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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

des Gewissens und der Seele und damit die beste Vorbereitung „für den Empfang der menschlichen und göttlichen Weisheit und der Tugenden“. Sie bleibt bewahrt vor vielen Einflüsterungen, Versuchungen und Beunruhigungen des bösen Feindes, dem jene Gedanken eine Handhabe boten. Sie wird empfänglich für die Anregungen und Einsprechungen des Heiligen Geistes[1].

Wie die natürlichen Sinneswahrnehmungen so hinterlassen auch die übernatürlichen Visionen, Offenbarungen, Ansprachen und Empfindungen einen oft sehr lebendigen Eindruck im Gedächtnis oder in der Phantasie. Auch für sie gilt der Grundsatz, daß die Seele nie über klare und bestimmte Dinge nachsinnen soll, um sie im Gedächtnis zu bewahren. „Je mehr sich die Seele auf bestimmte und klare Wahrnehmungen, .... natürlicher oder übernatürlicher Art, einläßt, desto weniger Empfänglichkeit und Fähigkeit beweist sie, um in den Abgrund des Glaubens einzudringen, der alles andere verschlingt. Denn .... keine jener Formen und Erkenntnisse .... ist Gott, noch haben sie ein Verhältnis zu Gott, sie können darum auch nicht nächstes Mittel zur Vereinigung mit Gott sein“. Von ihnen allen muß man das Gedächtnis freimachen, „um sich mit Gott in vollkommener mystischer Hoffnung vereinigen zu können. Jeder Besitz ist ja der Hoffnung entgegen. ... Je mehr darum das Gedächtnis in der Entsagung sich übt, desto mehr gewinnt es an Hoffnung, und je mehr die Hoffnung wächst, desto inniger vereinigt sich die Seele mit Gott. Hat sie sich ihm selbst vollkommen entäußert, dann ist auch der Besitz Gottes in der göttlichen Vereinigung vollkommen....“[2]

Die Beschäftigung mit übernatürlichen Erkenntnissen bringt der Seele fünffachen Nachteil: Sie täuscht sich erstens häufig in der Beurteilung, hält für göttliche Offenbarung, was bloßes Spiel der Phantasie ist, oder sieht göttliche Dinge für ein Blendwerk Satans an usw. Darum soll sich die Seele „jedes Urteils enthalten und selbst den Wunsch von sich weisen, das zu erkennen, was in ihr vorgeht .... So groß auch der Wert dieser Wahrnehmungen sein mag, sie vermögen doch nicht so viel zur Mehrung der Liebe beizutragen wie der geringste Akt lebendigen Glaubens und der Hoffnung, der sich in vollkommener Leere und Entäußerung von all dem vollzieht“[3].

Der zweite Nachteil ist die Gefahr, in Anmaßung und Eitelkeit zu fallen. Man meint, es müsse schon sehr weit mit einem sein, da man übernatürliche Mitteilungen empfange, und sieht mit Pharisäerhochmut


  1. a. a. O. B. III Kap. 5, E. Cr. I 287 f.
  2. a. a. O. B. III Kap. 6, E. Cr. I 289 f.
  3. a. a. O. B. III Kap. 7, E. Cr. I 291 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/074&oldid=- (Version vom 3.8.2020)