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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

fällt. Gott aber fällt unter keinen und kann darum mit keinem Geschöpf auf Erden, mit keinem Bild und keiner Erkenntnis, die für die Seelenkräfte faßbar sind, verglichen werden. „Wer darum das Gedächtnis und die übrigen Vermögen mit dem belasset, was sie fassen können, vermag Gott nicht so hoch zu achten und nicht so von Ihm zu denken, wie es sich geziemt“[1].

Diesen Nachteilen stehen im Fall der völligen Entäußerung wieder die entsprechenden Vorteile gegenüber. Zu der Ruhe und dem Frieden, die schon die Entblößung von natürlichen Wahrnehmungen bringt, kommt die Befreiung von der Sorge, ob die übernatürlichen Mitteilungen gut oder böse seien. Man „braucht auch keine Zeit und Mühe auf die Beratung mit Geistesmännern zu verwenden, um sich darüber Sicherheit zu verschaffen, .... da man auf nichts dergleichen mehr Wert legt. So kann die Zeit und Kraft der Seele .... auf eine viel bessere und heilsamere Übung verwendet werden, auf die Unterwerfung des Willens unter den göttlichen, auf das sorgfältige Streben nach Selbstentäußerung und geistige und leibliche Armut“, d.h. daß man sich wahrhaft bemüht, innerlich wie äußerlich ohne jede Stütze an Tröstungen und Wahrnehmungen auszukommen. Solche Abweisung göttlicher Mitteilungen bedeutet kein „Auslöschen des Geistes“. Die Seele ist aus eigener Kraft nur zu natürlicher Tätigkeit fähig. Zu übernatürlichen Werken kommt sie aus eigener Kraft nicht; dazu regt Gott allein sie an. Darum würde sie „durch ihr aktives Wirken nur das passive verhindern, das Gott durch Mitteilung des Geistes in ihr vollbringt. Die Seele würde in ihrem eigenen Wirken aufgehen, das ganz anderer Art und viel niedriger ist als das, was Gott ihr mitteilt; denn das [Wirken, das] von Gott kommt, ist passiv und übernatürlich, das der Seele aktiv und natürlich. Und dies hieße den Geist auslöschen“.

„Die Fähigkeiten der Seele können ihrer Natur nach nur dann nachsinnen und wirken, wenn sie sich einer Vorstellung, einer Gestalt oder eines Bildes bedienen, und das ist nur die Schale der äußeren Erscheinung (corteza y accidente), worunter das wirkliche Wesen und der Geist (sustancia y espiritu) verborgen sind. Dieses wirkliche Wesen und der Geist vereinigen sich mit den Kräften der Seele nur dann in wahrer Erkenntnis und Liebe, wenn die Kräfte ihre Tätigkeit einstellen. Denn der Zweck und das Ziel solcher Tätigkeit ist nur, dahin zu gelangen, daß die Seele das Wesen in sich aufnimmt, das sie unter diesen Formen erkennt und liebt. Zwischen aktiver und passiver Tätigkeit besteht darum derselbe Unterschied


  1. a. a. O. B. III Kap. 11, E. Cr. I 298 f.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/076&oldid=- (Version vom 3.8.2020)