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Wechselseitige Aufhellung von Geist und Glauben

weist den Verstand auf den Schöpfer hin, der alle Dinge ins Dasein gerufen hat und selbst unendlich größer, erhabener und liebenswürdiger ist als sie alle. Er unterrichtet ihn über die Eigenschaften Gottes und über alles, was Er für den Menschen getan hat und was der Mensch Ihm schuldig ist. Was bezeichnet in diesem Zusammenhang der Glaube? Augenscheinlich das, was uns zu glauben vorgestellt wird, den Inbegriff aller offenbarten, durch die Kirche verkündeten Wahrheiten: fides, quae creditur. Wenn der Verstand das annimmt, was ihm vorgestellt wird, ohne daß er es kraft eigener Einsicht erkennen könnte, dann tut er den ersten Schritt hinein in die dunkle Nacht des Glaubens. Dies ist aber nun die fides, quae creditur, ein lebendiges Tun des Geistes und eine entsprechende dauernde Haltung (habitus oder Tugend des Glaubens): die Überzeugung, daß Gott ist (credere Deum), und die überzeugte Annahme dessen, was Gott durch die Kirche lehrt (credere Deo)[1]. Mit diesem Glaubensleben erhebt sich der Geist über sein natürliches Tun, aber er löst sich doch noch keineswegs davon los. Die natürlichen Geisteskräfte erhalten vielmehr in der neuen Welt, die der Glaube ihnen erschließt, eine Fülle von neuem Stoff zur Betätigung. Diese Betätigung, in der sich der Geist den Glaubensinhalt innerlich zu eigen macht, ist die Betrachtung. Hier stellt sich die Einbildungkraft die Ereignisse der Heilsgeschichte bildhaft vor Augen, sucht sie mit allen Sinnen auszuschöpfen, erwägt mit dem Verstand ihre allgemeine Bedeutung und die Forderungen, die sie an die eigene Person stellen; dadurch wird dann der Wille zur Liebe und zu Entschlüssen für die Lebensgestaltung im Geist des Glaubens angeregt. Johannes kennt auch noch eine höhere Form der Betrachtung[2]: ein von Natur aus lebhafter und reich veranlagter Geist dringt mit dem Verstand tief in die Glaubenswahrheiten ein, durchdenkt sie im Zwiegespräch mit sich selbst nach allen Seiten, entwickelt sie in ihre gedanklichen Folgerungen und entdeckt ihre inneren Zusammenhänge. Noch lebendiger, leichter und fruchtbarer wird diese Tätigkeit, wenn der Heilige Geist den Menschengeist beflügelt und emporträgt. Er fühlt sich dann so sehr in der Hand einer höheren Macht und von ihr erleuchtet, daß es ihm scheint, als sei er gar nicht mehr selbst tätig, sondern empfange Belehrung durch göttliche Offenbarung.

Was der Geist auf diese oder jene Weise betrachtend erarbeitet hat,


  1. Ich folge hier zur Aufhellung der Mannigfaltigkeit, die in dem Wort Glauben befaßt ist, den Unterscheidungen, die der hl. Thomas in den Quaestiones disputatae de veritate bespricht (q 14 a 7 ad 7, Edith Steins Werke, Bd. IV).
  2. Vgl. Aufstieg, B. II Kap. 27, E. Cr. I 251 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/102&oldid=- (Version vom 3.8.2020)