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Entblößung des Gedächtnisses

.... wie zwischen dem, was man tun will, und dem, was man schon getan hat; wie zwischen dem, was man zu erlangen und zu besitzen wünscht und dem, was man schon erlangt hat und besitzt“. Bei den übernatürlichen Wahrnehmungen von den seelischen Vermögen aktiv Gebrauch machen, hieße darum „.... vom vollzogenen Werk ablassen, um es nochmals zu tun“. Die Seele muß ihre ganze Sorge darauf richten, „bei allen Wahrnehmungen, die ihr von oben kommen ...., nicht auf den Buchstaben und auf die Schale zu achten, d.h. auf das, was die bedeuten oder darstellen oder zu verstehen geben; sie darf nur die göttliche Liebe ins Auge fassen und bewahren, die sie innerlich in der Seele hervorrufen. Nur um des einzigen Zweckes willen darf man sich zuweilen an irgend ein Bild oder eine Wahrnehmung erinnern, die Liebe hervorrufen, um im Geist die Beweggründe zur Liebe wirksam werden zu lassen. Bringt dann auch die Erinnerung nicht dieselbe Wirkung hervor wie die erste Mitteilung, so wird doch jedesmal .... die Liebe aufs neue angeregt und das Gemüt zu Gott erhoben, besonders wenn es eine Erinnerung an übernatürliche Bilder, Gestalten oder Empfindungen ist, die gewöhnlich wie ein Siegel der Seele eingeprägt werden, so daß sie lange andauern und manchmal nie mehr aus der Seele schwinden“. Solche Erinnerungen „rufen fast jedesmal, sooft man ihrer gedenkt, göttliche Wirkungen der Liebe, der Süßigkeit, der Erleuchtung usw. hervor ...., denn dazu sind sie der Seele eingedrückt. Damit erweist Gott der Seele eine große Gnade, da diese Erinnerung für sie eine unerschöpfliche Quelle von Gütern ist“. Diese Bilder „sind ganz lebendig im Geistigen Gedächtnis der Seele und gleichen nicht den andern Bildern und Formen, die in der Phantasie bewahrt werden“. Die Seele bedarf darum nicht der Phantasie, um sich daran zu erinnern, sondern „sieht diese Gestalten in sich selbst, wie man ein Bild in einem Spiegel sieht“. Erinnert sie sich daran, um die Liebe zu erwecken, so sind sie kein Hindernis mehr „für die Liebesvereinigung im Glauben; sie darf sich aber nicht ganz vom Bild einnehmen lassen, sondern muß sich davon wieder abwenden, sobald sie zur Liebe angeregt ist....“ Diese formellen Bilder sind aber sehr selten und für den, der noch keine Erfahrung darin hat, schwer von denen zu unterscheiden, die nur in der Phantasie sind. „Welcher Art sie auch immer sein mögen, es bleibt für die Seele das Beste, wenn sie nur eines dadurch zu erkennen sucht: Gott durch den Glauben in der Hoffnung“[1].

Das Gedächtnis bewahrt nicht nur Bilder, sondern auch rein


  1. a. a. O. B. III Kap. 12, E. Cr. I 300 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/077&oldid=- (Version vom 3.8.2020)