Vereinigung erreicht. Als Unterschied zur Vermählung bleibt nur, daß noch Störungen möglich sind, die verschwinden müssen, damit die Verbindung dauernd werden kann. Durch die Umordnung der Strophen in der zweiten Fassung ist die Grenze schärfer gezogen. Die Ausschließung alles Störenden wird vorausgestellt, die Darstellung der vollen Vereinigung folgt ihr, einsetzend mit dem Eingehen in den ersehnten Garten (Str. 22). Das ist ein sachlicher Vorteil der zweiter Fassung und wiegt den kleinen Schönheitsfehler auf, daß nach der wunderschönen 15. Strophe mit ihrem Zauber der Nacht in der 16. ganz unvermittelt der Hinweis auf die „Füchse im Weinberg“ folgt. Es ist sehr wohl verständlich, daß bei der ersten Niederschrift die Strophenfolge nicht sofort die sachlich angemessenste war. Die Strophen sind ja nicht alle auf einmal entstanden; auch was der Kerkerzeit entstammt, hat sich jedenfalls nach und nach angesammelt, den inneren Erfahrungen folgend. Es wurde früher erwähnt, daß verschiedene Zeugenaussagen darüber vorliegen, ob die Gedichte überhaupt im Kerker aufgezeichnet werden konnten oder erst nach der Flucht. Das erste ist wahrscheinlich, schließt aber nicht aus, daß der Gefangene seine Lieder längere Zeit in seinem Herzen bewahren mußte, ehe er Schreibzeug bekam. Er mag sich bald diese bald jene Strophe vorgesungen haben, wie es gerade seiner Stimmung entsprach. Und sobald es möglich war, hat er sie wohl zu Papier gebracht, ohne die beste Strophenfolge so sorgsam zu erwägen, wie es dann bei der letzten Bearbeitung geschah. Diese Überlegungen lassen es uns ratsam erscheinen, nun bei der eingehenderen Erwägung von Gedankengehalt und künstlerischer Form der Ordnung der zweiten Fassung zu folgen[1]. Dabei werden wir nicht aus dem Auge verlieren, was wir über die leitende Absicht der zweiten Bearbeitung festgestellt haben und ihr gegenüber die ursprüngliche Deutung der Strophen zur Geltung kommen lassen.
Der erste Überblick wollte nur dem Sinn des Ganzen auf die Spur kommen. Von der Fülle der Einzelzüge konnte er noch kaum eine Andeutung geben. Wenn man das versuchen will, muß man in die Bildersprache der Dichtung einzudringen suchen. Dafür ist das
- ↑ Darum geben im Folgenden die Ziffern an erster Stelle die Strophenordnung der zweiten Fassung an; in Klammern fügen wir die Nummerierung der ersten Fassung bei. (Bisher ist es umgekehrt geschehen.)
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/213&oldid=- (Version vom 6.1.2019)