Kreuz“ nennen. Es war auch früher schon die Rede davon, daß Kreuz und Nacht etwas miteinander zu tun haben. Aber mit der unbestimmten Feststellung einer gewissen Sinnesverwandtschaft ist uns nicht geholfen. Es wird an manchen Stellen in den Schriften des hl. Vaters Johannes mit solcher Entschiedenheit von der Bedeutung des Kreuzes gesprochen, daß dadurch unsere Auffassung seines Lebens und seiner Lehre als einer Kreuzeswissenschaft wohl gerechtfertigt wäre. Aber es sind verhältnismäßig wenige Stellen. Das beherrschende Symbol in seinen Gedichten wie in seinen Abhandlungen ist nicht das Kreuz, sondern die Nacht: in Aufstieg und Nacht steht es durchaus im Mittelpunkt, im Gesang und in der Liebesflamme (die vorwiegend den Zustand jenseits der Nacht behandeln) klingt es noch nach[1]. Darum ist es nötig, sich über das Verhältnis von Kreuz und Nacht genau Rechenschaft zu geben, wenn man sich über die Bedeutung des Kreuzes bei Johannes Aufschluß verschaffen will.


§ 1. KREUZ UND NACHT (NACHT DER SINNE)

1. Unterschied im Symbolcharakter: Wahrzeichen und kosmischer Ausdruck

Es ist zunächst zu fragen, ob Kreuz und Nacht in gleichem Sinne Symbol sind. Dieses Wort wird ja in vielfacher Bedeutung gebraucht. Es wird manchmal in einem sehr weiten Sinne genommen, sodaß man darunter alles Sinnenfällige versteht, wodurch etwas Geistiges bezeichnet wird, oder alles aus natürlicher Erfahrung Bekannte, wodurch auf etwas Unbekanntes, vielleicht sogar in natürlicher Erkenntnis Unerfahrbares hingewiesen wird. In diesem weiten Sinne können Kreuz wie Nacht Symbol genannt werden. Aber schon, wenn wir den Unterschied von Zeichen und Bild berücksichtigen, wird ein Gegensatz sichtbar. Das Bild – als Abbild verstanden – weist auf das Abgebildete durch eine innere Ähnlichkeit hin; wer


  1. Nicht minder bedeutsam ist das Brautsymbol, aber es kommt an dieser Stelle nicht in Frage. Bei der Behandlung des Geistlichen Gesanges wird es ausführlich zur Sprache kommen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/032&oldid=- (Version vom 3.8.2020)