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Tod und Auferstehung

mag dem oberflächlichen Blick scheinen, als sei ein solcher Mensch seinem Innersten besonders nahe, und doch ist vielleicht für keinen andern Typus der Weg dorthin so verbaut wie für diesen. (Etwas davon hat jeder Mensch in sich, solange er nicht die Dunkle Nacht bis ans Ende durchlitten hat.) Wir haben für alle diese Typen die Möglichkeiten der Ichbewegung, die Möglichkeiten der freien Entscheidung und die Möglichkeit, ins Innerste zu gelangen, zu untersuchen.

Wenn an den Sinnenmenschen, der einem Genuß hingegeben ist, die Möglichkeit herantritt, sich einen größeren Genuß zu verschaffen, so wird er vielleicht ohne weiteres, ohne Überlegung und Wahl vom Genuß zum Handeln übergehen. Es findet eine Bewegung statt, aber keine eigentliche freie Entscheidung; auch kein Durchbruch zu größerer Tiefe, wenn die Reize in derselben Ebene liegen. Es kann aber auch an den Sinnenmenschen etwas herantreten, was einem völlig andern Wertgebiet angehört – kein Typus ist ausschließlich auf ein Gebiet festgelegt, es hat nur jeweils eines das Übergewicht gegenüber den andern. Er kann z.B. aufgefordert werden, auf einen Genuß zu verzichten, um einem andern Menschen zu helfen. Hier wird die Lösung schwerlich ohne eine freie Entscheidung erfolgen. Jedenfalls wird der Sinnenmensch nicht wie selbstverständlich zu einem Verzicht kommen, sondern sich dazu aufraffen müssen. Lehnt er ab – nach einiger Erwägung oder mit einem unmittelbaren „Kommt-gar-nicht-in-Frage“ –, so liegt auch darin ein Willensentscheid. Als Grenzfall ist ein Verbleiben im Genuß ohne Ablehnen des Verzichts denkbar: dort, wo der Geist im Sinnenleben so erstickt ist, daß die Forderung ihn gar nicht mehr erreichen kann; die Worte werden gehört, vielleicht wird auch noch die unmittelbare Wortbedeutung verstanden, aber die tiefere Aufnahmestelle für den eigentlichen Sinn ist verschüttert. In diesem Grenzfall kommt nicht nur die einzelne freie Entscheidung nicht zustande, sondern es ist die Freiheit selbst zuvor schon preisgegeben. Bei der Ablehnung ist der Sinn wohl erfaßt, wenn auch wahrscheinlich nicht in seiner vollen Tragweite erwogen. In diesem Nicht-in-voller-Tragweite-Erwägen liegt die Oberflächlichkeit der Entscheidung und damit zugleich die Einschränkung der Freiheit. Man läßt gewisse Beweggründe nicht mit ihrem vollen Gewicht an sich herantreten und hütet sich selbst vor dem Zurückgehen in jene Tiefe, wo diese Beweggründe angreifen könnten. Damit gibt man sich aber einem einzelnen Bereich zur Bestimmung preis, man bekommt sich selbst, d.h. alle tieferen Schichten des eigenen Wesens, gar nicht in die Hand und beraubt sich zugleich der Möglichkeit, in Erwägung der wahren Sachlage,

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/146&oldid=- (Version vom 7.1.2019)